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Ausgabe:

November/2019

Spalte:

1164–1167

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Blažek, Pavel [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Sacramentum Magnum. Die Ehe in der mittelalterlichen Theologie – Le mariage dans la théologie médiévale – Marriage in Medieval Theology.

Verlag:

Münster: Aschendorff Verlag 2018. VI, 529 S. = Archa Verbi. Subsidia, 15. Geb. EUR 64,00. ISBN 978-3-402-10225-1.

Rezensent:

Martin Ohst

Wo die Grundlagen des Zusammenlebens geschichtlich durch die christliche Religion und das römische Recht bestimmt sind, haben sich die moralischen und rechtlichen Regelwerke, welche die Ehe umgeben, sehr unterschiedlich ausgebildet. Dennoch herrschte bis vor Kurzem Konsens darüber, dass, wie eine römische Rechtssentenz formuliert, die Ehe nach göttlichem und menschlichem Recht die auf Lebenslänglichkeit angelegte, umfassende Lebensgemeinschaft eines Mannes und einer Frau sei (vgl. Dig. 23.2.1). Der offenbar unaufhaltsame Siegeszug der »Ehe für alle« hat eine konstitu-tive Komponente dieser Minimaldefinition eliminiert – wie lange mag es noch dauern, bis konvergierende Bestrebungen zuwandernder traditionsverhafteter Muslime und indigener westlich-libertärer Lebensreformer auch das hier implizierte Polygamie-Verbot unter Beschuss nehmen und beseitigen? Macht man sich von solchen Überlegungen aus an die Lektüre des hier anzuzeigenden Bandes, dann ergeht es einem, als beträte man, von einer belebten, quirligen Straße kommend, ein Archiv: Unversehens verstummt der Alltagslärm, und es umfängt einen die wohltuende Stille sorgsam gepflegter und liebevoll präsentierter geschichtlicher Überlieferung.
Der bunte Strauß der locker chronologisch angeordneten Beiträge lässt sich auch sachlich gruppieren. In einer ersten Sequenz steht die abstufende Zuordnung von Askese und Ehe im Vordergrund. Alessandro Scafi (Wedded Bliss? Early Medieval Views on the Place of Marriage in Eden, 69–94) zeigt, dass Gregor der Große, der die Protoplasten vor dem Fall als Asketen imaginierte, sich deutlich von Augustin absetzte, der der Ehe und der Zeugung von Kindern ihren Platz im göttlichen Schöpfungsplan auch abgesehen vom Sündenfall angewiesen hatte. Diesen Problemstrang verfolgen auch Maria Valeria Ingegno (Matrimonio, continenza e verginità nell’esegesi di Gilberto Porretano, 157–186) für das Hohe und Paul Payan (Mariage et virginité: la valorisation du couple de Marie et Joseph à la fin du Moyen Âge, 437–457) sowie Marita von Weissenberg (The Sacrament of Marriage in Late Medieval Hagiography, 459–475) für das Späte Mittelalter.
Was der Ehe trotz der Sünde eine besondere Würde verlieh, welche aus ihr mehr machte als einen bloßen Notbehelf, der das physische Leben kontinuiert und den Geschlechtstrieb kanalisiert, wa­ren zwei ursprünglich deutlich voneinander unterschiedene religiöse Deutungskonzepte: Einmal die an die Genesis-Berichte sich heftende Anschauung, dass Gott dieser Verbindung von Mann und Frau seinen ganz besonderen Segen eingestiftet habe, sodann die aus Eph 5,32 herausgelesene bzw. in diese religionsgeschichtlich voraussetzungsreiche deuteropaulinische Verbindung hineininterpretierte These, die Ehe zwischen Mann und Frau und die als Stiftung und Erhaltung der Kirche verstandene Erlösung durch Jesus Christus stünden in einem wie auch immer näher zu bestimmenden wechselseitigen Verweisungszusammenhang. Genau hier liegt der Ursprungsort der Lehre von der Sakramentalität der Ehe, aus welcher die Papstkirche für sich das oberste Deutungs- und Normierungsrecht über die Ehe herleitet.
Diesem Themenkreis ist die zweite Gruppe der Beiträge gewidmet. Philipp L. Reynolds hat der Reihe seiner im letzten Vierteljahrhundert publizierten gewichtigen Beiträge zur Geschichte des Eheverständnisses in der Kirche des Altertums und des Mittelalters unlängst eine weitere Monographie hinzugefügt; deren Ergebnisse stellt er hier konzentriert vor (The Primordial Marriage and the Seventh Sacrament, 7–53). Die zentralen theologie- und rechtsgeschichtlichen Weichenstellungen haben, so Reynolds, im 12. und 13. Jh. stattgefunden. Sicher, es gab insbesondere in Augustins einschlägigen Schriften und in deren Wirkungsgeschichte manche Faktoren, die sich rückblickend als Vorstufen dieser Theorie lesen lassen. Aber erst im Zuge der früh- und hochscholastischen Präzisierung und Technisierung des zuvor in vielen Farben schillernden Sakramentsbegriffs konnte die Sakramentalisierung der Ehe wirklich beginnen; diesen Prozess verfolgt Reynolds dann bis zum reformatorischen Einspruch, der seinerseits, so Reynolds’ Deutungskonzept, die im Zuge der Klerikalisierung und Sakramentalisierung der Ehe in den Hintergrund gedrängte schöpfungstheologische Deutungslinie mit neuartiger Radikalität zur Geltung brachte und gerade so im dialektischen Widerspiel die Fortführung der Sakramentalisierung durch das Trienter Konzil provozierte. Die Subsumption der Ehe unter die nun als feste Siebenzahl etablierten Sakramente stellte neue Denkaufgaben, deren sich die Theologen der Hochscholastik mit charakteristisch unterschiedlichen Ergebnissen annahmen, wie José Granados (Creation and Red­emption in the Sacrament of Marriage. A Study in Bonaventure’s and Aquinas’s Commentary on the Sentences, 247–278) und Shawn Colberg (Saint Bonaventure on the Sacrament of Marriage and Christian Perfection, 279–301) vorführen.
