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Ausgabe:

Oktober/2019

Spalte:

1031–1034

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Soboth, Christian, u. Pia Schmid [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

»Schrift soll leserlich seyn«. Der Pietismus und die Medien. Beiträge zum IV. Internationalen Kongress für Pietismusforschung 2013. Hrsg. in Verbindung m. V. Albrecht-Birkner, H. Lehmann u. T. Müller-Bahlke. 2 Bde.

Verlag:

Halle (Saale): Verlag der Franckeschen Stiftung; Wiesbaden: Harrassowitz Verlag (in Kommission) 2016. XXI, 818 S. m. Abb. u. Tab. = Hallesche Forschungen, 44/1 u. 44/2. Kart. EUR 112,00. ISBN 978-3-447-10673-3.

Rezensent:

Christian Petersen-Deuper

Der alle vier Jahre stattfindende Pietismuskongress in Halle versammelt das »Who-is-who« der internationalen Pietismusforschung an einem der zentralen Orte dieser religiösen Strömung. Neben den »Großen« der Szene bietet das Zentrum für Pietismusforschung auch dem wissenschaftlichen Nachwuchs Raum, seine Forschungen zu präsentieren. Eine Vielzahl von Vorträgen in un­terschiedlichen Sektionen wird geboten, so dass bei Druck aller Re­ferate umfangreiche Kongressbände entstehen. Dabei schwanken das methodische Vorgehen, die inhaltliche Ausrichtung und der wissenschaftliche Ertrag sehr stark. So wird kaum jemand die gut 800 Seiten des anzuzeigenden Doppelbandes von vorne bis hinten lesen; vielmehr bietet es sich an, einzelne Texte herauszugreifen und nach bestimmten Themen zu suchen. Dementsprechend geht auch der Rezensent nur auf exemplarische Aufsätze ein.
Die inhaltliche Weite des Kongresses, die einen weiten Pietismusbegriff (Wallmann) voraussetzt, führt auch zu einer Weite des titelgebenden Medienbegriffes und damit zu einem gewissen Wi­derspruch zwischen Ober- und Untertitel, suggeriert jener doch einen engen Bezug auf schriftliche Medien (oder gar »die Schrift«?), während dieser in seiner schon im Vorwort von Christian Soboth inhaltlich gefüllten Bedeutung Personen, Sachen (hierunter fallen dann auch die schriftlichen Zeugnisse) und Institutionen gleichermaßen bezeichnen soll. Dementsprechend erscheint auch die Zuordnung der Aufsätze zu den Sektionen nicht immer zwingend. Das »Medium« ist in diesem Zusammenhang also alles, was zwischen zwei Polen vermittelt (XIX). Offen bleibt sogar, worin diese Pole liegen; als Theologe würde man »Gott« und »Mensch« erwarten; vielleicht lassen sich als kleinster gemeinsamer Nenner »pietis-tisches Denken« und »Zielperson« benennen. Hierin liegen Stärke und Schwäche des Kongressbandes zugleich. Insgesamt will der Band eine Lösung für zwei Forschungsdesiderate bieten (XII): Wie andere Veröffentlichungen des IZP geht er erstens interdisziplinär Fragen der Pietismusforschung an, die sonst in der Forschung zum 18. Jh. unberücksichtigt bleiben. Im Zentrum der Letzteren steht meist die Aufklärung, zu der der Pietismus wie auch die sogenannte Orthodoxie des Luthertums oft nur eine dunkle Folie bieten. Zweitens widmet sich der Band den »Medien«, die wiederum in der Pietismusforschung häufig ausgeblendet werden; wobei hier eben nicht nur an klassische Medien wie Briefe, Traktate, Predigten gedacht ist. Wie weit dieser Medienbegriff zu verstehen ist, entfaltet Soboth bereits im Vorwort (XVII), wenn als Praktiken neben das Singen und Predigen auch das Gestikulieren und Grimassieren treten. Inwieweit dies als historische Quellenarbeit rekonstruiert werden kann, muss offen bleiben. Dabei folgt die Anlage des Kongresses und des Sammelbandes der noch nicht abschließend akzeptierten These eines »langen 18. Jahrhunderts«.
Den Band eröffnen die drei Hauptvorträge des Kongresses von Gisela Mettele, Hartmut Lehmann und Ulrike Gleixner (1–64). Mettele legt ihren Schwerpunkt auf die Mündlichkeit der Medialität im Pietismus und hebt auf die Rolle der Frau im Pietismus ab, der dort mehr Möglichkeiten kirchlichen Engagements geboten werden als in den traditionell orientierten Landeskirchen. Lehmann fordert dazu auf, sich in der Pietismusforschung von einer Fixierung auf handschriftliche Quellen zu lösen und die gedruckten gleichberechtigt zu beachten, und hebt mahnend den Zeigefinger: Wir wissen heute mehr, aber längst nicht alles über die Pietisten, als es deren Zeitgenossen inner- und außerhalb der pietistischen Kreise je möglich war. Mit seinem relativ engen Medienbegriff steht Lehmann leicht quer zum Ansatz des Kongresses. Gleixner dagegen bietet einen straffen Forschungsüberblick zum Pietismus und seinen Kommunikationsformen und verweist auf den Millenarismus als entscheidendes Differenzkriterium zwischen Pietismus und Reformation.
