Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

November/2019

Spalte:

1126–1129

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Gierull, Barbara

Titel/Untertitel:

»Evangelisch-in-Jerusalem« im interreligiösen Dialog. Fragen bezüglich des interreligiösen Dialogs vor Ort – gewollt, gebraucht oder entbehrlich?

Verlag:

Münster u. a.: LIT Verlag 2017. 443 S. m. Abb. u. Ktn. = Beiträge zur Missionswissenschaft / Interkulturellen Theologie, 40. Kart. EUR 49,90. ISBN 978-3-643-13854-5.

Rezensent:

Markus Roser

Barbara Gierull ist Theologin und seit mehr als 20 Jahren im Be­reich des interkulturellen und interreligiösen Dialogs tätig. Bei ihren Reisen nach Jerusalem 2012/13 hat sie evangelische Christen deutscher Sprache vor Ort nach ihren Dialogbemühungen be-fragt. Die Monographie »Evangelisch-in-Jerusalem« im interreligiösen Dialog ist eine überarbeitete Fassung ihrer Dissertation, welche sie im Februar 2017 an der Fakultät für Geistes- und Kulturwissenschaften der Bergischen Universität Wuppertal in Kooperation mit dem Lehrstuhl Missions- und Religionswissenschaften und Ökumenik der Kirchlichen Hochschule Wuppertal/Bethel eingereicht hat. Die Arbeit haben ihr Doktorvater H. Wrogemann und D. Vieweger betreut.
Evangelische Christen deutscher Sprache kommen als temporär Entsandte der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD) auch mit dem Auftrag zu einem interreligiösen Dialog nach Jerusalem. Die Stadt Jerusalem stellt mit den dortigen politischen, sozialen, kulturellen, gesellschaftlichen Gegebenheiten den Rahmen für diesen Dialog. Auch neue inhaltliche Aspekte werden in das Dialoggeschehen eingebracht, wie beispielsweise Jerusalem als Heilige Stadt der drei Weltreligionen Judentum – Christentum – Islam, Biblische Geschichte, Historie, aber auch Jerusalem als Nagelprobe für eine Zweistaatenlösung Israel – Palästina. Vor diesem Hintergrund beschreibt die Arbeit die Besonderheiten des interreligiösen Dialogs seitens der evangelischen Christen deutscher Sprache in Jerusalem.
Mit ihrer Untersuchung, »Evangelisch-in-Jerusalem« im interreligiösen Dialog, geht die Vfn. den Fragen nach: Was verbirgt sich hinter »Evangelisch-in-Jerusalem«? Warum sind die evangelischen Christen deutscher Sprache in Jerusalem? Sind sie mit einem expliziten Auftrag zum interreligiösen Dialog dort? Wirkt dieser Dialog in seine Umwelt hinein? Zum anderen werden Jerusalem als Stadt und die Dialogpartner vorgestellt, die politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen beleuchtet und die Veränderung der Themen, sobald sich die Rahmenbedingungen ändern, angezeigt.
Mit Bezug auf die Frage nach dem interreligiösen Dialog greift die Vfn. sowohl den Ansatz der Konvivenz, des solidarischen Teilens, Lernens und Feierns, von Theo Sundermeier als auch die Theologie Interreligiöser Beziehungen mit der Dialogtypologie, der differenzierten Dialogintentionen, von Henning Wrogemann auf. Mit dem religionswissenschaftlichen Ansatz wird der interreligiöse Dialog empirisch und systematisch untersucht. Mit dem mis-sionsgeschichtlichen Ansatz werden die missionstheologischen An­schauungen, Erwartungen und Handlungsweisen analysiert. Methodisch wurde ein empirisches Forschungsdesign angewandt, indem das Dialogverhalten anhand von »Experteninterviews« durch Befragung der im Dialog beteiligten Menschen analysiert wurde. Kritisch sei hier anzumerken, dass insgesamt »nur« 15 Hauptinterviews und weniger als 50 Gespräche geführt wurden.
Im ersten Teil (35–82) werden die Rahmenbedingungen in Jerusalem für den interreligiösen Dialog erklärt. Zuerst wird die Ge­schichte Jerusalems seit der UN-Generalversammlung (1947) mit der Resolution 181 und dem Ende der britischen Mandatszeit (1948) bis hin zu den beiden Intifadas, dem Siedlungs- und Mauerbau 2002 in Erinnerung gerufen. Daran anschließend nimmt die Vfn. Jerusalem als Stadt mit unterschiedlichen Bürgerrechten und Aufenthaltstiteln, mit Checkpoints, vielen Heiligtümern, unterschiedlichen Religionen und verschiedentlichen religiösen Ausprägungen, mit Touristen und Pilgern in den Blick.
Im zweiten Teil (83–303) werden die evangelischen Christen deutscher Sprache in Jerusalem vorgestellt. Dabei wird untersucht, welches Erbe der Missionstätigkeiten im 19. und 20. Jh. durch die beiden Weltkriege hindurch und über die Zeit der Gründung des Staates Israel hinaus Bestand hatte. Es erfolgt eine detaillierte Be­schreibung der Satzungen und Konzepte der deutschen evangelischen Organisationen. Die darin enthaltenen Aufträge zum Dialog und die Dialogbemühungen werden analysiert. Besonderes Augenmerk legt die Vfn. auf die Pilgermission St. Chrischona mit dem Syrischen Waisenhaus, die Kaiserswerther und Herrnhuter Diakonissen, die drei Stiftungen, die Evangelische Jerusalem-Stiftung, die Kaiserin Auguste Victoria-Stiftung und das Deutsche Evange-lische Institut für Altertumswissenschaft des Heiligen Landes, den Jerusalemsverein des Berliner Missionswerkes und die aus dieser Arbeit entstandene Schule Talitha Kumi, den Dialogbeauftragten der EKD, Michael Krupp, die Erlöserkirche und die deutschsprachige Evangelische Gemeinde mit ihren vielfältigen Ak­tivitäten und Dialogangeboten, das Evangelische Pilgerzentrum und das Studium in Israel.
