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Ausgabe:

November/2019

Spalte:

1131–1133

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Josua, Hanna Nouri

Titel/Untertitel:

Die Muslime und der Islam. Wer oder was gehört zu Deutschland?

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2019. 159 S. Kart. EUR 15,00. ISBN 978-3-374-05871-6.

Rezensent:

Matthias Morgenstern

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Linnemann, Carsten, u. Winfried Bausback [Hrsg.]: Der politische Islam gehört nicht zu Deutschland. Wie wir unsere freie Gesellschaft verteidigen. Freiburg i. Br.: Verlag Herder 2019. 288 S. Geb. EUR 22,00. ISBN 978-3-451-38351-9.


Zwei Bände im Grenzbereich von Religions- und Politikwissenschaft und politischer (bzw. religionspolitischer) Publizistik greifen in die aktuelle Debatte um den politischen Islam in Deutschland ein; beide knüpfen mit ihrem Titel kritisch an das »Zugehörigkeitsdiktum« des Bundespräsidenten Christian Wulff an, der in einer Rede vom 3. Oktober 2010 öffentlichkeitswirksam formuliert hatte, »der Islam« gehöre inzwischen »auch zu Deutschland.«
Hanna Nouri Josua, im Libanon geborener Politik- und Islamwissenschaftler und evangelischer Theologe, der in Stuttgart Pfarrer der dortigen evangelischen Gemeinde arabischer Sprache ist, beginnt mit einer sachkundigen Kontextualisierung von Wulffs Rede und der anschließenden (bis in die unmittelbare Gegenwart andauernden) Debatte im politischen und religiösen Raum über die Frage, was mit dieser Feststellung eigentlich genau gemeint ist und was sie bedeutet. Teil des Kontextes sind neben teilweise polemisch geführten (und häufig mit sachfremden Emotionen beladenen und moralisierten) politischen Auseinandersetzungen auch jüdische und islamische Stimmen sowie die Stimmen christlicher K irchen: Bejahenden Äußerungen Nikolaus Schneiders, des ehemaligen Ratsvorsitzenden der EKD, stehen hier kritische Zwischenrufe gegenüber, etwa des Hamburger Weihbischofs Hans-Jochen Jaschke, der forderte, Muslime müssten die gewachsene Mehrheitskultur in Deutschland respektieren. Ein Kapitel mit Fragen zum gelebten Alltagsislam schließt sich an.
Thematisiert werden vor allem juristische Aspekte wie die Realisierung von Freiräumen für die Durchsetzung schariakonformen Verhaltens in Schule und Beruf (z. B. die Befreiung vom koedukativen Sport- und Schwimmunterricht für Mädchen). Was die Frage des für muslimische Frauen (angeblich?) obligatorischen Kopftuchs anbelangt, so kommen nicht nur die mit diesem Kleidungsstück einhergehenden patriarchal geprägten Frauenbilder, sondern vor allem das vom Autor wahrgenommene »Überlegenheitsgefühl gegenüber anderen Frauen, die sich angeblich schamlos kleiden«, und die implizierte »Distanzierung von der Mehrheitsgesellschaft« zur Sprache (74 f.).
Aus seiner eigenen Beratungspraxis kann Josua von Fällen be­richten, in denen heute unter in Deutschland lebenden Muslimen salafistische Einflüsse wirksam werden. Erkennbar werden diese Trends, wenn die Übererfüllung religiöser Normen eingefordert wird, beispielsweise die Pflicht zum Fasten für Kinder im Ramadan, wie sie die traditionell interpretierte Scharia nicht vorsieht. Besonders sensibel ist Josua für den von ihm konstatierten repressiven Umgang mit dem Phänomen des Religionswechsels, der »Apostasie«. Er zitiert die dem »Volksempfinden« in der Heimat vieler Flüchtlinge entsprechende Forderung »al murtadd yuqtal – der Abtrünnige muss getötet werden«; aus eigener Seelsorge weiß er von »unterschiedlichsten Formen des Mobbings, der Bedrängnis und der Drohungen bis hin zu Übergriffen« zu berichten, denen Konvertiten zum Christentum, die in Sammelunterkünften leben, ausgesetzt sind (81).