Die erste Tagungssektion widmet sich sodann den Menschenmedien (65–145). Hier bieten Veronika Albrecht-Birkner und Matthias Plaga-Verse zunächst einen interessanten Einblick in die reformierte Spielart des Pietismus, wo das Konventikelwesen weniger aus einer Abgrenzung zur Amtskirche hervorgeht, sondern in der Kirchenzucht gründet, die über »Hausbesuche« das Leben der Gemeinde zu überwachen und zu steuern sucht. Das In- und Gegeneinander von Pietismus und Aufklärung im schulischen Kontext zeigt Rita Wöbkemeier am Beispiel von Altonaer Schulen und zweier sonst unbekannter Protagonisten auf, während Marianne Schröter mit Siegmund Jacob Baumgarten einen prominenteren Pietisten wählt. Sein Dreischritt Geschichte als kritische Wissenschaft, Exegese nach literaturwissenschaftlichen Paradigmata und Hermeneutik der biblischen Ursprachen wird als prägend für eine Theologengeneration beschrieben. Hier öffnet sich der Pietismus den aufgeklärten historischen Wissenschaften des 18. Jh.s. Marita Gruners Aufsatz über Zinzendorfs Töchter Theodore Caritas und Henriette Benigna Justine nimmt wiederum eine genderspezifische Perspektive in den Blick und zugleich ein spezielles Phänomen des Herrnhuter Pietismus, der die Rolle eines religiösen Wunderkindes schafft. Daniel Eißners Beitrag über pietistische Hauslehrer schließlich greift ein Forschungsdesiderat auf, muss sich aber mit den methodischen Unwägbarkeiten der Überlieferung in diesem sehr privaten Kontext arrangieren.
Die folgenden drei Beiträge der Sektion »Sachmedien« (149–300) nehmen ein modernes Massenmedium in den Blick: Zeitschriften und Zeitungen. Judith Becker widmet sich zwei Schweizer missionarischen Zeitschriften des 19. Jh.s, dem »Barmer Missionsblatt« und dem »Evangelischen Heidenboten«. Die »Blätter aus Bad Boll« unterscheiden sich von anderen erwecklichen Zeitschriften ihrer Zeit Konstanze Grutschnig-Kieser zufolge durch ihren unpolitischen Stil und ihre Begrenzung auf den engeren Kreis der Freunde Bad Bolls. In den Kern des Halleschen Pietismus dringt Kai Lohsträter in seiner präzisen Analyse des mangelnden Erfolges des Franckeschen Pressewesens vor. Er weist die Forschungsthese zurück, Francke habe sich als einer von wenigen Theologen der modernen Publizistik zu bedienen gewusst. Vielmehr sei das Zeitschriftenwesen in Halle um 1730 gekennzeichnet von mangelnder Professionalität. Als letzten Bei-trag in diesem Zusammenhang skizziert Thomas Hahn-Bruckart die deutschsprachige Publizistik der American Tract Society, bevor sich Sylvaine Hänsel dem Porträt als Medium zuwendet und in einer anschaulichen Art und Weise und mit reichem Bildmaterial Überlegungen zu Bildnissen Speners, Franckes und Niemeyers anstellt. Tünde Beatrix Karnitschers Beitrag zu den Schriften Johann Theodor von Tschechs (1595–1649) setzt einen weiten Pietismusbegriff voraus. So verweist sie gleich zu Beginn auf den von Martin Brecht postulierten großen Einfluss des Spiritualismus der ersten Hälfte des 17. Jh.s auf den Pietismus. Klaus vom Orde dagegen bleibt dort, wo der Pietismus nach allgemeiner Ansicht seinen Anfang nimmt: Philipp Jakob Spener. Dessen Kommentierung der Lutherbibel ist nie fertiggestellt worden, aber an den Entwürfen lässt sich trefflich zeigen, dass Spener fest verankert in der lutherischen Theologie steht und seine Form des Pietismus keinen heterodoxen Verdächtigungen ausgesetzt werden kann.
