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Ausgabe:

November/2019

Spalte:

1161–1163

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Anonymus

Titel/Untertitel:

Extractiones de Talmud per ordinem sequentialem. Ed. by U. Cecini and Ó. L. de la Cruz Palma.

Verlag:

Turnhout: Brepols Publishers 2018. CX, 712 S. m. Abb. = Corpus Christianorum Continuatio Mediaevalis, 291. Geb. EUR 420,00. ISBN 978-2-503-58228-3.

Rezensent:

Matthias Morgenstern

In der jüdisch-christlichen Polemik des Hochmittelalters spielten getaufte Juden eine Rolle, insofern sie das Judentum und die rabbinische Literatur verunglimpften und zum Judenhass anstachelten. In Folge eines Streits zwischen Anhängern der rationalistischen Philosophie des Maimonides und »orthodoxen« rabbinischen Ge­lehrten, die diese Philosophie für häretisch erklärt und offenbar auch maimonidianische Schriften verbrannt hatten, sah sich 1236 der jüdische Gelehrte Nicholas Donin zum Austritt aus dem Judentum und zur Taufe veranlasst. Etwa zwei Jahre später wandte er sich an Papst Gregor IX. und beschuldigte die jüdischen Bibelkommentare und Gebetbücher, vor allem aber den Talmud, sie enthielten blasphemische Bemerkungen über Jesus, Maria und die Kirche; diese Texte würden von den Juden über die Bibel gestellt und seien daher zu verbieten und zu konfiszieren.
Dieser Brief enthielt neben lateinischen Übersetzungen aus dem Talmud fünfunddreißig Anklagen gegen die nachbiblische jüdische Tradition. Infolge dieser Denunziation kam es 1240 auf Befehl des Königs Ludwig IX. (»des Heiligen«) in Paris zu einer Disputation von jüdischen und christlichen Gelehrten. 1242 wurden zwischen zwanzig und vierundzwanzig Wagenladungen jüdischer Manuskripte aus ganz Frankreich nach Paris gebracht und dort öffentlich auf dem Place de Grève verbrannt. Obwohl der Papst später dazu aufforderte, die Verbrennungen einzustellen, war der Besitz des Talmuds in den folgenden Jahren in Frankreich verboten und wurde bestraft. Die Ereignisse der Jahre 1240–1242 führten zu einer radikalen Verschlechterung der jüdisch-christlichen Beziehungen in ganz Europa. Neben dem Talmud wurden auch andere jüdische Schriften wie Gebetbücher und Bibelkommentare verboten.
Da die Juden sich beklagten, ohne diese Bücher könnten sie weder ihre Rituale vollziehen noch im Einklang mit ihrer Tradition leben, ließ Innozenz IV., der Nachfolger des mittlerweile verstorbenen Papstes Gregor, den Fall noch einmal durch seinen Legaten Odo (Eudes) von Châteauroux überprüfen. Im Zusammenhang mit dieser Überprüfung, die die Verurteilung des Talmuds letztlich bestätigte, entstand eine weitere lateinische Teilübersetzung des Talmuds, die Extractiones de Talmud. Dieser Text ist als Handschrift in der Bibliothèque nationale de France (Ms. Lat. 16558) in Paris erhalten und wird hier (als Resultat eines vom European Re­search Council geförderten Projektes zur Erforschung lateinischer Talmudübersetzungen im Mittelalter) erstmals in einer kritischen Edition publiziert.
Die offenbar auf mehrere Autoren zurückgehende Übersetzung entstand mit hoher Wahrscheinlichkeit im Jahre 1245 (XXIII). Als einer der möglichen Übersetzer kommt, so der Pariser Mediävist Gilbert Dahan, der Dominikanermönch Thibaud de Sézanne in Frage, während nach Alexander Fidora, dem sich die Herausgeber anschließen, eher auf Nicholas Donin selbst zu verweisen ist.
Der eigentlichen Edition haben die Herausgeber eine Einführung in den Talmud, ausführliche Bemerkungen zur handschriftlichen Überlieferung (außer BNP Ms. Lat. 16558 existieren weitere Manuskripte wie die aus Schaffhausen und Maulbronn), zu ihrem editorischen Vorgehen und zu künftig geplanten Editionsvorhaben vorangestellt. Am Ende finden sich nützliche Register zu den zitierten Bibel- und Mischna-Stellen, zu den erwähnten rabbinischen Gelehrten sowie zu den hebräischen und altfranzösischen Vokabeln. Die Übersetzung beginnt wie in den üblichen Wilnaer Textausgaben mit dem Traktat Berachot in der ersten Mischna-Ordnung und endet mit Auszügen des Traktates über die Profanschlachtungen (Hullin, fünfte Ordnung); die dazwischen liegenden Teile sind anders als die Wilnaer Ausgabe angeordnet: So enthält der (vierte) Seder Naschim (»Frauen«, lateinisch: »excerpta de libro Nassym«) den außerkanonischen Traktat Kalla sowie den Traktat Nidda, der gewöhnlich in die sechste Ordnung gehört.