Das Buch mündet in sehr differenzierte Schlussfolgerungen aus der Debatte um das Zugehörigkeitsdiktum. Josua weist darauf hin, dass viele für unsere Rechtsordnung grundlegenden Vorstellungen des Grundgesetzes (z. B. die Vorgabe einer staatlichen Neutralität in religiösen Belangen) der Mehrheit der muslimischen Zuwanderer unbekannt sind. Umso notwendiger seien vertiefte Anstrengungen auf beiden Seiten zur Integration. Diese letzte Forderung verbindet Josua mit einem Plädoyer für einen Reformislam. Ge­nannt werden der 2010 gegründete Liberal-islamische Bund (LIB), das 2015 mit Unterstützung der Konrad Adenauer-Stiftung ins Leben gerufene Muslimische Forum Deutschland und die Initiative Säkularer Islam, die im November 2018 ihren Gründungstext veröffentlichte (120 f.). Es handelt sich hier um Gruppen, die nach Meinung des Autors von den politischen Instanzen, die bislang fast ausschließlich die konservativ-fundamentalistischen und aus dem Ausland gesteuerten Verbände privilegiert hätten, viel stärker be­achtet werden sollten.
Der von dem stellvertretenen Vorsitzenden der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag Carsten Linnemann gemeinsam mit dem ehemaligen bayrischen Justizminister und Juristen (ehemals Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht in Wuppertal) Winfried Bausback herausgegebene Sammelband vereinigt Beiträge, die die kritische Sicht auf die Diskussion der vergangenen Jahre aus unterschiedlichen Blickwinkeln ergänzen. Neben Texten mit wissenschaftlichem (oder populärwissenschaftlichem) Anspruch – z. B. Christine Schirrmachers ernüchternder Aufsatz »Paralleljustiz im deutschen Rechtsstaat: Friedensrichter, Streitschlichter, Schariagerichtshöfe«, Winfried Bausbacks Text »Der politische Islam und die Grenzlinien des Rechtsstaats« und Bassam Tibis »Wie die Integration islamischer Zuwanderer nach Europa behindert wird« – stehen hier eher journalistische Beiträge von Joachim Wagner (»Das wachsende Unbehagen am islamischen Religionsunterricht«), Sascha Adamek (»Islamistische Geldströme – und wie sie einzudämmen sind«) und Andreas Schnadwinkel (»Der politische Islam in den Me­dien«). Hinzu kommen Perspektiven von Akteuren aus dem politischen Bereich wie Markus Kerber (Staatssekretär im Bundesinnenministerium), der sich kritisch mit den bisherigen Erfahrungen der Deutschen Islam-Konferenz befasst, oder Michael Blume, dem Be­auftragten der Landesregierung Baden-Württemberg ge­gen Antisemitismus, der sich zu seinem aktuellen Arbeitsgebiet äußert (»Antisemitismus und die Krise des politisierten Islams«, 142–158).
Etwas am Rande stehen die sehr faktenorientiert und differenziert vorgetragenen Bemerkungen des Tübinger Oberbürgermeis-ters Boris Palmer zu den »Aufnahme- und Integrationsleistungen in einer deutschen Stadt«, da das Thema des Umgangs mit der Flüchtlingsfrage in der Kommunalpolitik, wie der Autor selbst schreibt, die Wahrnehmung des Islams und die Frage seiner Zugehörigkeit zu Deutschland nur indirekt (freilich durchaus folgenreich) berührt.
Besonders zu erwähnen sind die Texte des in Berlin lebenden arabischen Israelis Ahmad Mansour und das Plädoyer der kurdisch-jesidischen Filmemacherin und Politologin Düzen Tekkal für einen »German Dream«. Mit einem positiven »Traum« von der Integration möchte Tekkal »eine Lanze für Deutschland brechen«, der ihrer Meinung nach unter islamischen Einwanderern verbreiteten »Op­fermentalität« entgegentreten und der erfolgreichen Integration eine Stimme geben (174–175).
Zweifellos kommt es in diesem Buch zu einem Zusammentreffen von wissenschaftlichem Sachverstand, journalistischer Zuspitzungskunst und politischer Reflexion – angesichts der von Bassam Tibi vorgetragenen Prognose, »dass allein in Deutschland die Muslime im Jahr 2050 ca. 20 Prozent der Wohnbevölkerung ausmachen werden« (28), ist dies sehr zu begrüßen. Aufgrund der Dringlichkeit der damit angesprochen Fragen hat man aber doch den Eindruck, dass alle Beteiligten wissen, dass hier eine Debatte nachgeholt wird, die bereits vor Jahren und spätestens 2015 hätte stattfinden sollen. Denn »die Integration islamischer Zuwanderer« kann, so Bassam Tibi, »ohne ein angemessenes Islamverständnis durch die Politik nicht gelingen« (26). Zu einem solchen Islamverständnis gehört die sorgfältige Unterscheidung unterschiedlicher islamischer Strömungen in der Gegenwart, und besonders eine realistische Beurteilung des Phänomens politischer Islam, das nach Meinung aller Beiträger (und des Rezensenten) das Potential hat, unsere politische Ordnung zu bedrohen.