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Ausgabe:

November/2019

Spalte:

1186–1187

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Küenzlen, Gottfried

Titel/Untertitel:

Die Entzauberung der Welt. Studien zu Kultur, Gesellschaft und Religion in der Moderne.

Verlag:

Münster u. a.: LIT Verlag 2019. 126 S. = Schriften des Instituts für Theologie und Ethik der Universität der Bundeswehr München, 5. Kart. EUR 29,90. ISBN 978-3-643-14394-5.

Rezensent:

Johannes Bulitta

Der vorliegende Band vereinigt acht Beiträge, die der Münchener Theologe Gottfried Küenzlen zwischen 2009 und 2019 veröffentlicht hat. Die ersten beiden Kapitel – »Zur Einführung« und »Zu­gänge« – erscheinen hier erstmalig. Wie der Haupttitel der Sammlung verrät, bildet Max Webers vieldiskutierte Zeitdiagnose den Ariadnefaden der Sammlung, und der Vf. akzeptiert sie »als heuris-tischen Verstehensschlüssel« (13) für bestimmte Eigenheiten der Moderne.
Nach der im Grundsätzlichen bleibenden, kurzen Einführung (Kapitel I) nähert sich der Vf. seinem Thema im Kapitel II als zentralem Deutungsmuster der säkularen westlichen Moderne durch einen knappen Blick auf Phasen der Entzauberung wie der Wiederverzauberung, wie sie die Geistesgeschichte hervorgebracht hat, um zu dem Schluss zu gelangen, das Webersche Paradigma als taugliche Deutungskategorie der Moderne zu akzeptieren. Es folgt eine Gegenüberstellung der Diagnose Webers und zunächst derjenigen Friedrich Schillers, wie sie sich in seinem Gedicht Die Götter Griechenlands manifestiert und, nach Auffassung des Vf.s, in Teilen Webers Gedanken vorwegnimmt, sowie dann derjenigen Friedrich Nietzsches, die sich in erster Linie in dessen »Unzeitgemäßen Be­trachtungen« niedergeschlagen hat.
Das folgende Kapitel III, »Geist des Kapitalismus und Entzauberung der Welt«, bringt einleitend Betrachtungen zum Gesamt-œuvre Webers in seinem fragmentarischen Charakter, um dann in ihm Bausteine der Entzauberungsthese aufzuspüren. Wesentlich sind hier drei der meistrezipierten Texte Webers: Die Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, Wissenschaft als Beruf und Politik als Beruf.
Kapitel IV mit dem Gesamttitel »Max Weber: Wissenschaft und Religion. Ein Rekonstruktionsversuch in gegenwartsdiagnostischer Absicht« schlägt den Bogen zur gegenwärtigen Debatte und geht von der vielfach gemachten Beobachtung aus, das Verhältnis von Wissenschaft und Religion sei im Laufe der Zeit durchaus erheb-lichen Klimaschwankungen unterworfen gewesen und lasse derzeit eine Wiederkehr alter Fronten erkennen. Es fällt der Name Richard Dawkins. Dann zieht der Beitrag Webers Denken heran, um die These von der Werturteilsfreiheit der modernen Wissenschaft zu bekräftigen und auf diese Weise den Konflikt zu entschärfen.
Kapitel V stellt aus Charles Taylors Buch »Ein säkulares Zeitalter« das Kapitel vor, in dem der kanadische Philosoph das Ancien Ré­gime-, das Mobilisierungs- und das Authentizitätsmodell als Phasen der Entzauberungsgeschichte präsentiert.
Einen Seitenstrang des Entzauberungsthemas verfolgt Kapitel VI, indem es den alten Traum vom Neuen Menschen analysiert – von den frühen Quellen der Religionsgeschichte bis hin zu den durch die moderne Biotechnologie zur Verfügung stehenden Möglichkeiten.
Noch bevor das Sowjetsystem den Neuen Menschen zu schaffen antrat, arbeiteten daran im zaristischen »Termitenstaat« (90) des 19. Jh.s die russische Intelligenzija und namentlich Alexander Herzen durch die Kraft der Ideen – und wurden bitter desillusioniert. Dies beschreibt Kapitel VII.
In einer besonderen Art von Entzaubertheit gefangen glaubte Albert Camus den Menschen seiner Zeit, wie Kapitel VIII interpretiert, nämlich in der – eben auch gottlosen – Absurdität. Als einzige moralisch vertretbare Reaktion stellte sich ihm die Revolte dar.
Etwas weiter entfernt vom Ariadnefaden bewegen sich in Kapitel IX Überlegungen zum Wert öffentlicher Jubiläen in der zivilreligiösen Kultur einer Gesellschaft.
Das sehr kurze, aber biographisch dichte Schlusskapitel X ist eine von tiefer Freundschaft geprägte Hommage an das Inter-University-Center in Dubrovnik, zu dem der Vf. über alle Fährnisse der Geschichte hinweg eine enge Beziehung pflegt.
Der Band ist ohne Zweifel lesenswert und erhellend, doch vermisst man insbesondere in den hinführenden Kapiteln tieferschürfende kritische Überlegungen zum Weberschen Paradigma, das nun bereits ein Jahrhundert alt ist und nicht nur Zustimmung gefunden hat. So hat Webers Zunft- und Zeitgenosse Émile Durkheim, den der Vf. selbst in etwas anderem Zusammenhang heranzieht, in seiner Kritik der naturistischen Religionstheorie Gesichtspunkte ins Feld geführt, welche die Entzauberungsthese schwächen können, indem er in Zweifel zieht, der Frühmensch habe seine Umwelt als verzaubert empfunden (Die elementaren Formen des religiösen Lebens), und auch der Jenaer Geschichtsprofessor Friedrich Schiller hat seine eigene, aufgeklärte Zeit durchaus optimistisch sehen können (Die Sendung Moses, 1788; Universalhistorische Übersicht der Vornehmsten an den Kreuzzügen teilnehmenden Nationen, 1789). In Kapitel VI wäre vielleicht eine etwas stärkere begriffliche Differenzierung zwischen den Begriffen des »Neuen Menschen« in der Religionsgeschichte und in modernen Vorstellungen von Menschheitsoptimierung angebracht.
Insgesamt aber bietet die kleine Sammlung einen guten Anlass, Weber wieder zur Hand zu nehmen, gründlich zu studieren und die angebotenen angeknüpften Fäden weiterzuverfolgen.