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Ausgabe:

November/2019

Spalte:

1176–1178

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Koll, Julia

Titel/Untertitel:

Kirchenmusik als sozioreligiöse Praxis. Studien zu Religion, Musik und Gruppe am Beispiel des Posaunenchors.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2016. 424 S. = Arbeiten zur Praktischen Theologie, 63. Geb. EUR 68,00. ISBN 978-3-374-04298-2.

Rezensent:

Konrad Klek

Dieses Buch von Julia Koll ist kein Buch über Kirchenmusik! Es ist vielmehr eine praktisch-theologische (Göttinger) Habilitationsschrift, die als solche mustergültig im denkbar weitesten Theoriehorizont die Ergebnisse einer empirischen Umfrage auswertet. Diese war allerdings in einem musikalischen Bereich des kirchlichen Lebens angesiedelt, in der Posaunenchorpraxis, der die Autorin persönlich verbunden ist. Das Buch leistet nicht weniger als eine umfassende Reflexion über angemessene Theorien kirchlichen Handelns heute und hat das Zeug zu einer Fundamentalschrift, die eine Neuausrichtung der Praktischen Theologie auslösen kann, den »Praxis-Turn«, oder wie auch immer das dann ge­nannt werden wird.
Dass ausgerechnet Posaunenchöre, die bisher ziemlich im Schatten standen, bei den Kirchenmusik-Theoretikern als künstlerisch nicht ernstzunehmende Laiensache und in der Praktischen Theologie bei der hier zu konstatierenden allgemeinen Randstellung der Musik sowieso, dass diese nun der staunenden Fachwelt den Spiegel vorhalten: Habt ihr eigentlich schon mal wirklich hingeschaut, was passiert, wenn Menschen sich in kirchlichen Gruppen engagieren? – das ist eine forschungsgeschichtliche Pointe, die sitzt und hoffentlich als Stachel weiter bohrt im Establishment der gängigen praktisch-theologischen Strömungen. Ehrt mir die Posaunenchöre, kann man als Parole jetzt ausgeben, völlig unabhängig von musikalischen Aspekten! Die Umfrage (im norddeutschen Raum) hatte einen enormen Rücklauf, trotz 24 Fragepunkten haben viele Chormitglieder (im Frühjahr 2012) geflissentlich Auskunft gegeben über ihre Motivation, über den Stellenwert ihres Engagements im Chor für ihre persönliche Lebensführung, für ihr Verhältnis zu Kirche und Glauben usw. Das ergab eine sehr belastbare Basis hinsichtlich heute so hochstehender empirischer Forschung, die hier allerdings rein quantitativ, aber nach allen Regeln der Kunst vor sich ging (73–123).
Der Rezensent wurde wegen des Kirchenmusik-Titels ausgewählt und ist als Kirchenmusik-Fachmann eigentlich fehl am Platze für die Bewertung des Buches. Als Leser sieht er sich staunend, aber überfordert, dem hier präsentierten Feuerwerk an Theorie-Diskussionen in quasi globalem Horizont gegenüber. Zunächst ist das die religionstheoretische Dimension (127–191), wo K. den Be­griff der Selbsttranszendenz nach Hans Joas zur zentralen Kategorie erhebt, um das für Posaunenchormitglieder signifikante Agieren in der Gruppe als spezifisch religiöse Praxis zu erfassen und die herkömmliche Fixierung auf Individualität und persönliche Einstellung zu überwinden. In der musiktheoretischen Dimension (192–282) rezipiert K. die im angelsächsischen Raum kultivierten Ansätze der New Musicology und des »Collaborativ Musicing«, um die in Deutschland bisher dominierende Fixierung auf das »Werk« und seine Interpretation aufzubrechen. Hier wird auch das in der Um­frage sehr hoch bewertete gemeinsame Musizieren im Gottesdienst als charakteristische Musikpraxis in den Blick genommen, ein längst fälliger Anstoß für Theorien von Musikpraxis einerseits, für alle liturgischen Handlungstheorien andererseits. In kirchentheoretischer Hinsicht (283–347) bringt K. das Phänomen Gruppe engagiert in Stellung als konkrete und oft wohl sogar prioritäre Form sozioreligiöser Praxis. Man muss gewiss nicht Posaune oder Trompete spielen können, um die Stringenz und Relevanz dieser Erörterung für die Methodik der Praktischen Theologie bestätigen zu müssen. Im Schlusskapitel »Ausblick« (349–378) formuliert K. perspektivische Konsequenzen für theologische Theoriebildung in spiritueller »Siebenfältigkeit«, wobei sie am Ende in vornehmer wie kluger Selbstrelativierung feststellt, dass es nicht sinnvoll wäre, den Begriff »Religion als Praxis« »in den Rang des Zentralbegriffs heben zu wollen«. Den Diskursbegriff und die Formel »Kommunikation des Evangeliums« sieht sie als wichtige Korrelate (377). Insofern wäre ein »Praxis-Turn« der Praktischen Theologie gar nicht in ihrem Sinne.
