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Ausgabe:

November/2019

Spalte:

1150–1151

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Bauckham, Richard

Titel/Untertitel:

The Christian World Around the New Testament. Collected Essays II.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2017. X, 757 S. gr.8° = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 386. Lw. EUR 259,00. ISBN 978-3-16-153305-1.

Rezensent:

Karl-Wilhelm Niebuhr

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Bauckham, Richard: The Jewish World around the New Testament. Collected Essays I. Tübingen: Mohr Siebeck 2008. VI, 548 S. gr.8° = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 233. Lw. EUR 149,00. ISBN 978-3-16-149614-1.


Die beiden Aufsatzbände des seit 2007 emeritierten Neutestamentlers Richard Bauckham aus St. Andrews (Schottland) dokumentieren eindrucksvoll die Breite seiner wissenschaftlichen Interessen, die in zahlreichen Monographien, u. a. zur neutestamentlichen Zeit­geschichte (Magdala of Galilee. A Jewish City in the Hellenistic and Roman Period, Waco 2018), zur Jesus-Forschung (Jesus and the Eyewitnesses, Grand Rapids 2007; Jude and the Relatives of Jesus in the Early Church, Edinburgh 1990), zum Johannesevangelium (Gospel of Glory. Major Themes in Johannine Theology, Grand Rapids 2015; The Testimony of the Beloved Disciple, Grand Rapids 2007), zur Johannes-Offenbarung (The Climax of the Prophecy, Edinburgh 1999) und zum Jakobusbrief (James. Wisdom of James, Disciple of Jesus the Sage, London 1999) Ausdruck gefunden haben. Noch zwei weitere Aufsatzbände mit Arbeiten zur Apokalyptik (The Fate of the Dead. Studies on the Jewish and Christian Apocalypses, Leiden u. a. 1998) und zur neutestamentlichen Theologie (Jesus and the God of Israel. God Crucified and other Studies on the New Testament’s Christology of Divine Identity, Grand Rapids 2010) sowie ein Kommentar zum Judas- und zum 2. Petrusbrief (Jude, 2 Peter, Word Biblical Commentary, Waco 1983) gehören zum überaus umfangreichen fachwissenschaftlichen Werk des Gelehrten, der sich darüber hinaus auch mit zahlreichen hermeneutischen und gegenwartsbezogenen Publikationen einen Namen gemacht hat – angesichts dieser Breite und Tiefe seines Werks ist es schon erstaunlich, wie wenig die Arbeiten von B. in der gegenwärtigen deutschsprachigen Forschung präsent sind!
Die zur Besprechung vorliegenden Bände können hier nur an­gezeigt, nicht aber ausreichend fachlich gewürdigt werden. Der erste, schon vor mehr als zehn Jahren erschienene Band enthält 23 zwischen 1976 und 2008 erstmals publizierte Arbeiten zur frühjüdischen und frühchristlichen Literatur. Schwerpunkte bilden die jüdische Apokalyptik, Probleme der Pseudepigraphen zum Alten Testament, Paulus, das lukanische Doppelwerk und die Katholischen Briefe. Die Aufsätze sind ohne sachliche Anordnung chronol ogisch nach Erscheinungsdatum gereiht. Sie verbindet das ge­meinsame religionsgeschichtliche, historische, literarische und auch theologische »Milieu«, das in allen Aufsätzen detailliert aufgewiesen und interpretiert wird. Mehr als 60 Seiten umfassende Register (Stellen, antike Personen, moderne Autoren) bieten dafür die Gewähr.
Im zweiten, jüngeren Aufsatzband sind die 31 meist zwischen 1974 und 2015 erstmals erschienenen Beiträge (zwei bisher unveröffentlicht) in sieben Rubriken eingeteilt, die gelegentlich knapp eingeleitet werden. Hier stellt B. auch Bezüge zu seinen monographischen Arbeiten her und skizziert knapp die weitergehende Fachdiskussion (etwa 6 f. mit einer Spezialbibliographie zur Diskussion um die Adressaten der Evangelien). Einen Schwerpunkt in dieser zweiten Sammlung bilden die neutestamentlichen Evangelien (Gospel Audiences, Gospel Traditions, Gospels and Canon) mit elf Aufsätzen. Hinzu kommen Arbeiten zur Geschichte der frühchristlichen Bewegung (Early Christian People, fünf Aufsätze), zu religiösen Ausdrucks- und Lebensformen im frühen Christentum (Early Church, vier Aufsätze), zur frühchristlichen Literatur außerhalb des Neuen Testaments (Early Christian Apocryphal Literature, neun Aufsätze) und zur frühen patristischen Literatur (Early Pa-tristics, zwei Aufsätze zum Hirt des Hermas und zu Clemens von Alexandrien).
Das sich über Jahrzehnte erstreckende exegetische Werk von B. zeigt auf eindrucksvolle Weise, dass neutestamentliche Wissenschaft heute sich nicht mehr auf die Analyse und Interpretation der im christlichen Kanon gesammelten neutestamentlichen Schrif-ten beschränken kann. Sowohl chronologisch als auch religionsgeschichtlich sind die Grenzen des 1. Jh.s viel zu eng, um die Ur­sprungszusammenhänge und die Kontexte der frühen Jesus-Bewegung und des aus ihr entstehenden Christentums sachgemäß zu erfassen. Diese Einsicht hat auch hermeneutische Konsequenzen. Ein schlichtes sola scriptura kann für die historisch arbeitende Exe­gese des Neuen Testaments kein Maßstab sein, sofern dadurch ihre religions-, kultur- oder sozialgeschichtlichen Perspektiven begrenzt würden. Es bleibt freilich eine theologische Herausforderung, so­fern die Inhalte der neutestamentlichen Schriften sachgemäß er­schlossen und für die Gegenwart nicht nur von Kirchen und Chris-ten, sondern auch für alle sonst irgendwie geistig ansprechbaren Menschen unserer Zeit fruchtbar gemacht werden sollen. Es ist sicher kein Zufall, dass B. immer wieder auch Fragen der Kanongeschichte und der Rezeption neutestamentlicher Texte in der altkirchlichen Überlieferung bearbeitet hat, ganz abgesehen von seinen schon erwähnten unmittelbar gegenwartsbezogenen Veröffentlichungen. Sein Gesamtwerk zielt ganz offenkundig auf eine neutestamentliche Wissenschaft, die sich ihrer Verantwortung wie auch ihres Wertes für die Gegenwart bewusst ist.