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Ausgabe:

Oktober/2019

Spalte:

1027–1029

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Clark, Christopher

Titel/Untertitel:

Von Zeit und Macht. Herrschaft und Geschichtsbild vom Großen Kurfürsten bis zu den Nationalsozialisten. Aus d. Engl. v. N. Juraschitz.

Verlag:

Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 2018. 313 S. m. 12 Abb. Geb. EUR 26,00. ISBN 978-3-421-04830-1.

Rezensent:

Benjamin Hasselhorn

Christopher Clark dürfte mittlerweile der bekannteste Experte für deutsche, insbesondere preußische Geschichte sein. Der in Cambridge lehrende Australier legte 2006 eine Gesamtdarstellung der Geschichte des »eisernen Königreichs« Preußen vor, zuvor bereits eine Biographie Wilhelms II. und 2013 seine Analyse der Ursachen des Ersten Weltkriegs. Unter Aufnahme von Forschungstendenzen der letzten Jahrzehnte entwickelt C. dabei eine Deutung der preußisch-deutschen Geschichte, die erheblich von dem abweicht, was in der deutschen Geschichtswissenschaft bis in die 1980er Jahre hinein und in der deutschen Geschichtspolitik bis heute als herrschende Auffassung gelten dürfte: Deutschland, so diese These, habe einen »Sonderweg« in die Moderne eingeschlagen, wobei insbesondere die obrigkeitsstaatliche und militaristische Tradition Preußens problematisch gewesen sei; die »verspätete Nation« (Helmuth Plessner) habe dann durch ihren »Griff nach der Weltmacht« (Fritz Fischer) den Ersten Weltkrieg vom Zaun gebrochen und schließlich in einem zweiten Anlauf unter Hitler die Welt physisch und moralisch in Trümmer gelegt.
Was Preußen und das Deutschland bis zum Ersten Weltkrieg betrifft, so sind diese Behauptungen im Einzelnen alle längst ge­schichtswissenschaftlich widerlegt. Erst C. aber hat so etwas wie eine alternative Gesamtdeutung vorgeschlagen. Ihm zufolge war Preußen keineswegs ein Ausreißer in der europäischen Geschichte, sondern ein Staat mit einer spezifischen, aber nicht untypischen Entwicklung innerhalb des europäischen Konzerts, dessen angeblicher Militarismus bloß der jeweiligen Zeittendenz entsprochen und der im 18. Jh. einen moderat aufgeklärten Etatismus ausgebildet habe. Der daran anknüpfende preußische »Staatssozialismus« des 19. Jh.s wiederum sei ein durchaus zukunftsfähiges Konzept gewesen. Dessen letztendliches Scheitern sei alles andere als zwangsläufig gewesen und habe auch wenig mit einseitiger preußisch-deutscher Aggression, sondern viel mit gesamteuropäischem Versagen zu tun; Kaiser Wilhelm II., der angeblichen »Nemesis der Weltgeschichte« (John Röhl), attestiert C. bei aller persönlichen Unzulänglichkeit und diplomatischen Ungeschicklichkeit den aufrichtigen Willen, den europäischen Frieden zu wahren. Die Selbstzerstörung Europas im Ersten Weltkrieg war daher in den Augen C.s tatsächlich eine Selbstzerstörung, bei der die Verantwortung relativ gleichmäßig zu verteilen sei.
Auch in seinem neuesten Buch, das sich dem Verhältnis von Zeit und Macht bzw. den Geschichtsbildern des Großen Kurfürsten, Friedrichs II., Bismarcks und der Nationalsozialisten widmet, legt C. Wert darauf, dass er mit der Reihe der Untersuchungsgegenstände keineswegs eine Kontinuität andeuten, sondern im Gegenteil auf die Brüche und wesentlichen Unterschiede abheben wolle. Zudem seien die gewählten preußischen bzw. deutschen Machthaber mit ihren Vorstellungen von Geschichte und ihrem Verhältnis zur politischen Macht und Machbarkeit keine Solitäre, sondern jeweils mehr