Als Protestant macht man sich bisweilen nicht hinreichend klar, wie sehr einander in der Papstkirche auch beim Thema »Ehe« seit jener Schlüsselperiode Theologie und Kirchenrecht durchdringen; Harnack hat für die sich daraus ergebenden Theoriegebilde den leider in Vergessenheit geratenen Ausdruck »Ekklesiastik« geprägt. In Personalunion vertrat Papst Innocenz III. jene beiden Disziplinen (Marie-Odile Bonnichon, Le De quadripartita specie nuptiarum de Lothaire de Segni, pape Innocent III [1198–1216]. Rituel et sacrement des noces, 187–229); mit seinem zweiten Nachfolger Gregor IX. bzw. dessen wichtigstem juristischen Mitarbeiter verbinden sich rechtliche Fixierungen von kaum zu überschätzender Langzeitwirkung (Jiří Kašný, Engagements, Legitimacy of Children and Dowry in the Summa on Marriage by Raymond of Penyafort, 231–245).
Hiermit ist der Übergang von der Theorie zum dritten Themenkreis, der Praxis und ihrer Gestaltung, hergestellt. Die Sakramentalisierung und die Klerikalisierung der Ehe koinzidierten mit einer Intensivierung des Kampfes gegen die nunmehr verpönte Kleriker-ehe – die jedoch, wie David G. Hunter (Clerical Marriage and the sacramentum magnum in the Early Middle Ages, 55–68) in Erinnerung ruft, zuvor seit den neutestamentlichen Pastoralbriefen geradezu als Muster christlicher Eheführung in Anspruch genommen worden war. – Dass über die Ehe immer wieder neu nachgedacht werden muss, liegt nicht zum mindesten daran, dass die faktischen Ehen ihrem Begriff nicht oder nur sehr unvollkommen entsprechen. Deshalb gibt gerade die Reflexion auf ehewidriges Verhal-ten ihrerseits wichtige Hinweise auf die in ihr selbst wirksamen Normbegriffe. So schildert Ines Weber (Wer seine Frau entlässt und eine andere heimführt, begeht Ehebruch: Weltliches Recht, biblische Norm und das Verhältnis von Mann und Frau vom 7. bis zum 11. Jahrhundert, 95–156) eine tiefgreifende Verschiebung der moralischen und rechtlichen Leitvorstellungen: Der verheiratete Mann bricht im außerehelichen Geschlechtsverkehr nicht mehr nur un­ter Umständen eine fremde, sondern in jedem Fall die eigene Ehe (100). Das Verhältnis des Mannes zu seiner Ehefrau wird also nicht mehr als das eines Besitzers zu seinem Besitz verstanden, sondern als ein Verhältnis zu einer Person, das wechselseitig zur Treue verpflichtet. Zwei Ursachenreihen macht die Vfn. hierfür namhaft, nämlich die »Vorstellung der Eheschließung als konsensuelles Vertragsgeschehen« und die »aus den Evangelien sowie den Paulusbriefen abgeleiteten Ideen vom Ehebruch« (109). In der Durchführung dieser These zeigt sich ein für den ganzen Band charakteristisches konzeptionelles Ungleichgewicht, denn das römisch-rechtliche matrimonium liberum mit seinem Fundamentalsatz consensus facit nuptias wird in seiner konstitutiven Bedeutung für das theologische und kanonistische Eheverständnis der mittelalterlichen Kirche zugunsten der biblisch- und dogmatisch-theologischen Faktoren durchgängig unterbewertet.
Das mindert allerdings den Wert dieses Bandes nicht, der vielmehr durch den Schlussbeitrag des Herausgebers (477–515) noch einmal gesteigert wird; es handelt sich dabei um die Erstedition zweier Predigten Bertholds von Regensburg (gest. 1272). Der Franziskaner fasst hier Ehe und Familie, verstanden als Spannungsgefüge von Herrschaft und Gesinde, als eine wenngleich gegenüber der Askese inferiore, so doch gottgewollte Lebensform ins Auge, denn auch in ihr kann sich ein Christenmensch das ewige Leben verdienen, wenn er es schafft, den allenthalben lauernden Versuchungen zur primär sexuell verstandenen Sünde nicht zu verfallen, und wenn er die Gnadenmittel der Kirche in zweckdienlicher Weise nutzt. Evas Hochmut war es, so Berthold, der den Frauen die Mühsal eines im ununterbrochenen Wechsel von Schwangerschaften und Stillzeiten sich rasch verzehrenden Lebens mitsamt allerlei anderen sozialen Zurücksetzungen eingetragen hat. Aber die Demut der Heiligen Jungfrau habe es verdient, dass in der Chris-tenheit ( nostra gens) das Los der Frauen doch etwas leichter sei als in anderen Kulturkreisen (505).