Die Profile des interreligiösen Dialogs der evangelischen Chris-ten deutscher Sprache in Jerusalem werden im dritten Teil (305–402) in den Kontext der Dialogkonzepte von Sundermeier und Wrogemann gestellt. Dabei werden das Dialogverständnis, prägende Dialogfiguren sowie Erfolgs- und Störfaktoren für den Dialog in Jerusalem untersucht. Sundermeiers Hermeneutik des Fremden als einer Hermeneutik interkulturellen Verstehens wird durch die Theorie Interreligiöser Beziehungen mit der Dialogtypologie Wrogemanns ergänzt. Dieser kennt vier Dialogtypen, Kontakt-, Inform ations-, Konsens- und Überzeugungsdialoge, welche die Vfn. hinsichtlich der systematischen Einordung der interreligiösen Dialoge in Jerusalem hin anwendet. »Wrogemann nimmt in seiner Theorie die Lebenswelt in den Blick, so dass die Praxis in ihrer Komplexität von Machtgefügen, Konkurrenzen und Kooperationen, Bedeutungen von Räumen und Medien in das Dialoggeschehen eingeschlossen wird. […] Demzufolge muss für den interreligiösen Dialog in Jerusalem beispielsweise bei der Betrachtung der Wir-Gruppen beachtet werden, dass in den politischen und sozialen Gegebenheiten der Dialog einerseits zwischen den Religionen (Judentum – Christentum – Islam) stattfindet, andererseits jedoch dabei von Menschen geführt wird, die aus unterschiedlichen Kontexten stammen und den Dialog unter sehr unterschiedlichen Voraussetzungen führen. Juden nehmen im Kontext der Machtstellung des Staates Israel teil, palästinensische Christen und Muslime in dem der Ohnmachtsstellung aufgrund der Besetzung durch den Staat Israel und die evangelischen Christen deutscher Sprache agieren als temporär im Land lebende Gäste.« (399 f.)
Die Vfn. kommt zu dem Schluss (403–410), dass Jerusalem zu einem Lernort wurde für die mit dem Mandat zum Dialog nach Jerusalem entsandten evangelischen Christen deutscher Sprache. In der Gemengelage zwischen Israel und den palästinensischen Autonomiegebieten, der Teilung in Ost- und West-Jerusalem, dem umstrittenen Status als Hauptstadt Israels bzw. Palästinas, der Mauer und den Checkpoints, der geistlich-religiösen Hauptstadt für Juden, Christen und Muslime mit heilsgeschichtlichen Erwartungen und Verheißungen als Stadt des Friedens, müssen evangelische Christen deutscher Sprache ihr Mandat für den interreligiösen Dialog ausfüllen. Es hat sich gezeigt, dass sie
»trotz aller Widrigkeiten durch einen eigenen, von ihnen selbst gestalteten Dialog mit Angehörigen anderer Religionen ins Gespräch kommen können. Dabei fungiert Religion nicht als vorrangiges Thema. […] Das Erfolgskriterium des Dialoges ist die Bereitstellung von medialen Zugängen […] für alle Dialogpartner. Der Dialog ist […] gekennzeichnet durch aktives Tun in Form von Konzerten, Theater, Kunst, archäologischen Grabungen, Feiern u. a. m. und wird durch diese Gestaltung zu einem Dialog als offener Raum […] für gemeinsames Tun und Erleben.«
Die Vfn. ist überzeugt, dass der so geführte Dialog eine Mittler- und Brückenfunktion hat und als »praxisnahes interaktives Kontakthalten zwischen den Religionen bezeichnet werden kann«.
Ist der Dialog »gewollt, gebraucht oder entbehrlich«? Die Vfn. betont, dass diese Frage jeweils differenziert beantwortet werden muss. Die Erfahrungen beispielsweise mit »Studium in Israel« zeigen bei den Dialogpartnern große Neugierde, kulturelles und religiöses Interesse. Eine Perspektiverweiterung hinsichtlich der eigenen Traditionen ist durchaus gewollt. Der ökumenische Dialog bei über 60 unterschiedlichen Konfessionen, Denominationen und Kommunitäten in Jerusalem, welcher zur Konsolidierung eines gemeinsamen christlichen Profils dienlich ist und der Abwanderung junger arabischer Christen entgegenwirkt, wird gebraucht. Dass Jerusalem nach den Worten des Propheten Sacharja ohne Mauern bewohnt werden soll, erscheint in absehbarer Zeit zweifelhaft. Die Vfn. hat mit ihrer Arbeit deutlich gemacht, dass der Einsatz von Evangelisch-in-Jerusalem für die Überwindung innerer und äußerer Mauern förderlich ist. Ein durchaus lesenswertes und allen an Jerusalem und am Dialog Interessierten zu empfehlendes Buch.