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Ausgabe:

November/2019

Spalte:

1129–1131

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

[Hempelmann, Reinhard]

Titel/Untertitel:

Schule der Unterscheidung. Reformatorischer Glaube und religiös-weltanschauliche Vielfalt. Festschrift für Reinhard Hempelmann. Hrsg. v. F. Eißler, K. Funkschmidt u. M. Utsch.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2018. 422 S. Kart. EUR 48,00. ISBN 978-3-374-05750-4.

Rezensent:

Detlef Hiller

Wie dem Titel des Buches bereits zu entnehmen, handelt es sich um eine Festschrift zum Abschied von Reinhard Hempelmann, der fast 20 Jahre die Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen (EZW) leitete. Herausgeber sind die drei wissenschaftlichen Mitarbeiter, die die letzten Jahre mit dem Ausscheidenden gearbeitet haben. Es ist ein voluminöser Sammelband von 422 Seiten mit Texten von Weggefährten Hempelmanns.
Der Sammelband erinnert an das Jesuswort vom Hausvater, der aus seinem Schatz Neues und Altes hervorholt (Mt 13,52). Denn der Leser findet darin ausdifferenzierte und zum weiteren Nachdenken anregende Aufsätze, aber auch kürzere mit geringerer Reichweite und Tiefe, bis hin zu Texten und Predigten eher kontemplativer Art. Alles in allem Texte, die inhaltlich wenig zusammenhält, außer dass es stets um Weltanschauungsfragen geht.
Der Titel des Sammelbandes ist eine Anlehnung an ein Zitat von Reinhard Hempelmann: »Christlicher Glaube ist eine Schule des Unterscheidens« (12). Und so mag »Unterscheidung« zumindest eine Art formale Klammer für die verschiedenen Texte sein. Denn in vielen Aufsätzen wird erfrischend unerschrocken hingesehen und präzis unterschieden. Die Qualität dieser Texte trägt das Buch und macht es für ein breit interessiertes Fachpublikum lesenswert. – Die insgesamt 36 Texte stammen von 36 Autoren. Sie sind fünf Themenfeldern zugeordnet, die »die Hauptarbeitsgebiete von Reinhard Hempelmann zumindest annähernd widerspiegeln« sollen:
Das erste Themenfeld ist überschrieben mit »Theologische Grundsatzfragen«. Es ist mit ca. 120 Seiten der größte Teil und besteht aus zehn Beiträgen. Die beiden ersten und ausführlichsten Texte sind von Ulrich H. J. Körtner und Reinhard Slenczka. Beide machen in ihrer klaren Argumentation und teilweise provokativen Angriffsfreude Lust auf mehr. Körtner befasst sich mit dem »Wagnis christlicher Gottesrede in der gegenwärtigen Religionslandschaft«. Das führt ihn zu der Forderung: »Christliche Theologie muss es auch heute wagen, von Gott zu reden, nicht nur über ir­gendwelche ›Gottesgedanken‹ als Restbestände einer Religionskultur, deren Schwundstufen offenbar die ganze Hoffnung einer neuen Generation von ›Kulturprotestanten‹ sind.« (44)
Für Körtner geht es dabei ums Ganze: »Es geht nicht um Reli-gion, sondern um Gott. Es geht nicht um ›kleine Transzendenzen‹, die man im Urlaub oder im Fußballstadion erleben kann, sondern um die Frage, was mein einziger Trost im Leben und im Sterben ist, wie es der reformierte Heidelberger Katechismus (1563) ausdrückt. Und das drängende Problem der Kirchen ist nicht der Mangel an irgendwelcher Spiritualität, sondern die Sprachnot des Glaubens, die sich in einer bisweilen erschreckenden Banalisierung christlicher Glaubensinhalte zeigt.« (47)
Slenczka fordert in seinem Text mit lutherischer Rhetorik die Wissenschaftlichkeit der Theologie heraus. Sie läge »im Sinne einer Sachgemäßheit« (70) allein in der Schriftgrundlage, dem Bekenntnis und dem Gottesdienst. Die Wissenschaftlichkeit der Theologie hänge daher davon ab, ob sie (1.) Gott Subjekt sein ließe und nicht zum Objekt mache, ob sie (2.) die »Heilige Schrift als Wort des Dreieinigen Gottes« erkenne, anerkenne, auslege und danach lebe, und dass sie (3.) »eine Funktion […] des Gottesdienstes (sei) mit der Aufgabe, das Evangelium lauter […] zu verkündigen und die Sakramente […] zu verwalten« (ebd.).
