Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

November/2019

Spalte:

1184–1185

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Hübinger, Gangolf

Titel/Untertitel:

Max Weber. Stationen und Impulse einer intellektuellen Biographie.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2019. XI, 419 S. Geb. EUR 64,00. ISBN 978-3-16-155724-8.

Rezensent:

Konrad Hammann

An Biographien über Max Weber, den großen Universalgelehrten an der Wende vom 19. zum 20. Jh., herrscht kein Mangel. Marianne Weber, Eduard Baumgarten, Michael Sukale, Joachim Radkau, Jürgen Kaube und Dirk Kaesler, um nur diese Autoren zu nennen, haben sich mit je eigenen Akzentsetzungen um die biographische Aufarbeitung von Webers Leben und Werk verdient gemacht. Gangolf Hübinger verfolgt mit seinem neuen Buch nicht die Absicht, die vorhandenen Biographien über Max Weber um eine weitere Darstellung mit biographischen Schwerpunkten zu ergänzen. Es ist ihm vielmehr darum zu tun, ausgewählte »Stationen und Im­pulse« der Lebens- und Werkgeschichte Max Webers zu vergegenwärtigen. (Der Begriff »Biographie« im Untertitel wird von H. allerdings wie bei so vielen Autoren nicht in seinem genuinen Wortsinn verwendet.) Dabei nimmt H., der viele Jahre in Frankfurt (Oder) Vergleichende Kulturgeschichte der Neuzeit gelehrt hat und der Mitherausgeber der Gesamtausgaben von Ernst Troeltsch und Max Weber ist, den großen Nationalökonomen, Soziologen und Kulturdiagnostiker dezidiert in seiner Zeit, an der Schwelle vom 19. zum 20. Jh. also, in den Blick. Auf Weber als Akteur in der um 1900 sich formierenden Moderne und als Analytiker der harten, spannungsreichen Antagonismen, die die Pluralisierung der Gegenwartskultur, die Demokratisierung der Massengesellschaft und die Verwissenschaftlichung der sozialen Selbstbeschreibung geradezu allererst hervorbrachten, auf diesen »Gelehrten-Intellektuellen« (4), der die Kulturschwelle von 1900 in immer neuen Anläufen zu deuten und durch die Paradigmen der Rationalisierung wie auch der Intellektualisierung seiner Lebenswelt zu erfassen suchte, richtet sich mithin das hauptsächliche Interesse H.s.
In dieser Absicht, die bürgerliche Radikalität und den wissenschaftlichen Intellektualismus Webers präzise zu bestimmen, bietet H., verteilt auf fünf große Kapitel, insgesamt 21 Einzelstudien. Es handelt sich bei ihnen um Texte, die zwischen 1988 und 1995 sowie von 2004 bis 2018 entstanden sind, darunter neben diversen Aufsätzen auch drei Einleitungen zu den entsprechenden von H. herausgegebenen Bänden der Max Weber Gesamtausgabe. Sehe ich recht, sind diese bereits früher veröffentlichten Einzelbeiträge für diesen Sammelband noch einmal überarbeitet und in ein konzises Verhältnis zueinander gesetzt worden. Die thematische Klammer, die die ursprünglich solitären Stücke nun miteinander verbindet, ist im Untertitel des Buches angedeutet. Darüber hinaus gibt H. in der Einführung zu dem Band hilfreiche Hinweise, wie die 21 Studien auf die von ihm gestellte Leitfrage bezogen sind.
Da ich im Rahmen dieser Besprechung nicht alle Einzelbeiträge in dem Buch H.s vorstellen kann, versuche ich einen Eindruck von dem ganzen Unternehmen zu vermitteln, indem ich aus jedem thematischen Segment eine Studie kurz vergegenwärtige. In dem ersten Abschnitt »Bürgerliche Lebensführung und wissenschaftliche Orientierung« geht H. zum Beispiel der Frage nach, warum Weber so viel Energie in die Konzipierung und Verwirklichung des im Verlag J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) erschienenen »Grundriss der Sozialökonomik« steckte. Er zeigt in lockerer Anknüpfung an Florian Illies ʼ inspirierendes Buch über das besondere, das Ausnahmejahr 1913, wie Weber – im Unterschied zu heutigen Wahrnehmungen – dieses Jahr quasi als »ein Jahr der Neuordnung des Wissens vom Menschen« (61) begriff und dem allgemeinen Trend der Zeit zu den übergreifenden, enzyklopädischen Sammelwerken folgte, als er seinem Verleger Paul Siebeck zu Silvester 1913 emphatisch seinen eigenen Beitrag zu dem von ihm ja maßgeblich entwickelten »Grundriß der Sozialökonomik« ankündigte.
