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Ausgabe:

November/2019

Spalte:

1194–1197

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Seewald, Michael

Titel/Untertitel:

Dogma im Wandel. Wie Glaubenslehren sich entwickeln.

Verlag:

Freiburg i. Br.: Verlag Herder 2018. 334 S. Geb. EUR 25,00. ISBN 978-3-451-37917-8.

Rezensent:

Christian Danz

Der in Münster lehrende römisch-katholische Theologe Michael Seewald widmet sich in seinem Buch Dogma im Wandel. Wie Glaubenslehren sich entwickeln den theologischen Identitätskonstruktionen der römischen Kirche sowie den mit ihnen verbundenen Problemen. Ausgangspunkt der Untersuchung ist die vor allem in der Moderne virulent werdende Frage, wie der geschichtliche Wandel von dogmatischen Selbstbeschreibungen der Kirche theologisch zu verstehen sei. Bleibt der Glaube der Kirche mit sich selbst identisch, wenn sich die Formen ändern, in denen er formuliert wird? Oder ändert sich mit den Formen ebenso der Gehalt? Was aber ist, wenn sich sowohl Form als auch Gehalt verändern? Muss man dann von Diskontinuität oder gar einem Abbruch reden, oder ist das bereits der Fall, wenn die Formen transformiert werden? Vor dem Hintergrund der Moderne, zu der das reflexive Wissen um das Gewordensein und die Veränderbarkeit aller Gehalte gehört, werden solche Fragen auch für die römische Kirche und ihre dogmatische Selbstbeschreibung unabweislich. Insofern wundert es nicht, dass dem Dogma in der römischen Kirche im 19. Jh. nicht nur verstärkte Aufmerksamkeit zuteil, sondern dieses im Sinne eines – von dem nun selbst unfehlbaren Papst – autoritativ bestimmten Lehrsatzes, dem Verbindlichkeit zukommt, geschaffen wurde. Thematisch wird der Wandel des Dogmas in einer Theorie der Dogmenentwicklung, die, so S.s These, die Aufgabe habe, »die instabile Gleichzeitigkeit von Kontinuität und Diskontinuität« (19) jener Entwicklung zu bedenken. Diesen Gedanken, der auf eine Verschränkung von Kontinuität und Diskontinuität in einer entwicklungsgeschichtlichen Fassung des Dogmas zielt, arbeitet S. in seiner Untersuchung in einem Durchgang durch die Dogmengeschichte aus, die von vornherein systematisch angelegt ist.
Strukturiert ist das acht Kapitel umfassende Buch in eine Rekonstruktion der Entwicklungsgeschichte des Dogmas, welche eingerahmt ist durch Begriffliche Bestimmungen: Dogma und Entwicklung (22–73) und eine Zusammenschau und Ausblick: Mehr Spielraum als gedacht (270–293). Den Rahmenkapiteln ist nochmals ein Prolog (9) und eine Einleitung (11–21) vorangestellt und ein Epilog (294 f.) nachgeordnet. Den Hauptteil der Untersuchung bilden die Abschnitte drei bis sieben, in denen eine minutiöse und kenntnisreiche Darstellung der Fassung des Dogmas in der römischen Kirche und Theologie geboten wird. Das Plädoyer von S. für ein Verständnis des Dogmas als einem zeitbedingten Ausdruck des Evangeliums, das Kontinuität und Diskontinuität verbindet und auf Verstehbarkeit der begrifflichen Bestimmungen des kirchlichen Glaubens gegen autoritative lehramtliche Fassungen setzt (294), fasst das Resultat des kritischen Durchgangs durch die Dogmengeschichte systematisch zusammen.
Mit begriffsgeschichtlichen Untersuchungen zum Dogma, die als systematische Aufgabe verstanden werden, setzt das Buch ein (22–51). Schon die Begriffsgeschichte fungiert als Beleg, dass sich Innovation und Tradition in dem Begriff überlagern, da das Dogma der römischen Kirche im Sinne eines verbindlichen autoritativen Glaubenssatzes im Rückgriff auf ältere Motive aus dem 19. Jahrhundert stammt. Das Zweite Vatikanische Konzil »rüttelte nicht an der Vorstellung, dass die Kirche ihren Gläubigen Sätze vorlegen kann, die mit dem Anspruch auf Unfehlbarkeit ausgestattet sind« (42), allerdings erweiterte der Katechismus der Katholischen Kirche aus dem Jahre 1992 dieses Verständnis des Dogmas (45). Der Katechismus versteht unter einem Dogma etwas, was Zustimmung verlangt, »obwohl es nicht Teil des Offenbarungsgutes ist« (46), womit die »Dogmatisierungskompetenz« (49) des Lehramts gesteigert wird. Unter Entwicklung versteht S. eine »instabile Gleichzeitigkeit von Kontinuität und Diskontinuität« (52). Angewandt auf das Dogma besagt das: »Wenn Entwicklung im Allgemeinen die instabile Gleichzeitigkeit von Kontinuität und Diskontinuität be­zeichnet, dann beschreibt die Entwicklung der Glaubenslehre im Besonderen eine Art der Diskontinuität, die um einer großen Kontinuität willen bisherige Kontinuitätsrelationen relativiert.« (54) Damit sind die kategorialen Ausgangsbestimmungen benannt, die, vor dem Hintergrund der protestantischen Dogmengeschichte sowie Entwicklungstheorien des 19. Jh.s weiter präzisiert, auf die im Hauptteil des Buches skizzierte Entwicklungsgeschichte des Dogmas angewandt werden.