Der zweite Themenkreis mit neun Aufsätzen und ca. 100 Seiten ist überschrieben mit »Begegnung, Dialog, Mission«. Der längste Aufsatz in dieser Rubrik stammt von Walter Fleischmann-Bisten. Es geht ihm um »Konfessionskundliche Aspekte einer Konflikt- und Friedensgeschichte reformatorischer Kirchen«. Er beschreibt darin, wie schon in den Anfängen der Kirchengeschichte aus einer verfolgten erst eine tolerierte und schließlich eine Kirche wurde, die selbst andere verfolgte. Ähnliches zeichnet er nach für die Reformation und ihren Umgang mit ihrem »linken Flügel« sowie anderen christlichen Gruppen und den Juden. Fleischmann-Bisten verfolgt diesen Faden weiter bis zur Entstehung der Freikirchen und dem Verhalten der Landeskirchen ihnen gegenüber. Er stellt fest, dass letztlich erst die Weimarer Verfassung von 1919 das »Unverhältnis von Landes- und Freikirchen« beendete (173). Der Aufsatz ist ein engagierter Aufruf, insbesondere an den deutschen Protestantismus, über die Duldung anderer christlicher Strömungen hinaus zu deren vollumfänglicher Anerkennung zu gelangen.
Das dritte Themenfeld lautet »Atheismus, Humanismus, Laizismus«. Er hat nur etwa 45 Seiten und besteht aus drei Beiträgen. Der erste und längste Text stammt von Matthias Petzoldt. Er ist überschrieben mit »Religion für Atheisten«. Es geht um das widersprüchlich erscheinende Phänomen, das sich in einem Wort des französischen Philosophen André Comte-Sponville ausdrückt: »Keine Religion zu haben ist kein Grund, auf spirituelles Leben zu verzichten.« (275) Wobei die Begriffe Religion und Spiritualität austauschbar erscheinen, denn es handelt sich um ein atheistisches »Plädoyer für Religion unter säkularen Bedingungen« (273). Petzoldt erläutert, dass es letztlich um ein atheistisches Interesse an einer Transzendenz innerhalb der Immanenz gehe, das sich nicht abarbeiten müsse an einer über die Immanenz hinausreichenden Sphäre, geschweige denn an einem personalen Gott. Dennoch be­tont er, dass dieser »religiöse Atheismus« Schwachstellen des derzeit besonders populären naturalistischen Atheismus aufzeige.
Der vierte Themenkreis ist überschrieben mit »Evangelikalismus, Pentekostales Christentum«. Auch er besteht aus drei Aufsätzen mit nur ca. 30 Seiten. Der erste und längste Aufsatz stammt von Hans Gasper, einem ehemaligen Referenten der Deutschen Bischofskonferenz. Mit ihm kommt eine katholische Perspektive über Entstehung, theologische Herausforderungen und Verdienste der ka­tholischen Charismatischen Erneuerungsbewegung zu Wort. Es gelingt Gasper, deutlich zu machen, wie die Natur der charisma-tischen Phänomene einerseits eine konstruktive Verbindung eingeht mit ungebrochenen katholischen Traditionen (z. B. Wundergläubigkeit) und andererseits, wie diese, insbesondere die sogenannte »Geisttaufe«, mit dogmatischen Vorgaben in Spannung geraten.
Der fünfte und letzte Themenkreis ist überschrieben mit »Praxis und Zukunft der Kirche«. Er hat ca. 70 Seiten und besteht aus neun Beiträgen. Formal ist er der heterogenste Teil, denn in ihm finden sich nicht nur Aufsätze, sondern auch drei Predigten, ein Erfahrungsbericht und ein Interview. Die Predigten gehen inhaltlich zum Teil weit über das hinaus, was man von einer Predigt er­warten würde. Genannt sei nur die Predigt von Theo Sundermeier, der sehr einfach und beinahe liebevoll verdeutlicht, wie wichtig es für den theologischen Dialog mit Muslimen ist, tiefe inhaltliche Differenzen, insbesondere die trinitarische Frage, nicht zugunsten eines falsch verstandenen Harmoniestrebens zu umgehen, weil dies statt Kennenlernen und Wertschätzen eher Irritation und Entfremdung hervorrufe.
Den Abschluss bildet ein Aufsatz von Hans-Martin Barth, in dem dieser fragt, was nun, nach dem Reformationsjahr 2017, kommen mag. Er unterbreitet eine Art Fünf-Jahres-Plan mit bedenkenswerten theologischen Weichenstellungen, durch die sich die Kirche auf die Veränderung ihres Umfeldes einstellen könnte. Der Text endet mit einem Aufruf zu lutherischer Gelassenheit, begründet in dem Glauben, dass das Wort Gottes auch heute noch selbstwirksam sei (412 f.).