Im zweiten Segment, in dem es um »Ideen und Ideenkämpfe« geht, rekonstruiert H. unter der Überschrift »Die Intellektualisierung der Welt« die zeitgenössischen Bezugsfelder und Verwendungskontexte, in denen Webers Intellektuellenkonzept verortet war. Der Soziologe erkannte die Eigentümlichkeit des okzidentalen Rationalismus und lieferte in der »Wirtschaftsethik der Weltreligionen« den Nachweis, dass die Intellektuellen als Träger einer bestimmten Religiosität und ethischen Gesinnung in den verschiedenen Religionen zwar unterschiedliches Gewicht hatten und haben, aber doch durchweg von höchster Bedeutung zumal für die Vermittlung zwischen religiösen Erlösungsideen und einer rationalen Kulturwelt waren und sind. Unter dem Leitmotiv »Ordnungen des politischen Wissens« bietet H. neben anderen interessanten Aufsätzen einen vergleichenden Überblick über die politischen und staatsrechtlichen Vorstellungen Georg Jellineks, Otto Hintzes und Max Webers. Dabei zeigt er, wie um 1900 die traditionellen Staatswissenschaften bei diesen Autoren in eine wissenschaftliche Auffassung der Politik überführt werden, von Jellinek in eine allgemeine Soziallehre des Staates, von Hintze in einen historisch fundierten funktionalen Staatsbegriff, von Weber schließlich in das Konzept einer Herrschafts- und Staatssoziologie.
Der vierte große Abschnitt des Buches ist der »Neuordnung Deutschlands und der Welt« nach 1918 gewidmet. Für dieses Thema mag hier exemplarisch der Aufsatz »Kultursoziologie und De­mokratieprobleme« angeführt werden. In diesem Text stellt H. einen instruktiven Vergleich der Vorstellungen Max Webers, Al­fred Webers und Ernst Troeltschs im Hinblick auf die gesellschaftlich-politische Neuordnung Deutschlands nach dem Ersten Weltkrieg an. Alle drei Zeitdiagnostiker beteiligten sich vor 1918 im Heidelberger »Laboratorium der Moderne« an den mannigfachen Versuchen, im Horizont der kulturellen Umbrüche der Kaiserzeit zu neuen Bewertungen der Ethik, der Religion, der ökonomischen und politischen Ordnungsvorstellungen zu gelangen. Die beiden Brüder Weber und Troeltsch einte nach 1918 vor allem das Inter-e sse, zwischen kapitalistischer Wirtschaft und einer pointiert elitendemokratisch aufgefassten demokratischen Herrschaftsstruktur zu vermitteln. Gleichwohl differierten sie in der »kultursoziologische[n] Behandlung der Demokratieprobleme« (304). Im fünften Segment »Weber-Kreis und Wissenschaft« bemüht sich H. schließlich gleich in zwei Beiträgen darum, analog zum George-Kreis oder dem Wiener Kreis um Otto Neurath die Existenz eines Weber-Kreises nicht einfach bloß zu postulieren, sondern an den Trägern des »Archivs für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik« und am Fortwirken der von Weber gesetzten Forschungsimpulse wenigstens als eine historische Denkmöglichkeit zu plausibili-sieren.
Mehr als drei Jahrzehnte hat H. sich bei der Erforschung der geistigen und kulturellen Wandlungsprozesse in der Epoche zwischen 1880 und 1920 Meriten erworben. Sein Buch über Max Weber weist ihn erneut als einen exquisiten Kenner dieser Zeit und der sie prägenden geistigen Anreger und Vordenker aus. Die durchweg anregenden Einzelstudien seines neuen Buches, an dem man allenfalls die eine oder andere, freilich wohl kaum vermeidbare Redundanz und die irrtümliche Verlegung des Jenaer Verlages Gustav Fischer nach Leipzig (65) beanstanden kann, eröffnen zahlreiche neue Perspektiven auf einen Gegenstand, der anscheinend immer neue Aneignungsversuche geradezu provoziert.