Um einen Eindruck von der Pariser Disputation zu geben, seien im Folgenden einige relevante Passagen angeführt, die sich auf das talmudische Jesusbild beziehen. Im Traktat Sanhedrin (bSan 67a) heißt es zu der Stelle, in der der Mutter Jesu Ehebruch mit einem gewissen Pandera vorgeworfen wird: »Verum est, sicut dicunt in Pumezitha [d. h. in der babylonischen Talmudhochschule Pumpeditha; M. M.]: Oberravit haec a viro suo.« Es folgt eine als »glossa Salomonis« (d. h. des jüdischen Talmudkommentators Raschi) ge­kennzeichnete, auf Maria gemünzte Bemerkung »adulterata est a viro suo« (298).
In bSan 43a, jener Stelle, in der der babylonisch-rabbinische Ge­lehrte Ulla (Ende des 3. Jh.s) Jesus vorwirft, das Volk zum Götzendienst verführt und daher die Verhängung der Todesstrafe durch den Hohen Rat verdient zu haben, heißt es (270): »Dicit Hula: Intelligitisne quod Iesus ha Noceri esset talis quod deberet pro eo invenire aliqua bona ratio? Nonne erat incitator? Et lex dicit: ›non parcat ei oculus tuus ut miserearis et occultes eum‹ (Deut. 13, 8).« Die Brisanz der Anklage, ein incitator gewesen zu sein, lässt sich der Tatsache entnehmen, dass der hebräische Name Jeschu ha-Nozri in der Münchner Talmudhandschrift des Jahres 1342 von der Zensur getilgt wurde.
Die Belegstelle bSan 103a (381) ist insofern aufschlussreich, als der gegen Jesus erhobene Vorwurf »qui faciat adurere cibum suum« (im Text mit dem altfranzösischen Wort »aorser« [d. h. ardoir, brûler, incendier; vgl. 592] – d. h. »[seine Speise] verbrennen« – erklärt) mit der Glosse »doctrinam« versehen ist. Im Gefolge des Petrus Al-phonsi (1062–1140), der Talmud mit »Lehre« übersetzt hatte, wird hier offenbar die hebräische Wurzel l-m-d mit lateinisch doceo wiedergegeben. Diese »Speise«, die von den Christen abgelehnte mündliche Tora des Judentums, soll bereits der Nazarener »verbrannt« haben. Peter Schäfer hat das angebliche Missgeschick Jesu in seiner Studie »Jesus im Talmud« (2007) als sexuelle Verfehlung gedeutet, die die Rabbinen dem Nazarener vorgehalten hätten. Die mittelalterlichen christlichen Gelehrten verstanden diesen Vorwurf offenbar anders. Sie sahen in dem Vergehen, dessen der Talmud Jesus be­schuldigt hatte (dem »Verbrennen« der Speise), eine Präfiguration ihres eigenen Tuns, das auf die Bücherverbrennungen hinauslief.
Abschließend sei auf einen Text hingewiesen, der aufgrund von kalendarischen Unstimmigkeiten bei der Datierung des Lebens Jesu in der Zwangsdisputation zur Sprache kam. Da Jesus in bSan 107b als Zeitgenosse des hasmonäischen Königs Alexander Jannai (Regierungszeit 103–76 v. Chr.) ausgegeben wird (»Quando Iannay rex occidit magistros«, 392 – gemeint ist sein auch von Josephus erwähnter Konflikt mit den Pharisäern), so Rabbi Jechiel ben Josef, der Vertreter der jüdischen Seite, sei davon auszugehen, dass der im Talmud genannte »Jesus« nicht mit dem christlichen Erlöser identisch sei. Jesus von Nazareth selbst, der zur Zeit der Königin Helene von Adiabene (sie starb etwa 50–56 n. Chr.) gelebt habe, werde im Talmud nirgends erwähnt. Derselbe Jechiel wies Ludwig IX. im Übrigen darauf hin, dass die talmudischen Aggadot für Juden nicht verpflichtendes Glaubensgut, sondern unverbindliche Überlieferungen seien. Wer sich über die jüdisch-christlichen Kontroversen des Mittelalters und frühe lateinische Talmudübersetzungen informieren will, hat nun diese vorzügliche Edition zur Verfügung, die künftig in keiner kirchengeschichtlichen und judaistischen Bibliothek fehlen sollte.