Zunächst wird im dritten Kapitel die Bibel in der Spannung von Genesis und Norm diskutiert (Die Bibel als Resultat und Richtschnur dogmatischer Entwicklung, 74–106). Kontinuität und Diskontinuität liegen bereits in der Bibel als Kriterium der Entwicklung des Dogmas ineinander verwoben vor. Ein »absoluter Anfang dogmatischer Entwicklung« (97) ist damit selbst eine Konstruktion, die historisch nicht greifbar ist. »Wo immer die theologische Reflexion ansetzt, stößt sie auf eine bereits im Gange sich befindliche Entwicklung, die sich in einzelnen Stadien rekonstruieren, aber nicht unhintergehbar festhalten lässt« (ebd.). Die Herausbildung von Glaubenssätzen und Dogmen in der Geschichte des Christentums wiederholt dieses Muster, welches jedoch jeweils unterschiedlich gedeutet wird. S. zeichnet die dogmengeschichtliche Entwicklung exemplarisch in der Alten Kirche (107–143), dem Mittelalter inklusive Reformation (144–176), den Debatten im 19. und 20. Jh. (177–229) sowie in den neueren Entwicklungen der römischen Kirche nach dem Zweiten Vatikanum anhand der Konzeptionen von Karl Rahner, Joseph Ratzinger und Walter Kasper nach (230–269). In den Blick treten dabei unterschiedliche Fassungen, mit denen das Verhältnis von Diskontinuität und Kontinuität, Konstanz und Wandel konzeptionalisiert wird, wie organologische Entwicklungsmodelle (108–122) oder Beschreibungen der Entwicklung des Dogmas als Explikation dessen, was bereits implizit in der Gottesoffenbarung und dem ihr korrespondierenden Glauben an­gelegt ist (156–167). S. arbeitet viele interessante Aspekte heraus, die hier nicht im Einzelnen diskutiert werden können, und bietet auf diese Weise ein umfassendes Bild von den Entwicklungen und Debatten über das Dogma in der römischen Kirche und Theologie, die durchaus kritisch diskutiert wird, um einen Spielraum des Möglichen herauszuarbeiten. »Theologische Entwicklungstheorien bieten keine dogmatische Weltformel, haben aber die Aufgabe, den Raum des Möglichen gegenüber seinen beiden Bestreitungen – dem angeblich Unmöglichen und dem angeblich Notwendigen – offenzuhalten.« (270) So mündet der Durchgang durch die Entwicklungsgeschichte des Dogmas in die Unterscheidung von elf Typen, mit denen die in dem Buch traktierten entwicklungstheoretischen Ansätze strukturiert werden (276–280). Theorien der Dog­menentwicklung können »legitimatorisch, doktrinal, affektiv, de­fensiv, explorativ, depositional, aktual, kontextuell-regel[ge­l]eitet, objektiv-regelgeleitet, kognitivistisch und autoritativ« (279 f.) sein, so »ein synthetischer Ertrag dieses Buches« (280).
Für die Dogmenentwicklung sei eine instabile Gleichzeitigkeit von Kontinuität und Diskontinuität konstitutiv. Diese Grundthese arbeitet S. prägnant in seiner Untersuchung heraus. Doch was ist unter Kontinuität und Diskontinuität genauer zu verstehen? Hierzu greift S. auf Walter Kaspers Unterscheidung von Evangelium und Dogma zurück (262–269), die gleichsam als Abschluss des Überblicks über die Entwicklungstheorien des Dogmas behandelt wird. »Das Ziel der Dogmenentwicklung muss es daher sein, das Evangelium im Laufe der Geschichte immer besser zu verstehen, was eine ›Umdeutung mit dem Ziel, durch das Besser-Verstehen überlieferter Zeugnisse das gegenwärtig Unverstandene in Kontinuität und Überbietung‹ [J. Werbick, Einführung in die theologische Wissenschaftslehre, Freiburg i. Br. 2010, 188] zu reformulieren, einschließt.« (284 f.) Der Konstruktion liegt das Postulat eines sich-selbst-gleichbleibenden Evangeliums zugrunde, welches in der Geschichte seiner Auslegung, also den lehrhaften Fassungen im Dogma, seine Form nicht nur ändert, sondern auch besser verstanden wird. Aber woher weiß man, dass das Evangelium, welches selbst als unbestimmt und nicht zugänglich angesetzt wird, mit sich identisch bleibt? Und wer entscheidet, ob eine gegenwärtige Interpretation ›besser‹ sei und zu einem angemesseneren Verständnis des Evangeliums führt? Diese Frage delegiert S. an das Lehramt, verbunden mit der Aufforderung an dieses, eine vernünftige Entscheidung zu fällen, da der »Vernunftbezug und der Autoritätsbezug des Glaubens […] in einer unauflösbaren Spannung« (280) stehen. So plädiert S. für einen moderaten und elastischen Umgang mit dem Dogma in der römisch-katholischen Kirche, in­dem deren gegenwärtige Identitätskonstruktionen an die Ge­schichte zurückgebunden und als deren angemessene Fortschreibung behauptet werden.