Aus dem Komplex »Institutionen als Medien« (301–397) sei der Beitrag der Franckeschen Archivdirektorin Brigitte Klosterberg herausgegriffen, die mit einer Darstellung der Anfänge dieses Archivs eine eher grundlegende Studie neben den sehr speziellen Aufsätzen wie etwa denjenigen Lubina Mahlings zu sorbischen Bildungsinstitutionen und denjenigen Reinhardt Würkerts zu pietistischen pädagogischen Einrichtungen in Stettin vorlegt. Klosterberg verfolgt die These, dass August Hermann Francke selbst als Gründer des Halleschen Archivs angesehen werden kann, da sein Tagebuch die Lektüre und Sortierung von Quellentexten belegt.
Der zweite Teilband wird von der Sektion »Medienpraktiken und Medientechniken« (401–532) eröffnet, diese wiederum von Pia Schmids lesenswertem Aufsatz zur »Frömmigkeitsdidaktik pietis-tischer Exempelgeschichten« – ein Phänomen, das die Religions-pädagogik immer wieder umtreibt, wenn biblische Helden oder Gestalten der Kirchengeschichte als Vorbilder im Glauben für die zu Bildenden herangezogen werden. Schmids Beitrag widmet sich den Exempeln frommer Kinder, die sich in Selbstbeherrschung und -beobachtung üben und Müßiggang und Phantasie vermeiden. Beachtenswert das Resümee: Dieselben Forderungen werden an Heranwachsende in der Aufklärung gestellt.
In Sektion 5 »Medienfunktionen und Medienwirkungen« (533–680) finden sich unter anderem Beiträge zur pietistischen Musikkultur. Wolfgang Hirschmann nimmt die pietistische Kantatenkomposition in den Blick und betont zu Recht, dass die Aufteilung von kunstvollen Kantaten in die Orthodoxie, schlichte Gemeindegesänge in den Pietismus nicht aufgeht. Notabene sollte sich dies schon an Johann Sebastian Bach belegen lassen, der immer wieder pietistische Texte in seine Kantaten aufnimmt. Ob allerdings der »galante« Stil etwa Rambachs in Kombination mit den anspruchsvollen Melodiefassungen des Freylinghausenschen Gesangbuchs wirklich eine ästhetisch befriedigende Form der Kirchenmusik darstellt, bedürfte näherer Untersuchung. Der interdisziplinäre wie auch der internationale Ansatz des Tagungsbandes zeigt sich in weiteren Beiträgen etwa zur Hymnologie der Slowakei, der Wirkung der Halleschen Lieder (Freylinghausen) in Skandinavien und im Baltikum. Nicht derart musikzentriert, wie es der Titel verheißt, stellt sich der Aufsatz »Musikbezogene Kommunikation« im Kontext der Herrnhuter Mission von Birgit Abels und Andreas Waczkat dar. Der reformierte Protestantismus und seine spezifischen Kommunikationsformen werden leider nur in einem sehr lesenswerten Beitrag von Willem J. op t’Hof summarisch verhandelt. Hier zeigt sich ökumenische Weite, wenn der Calvinismus zugleich international und interkonfessionell rückgebunden wird. Exotisch wirkt der Beitrag der Ethnologin Stephanie Böß, die Herrnhuter Lebensläufte als Medien des kollektiven Gedächtnisses in den Blick nimmt und damit an den aktuellen geschichtswissenschaftlichen Diskurs anknüpft.
Der Doppelband schließt mit der Sektion »Mediale Verhältnisse« (681–791). Wenn Stephanie Greve zu Beginn »eine theologische Kontroverse zwischen Katholizismus, Orthodoxie, Pietismus und Aufklärung« thematisiert, klingt das zunächst nach einem Rundumschlag durch das 18. Jh. Die lokale Eingrenzung hilft zum Verständnis, so dass der Beitrag Interesse an der Dissertation seiner Verfasserin weckt. Noch einen ganz anderen Bereich der »Medien« zeigt Thorsten Dietz auf, wenn er über die theologische Reflexion religiöser Gefühle schreibt. Friedrich Schleiermacher taucht allerdings erst in der letzten Fußnote auf – der Ausblick auf ihn wäre eine interessante Fortsetzung des Beitrages. Frank Lüdkes Beitrag zu Charles Grandison Finney (1791–1875) weist dann schon auf die Nachfahren des Pietismus im engeren Sinne, ebenso wie der lesenswerte begriffsgeschichtliche Aufsatz von Jan Carsten Schnurr zu »Pietist als Selbst- und Fremdbezeichnung im 19. und 20. Jahrhundert«. Sein Fazit: »Es blieb jedenfalls eine umstrittene Sache, ›Pietist‹ zu heißen« ließe sich auch im Präsens formulieren.
Zusammenfassend bietet der Doppelband, der von einem Personen- und einem Ortsregister abgeschlossen wird, eine üppige Fundgrube zu verschiedenen Facetten des Pietismus, von denen viele allerdings jeweils sehr speziell sind. Der Versuch, einen zusammenfassenden Überblick wenigstens der einzelnen Sektionen zu bieten, wäre sicher eine lohnenswerte Lesehilfe gewesen.