Dem Kirchenmusik-Rezensenten seien im Gegenüber zu diesem faszinierend weiten und darin für theologische Theoriebildung vorbildlichen Theorie-Panorama allerdings ein paar Anfragen aus der Kirchenmusik-Binnenperspektive gestattet:
– Zunächst befriedigt der Gebrauch des Begriffs Kirchenmusik nicht, angefangen bei der Titelformulierung. Ohne präzise Be­griffsbestimmung dient er (oft in der Adjektivform »kirchenmusikalisch«) als Chiffre, um eigentlich notwendigen Präzisierungen und Abgrenzungen auszuweichen.
– Als Kirchenmusiktheorien werden die Elaborate der Wortführer der »klassischen Kirchenmusik« (O. Söhngen, W. Blankenburg, Chr. Albrecht) rezipiert und kritisch am Agieren der Posaunenchöre geprüft. Dieses war aber bei deren Theoriebildung gar nicht im Blick. Die Profilierung von Analogien wie Spezifika der Posaunenchöre im Gegenüber zu anderen musikalischen Gruppen in der Kirche unterbleibt. Das kann eine solche Arbeit auch nicht alles leis-ten. Für speziell kirchenmusikalische Theoriebildung wäre das allerdings so nicht hinreichend.
– Der theoretische Diskursmodus des Buches – sprachlich repräsentiert durch die Verbform des Präsens beim Gegenüberstellen von Positionen – lässt historische Entwicklungen und Wertungen auch in der Theoriebildung weitgehend außer Acht. So wird bei der Kirchenmusiktheorie viel »Schnee von gestern« aufgetischt und »abgeschossen«. Die »alten Herren« (s. o.) sind gewiss keine Referenzgröße mehr. Warum es heute dafür kaum Ersatz in der Theoriebildung gibt, wäre eben in der Reflexion zu erörtern.
– Die Erhebung wandte sich mit zwei Umfragebögen einerseits an Chorleiter, andererseits an Chormitglieder. Die Chorleiter-Um­frage kommt in der Auswertung und Diskussion quasi nicht vor, und im Chormitglieder-Bogen gab es keine Frage zum Stellenwert der Leitungsperson. Das gehört aber zum Phänomen der Gruppe essentiell dazu. Im Bereich der singenden Gruppen wird diese Person vermutlich stets eine sehr große Rolle spielen. Gerade für das Eigenprofil der Posaunenchöre wäre es wichtig, die Chorleiterfrage nicht auszuklammern – und für Theorien über verantwortliches Leitungshandeln in der Kirche neben dem Pfarrdienst erst recht.
– Mit musikphilosophischem Rüstzeug, das sich auf die neuzeitliche Entwicklung der (klassischen) Instrumentalmusik gründet, betont K. die Deutungsoffenheit instrumentaler Musik und bezieht dies nun auf das Instrumentalspiel der Bläser. Auch wenn in den Bläserheften heute nicht liedbezogene Musikstücke einen höheren Anteil aufweisen als früher, zum identitätsstiftenden Spezifikum der Bläser gehört doch das »Choräle spielen« und das musikalische Agieren im semantisch geprägten Raum der Kirche. Hier dürfte der Theoriehorizont um einiges »zu hoch« angesetzt sein. Jedenfalls müsste das mit den faktischen Gegebenheiten in der Stückauswahl präziser vermittelt werden.
– Bei den Erörterungen zur Bedeutung des Spielens im Gottesdienst bleibt außer Acht, dass die Posaunenchöre da nicht nur Musikstücke einem Hörer-»Publikum« vorspielen (wie bei sonstigen Musikdarbietungen), sondern dass sie eben gerade auch mit der singenden Gemeinde zusammen agieren bei der Liedbegleitung und deren Einleitung. Das gerade könnte ein entscheidendes Plus der Aktionsform »Spielen im Gottesdienst« sein! »Gruppe« und »Gemeinde« in unmittelbarer Interaktion, solche musikalische Praxis als »darstellendes Handeln« schlechthin.
Diesen Stachel würde der Rezensent gerne in der Theoriediskussion der Praktischen Theologie gesetzt sehen.