oder weniger typische Exponenten ihrer Zeit. Das gelte sowohl für den Großen Kurfürsten mit seiner vornehmlich in die Zukunft und die verschiedenen Handlungsoptionen gerichteten »Geschichtsmaschine« als auch für den »Philosophenkönig« Fried rich II., dem die Geschichte im Grunde nicht viel mehr als eine Sammlung von positiven wie negativen Beispielen für eigenes Handeln gewesen sei. Es gelte aber auch für Bismarck, der im Zeitalter des historistischen Denkens geschichtliche Prozesse für unabwendbar gehalten und dem Politiker lediglich die Aufgabe zugewiesen habe, »Steuermann im Strom der Zeit« zu sein, und im Prinzip gelte es auch für die Nationalsozialisten, die allerdings mit ihrem »nichtlinearen« (228) völkisch-rassischen Denken dem »li­nearen« historischen Denken eine besonders radikale Absage erteilt hätten.
C. referiert dies alles ebenso kenntnisreich wie an der historischen Forschung orientiert, wenn auch – wie er selbst erklärt – nicht ohne erkenntnisleitendes Gegenwartsinteresse. Die aktuelle Situation nämlich, so C., sei nicht nur von den mit Wirtschaftskrise, Migrationskrise, Brexit etc. verbundenen Turbulenzen geprägt, sondern – im Grunde eine Ebene tiefer liegend – von der großen Verunsicherung nach dem Scheitern der Modernisierungsthese und dem historischen Fortschrittsdenken überhaupt. Davon sei eben nicht nur die marxistische Linke betroffen, deren Hoffnung auf den kommunistischen Endzustand sich durch den Zusammenbruch der Sowjetunion als (unfassbar blutige) Illusion herausgestellt habe, sondern auch die offenbar von ihr in einer »Ko-Ab­hängigkeit« (243) befindliche liberale Demokratie. Die habe sich nicht nur nicht global durchsetzen können, sondern produziere derzeit faktisch eine Krise nach der anderen und sei kaum noch in der Lage, »glaubwürdige Zukunftsvisionen hervorzubringen« (244).
Überraschenderweise kommt Wilhelm II. in C.s Buch kaum vor. Dabei drängt sich bei der Lektüre nicht nur der Eindruck auf, dass die Verunsicherung der Gegenwart gewisse Parallelen zu der Verunsicherung nach dem Ersten Weltkrieg aufweist. Sondern es scheint, als böte das wilhelminische Deutschland durchaus Ansätze für eine konstruktive Antwort auf das, was C. an Bismarcks Geschichtsdenken als aporetisch kritisiert. Bismarck nämlich, so C., habe zwar die Geschichte als eine im Prinzip unaufhaltsame Entwicklung betrachtet, habe es aber versäumt, der historischen Bewegung ein Ziel zuzuschreiben. Stattdessen habe er den (monarchischen) Staat als mehr oder weniger überhistorische Größe betrachtet, die allein Kontinuität und Ordnung inmitten des ge­schichtlichen Wandels garantieren könne. Aus dieser »übersteigerten Auffassung des Staates« (179) wiederum erkläre sich erst die fundamentale Krise des historischen Fortschrittsdenkens durch die Niederlage und den Zusammenbruch des Staates von 1918.
Wilhelm II. wiederum, so haben neben C. in den letzten Jahren mit zum Teil sehr unterschiedlicher Akzentsetzung auch Frank-Lothar Kroll, Martin Kohlrausch, Eberhard Straub und andere gezeigt, verfolgte – wie unzureichend auch immer – ein Konzept, in dem Fortschrittsdenken und anthropologische Konstanz bzw. Moderne und Tradition (und sogar Staat und »Zivilgesellschaft«) zu einem Ausgleich gebracht werden sollten. Erst nach dem praktisch-politischen Scheitern dieses Versuchs, so könnte man argumentieren, konnte die »Krise des Historismus« (Ernst Troeltsch) voll durchschlagen und erschien es plausibel, die Geschichte als solche in Bausch und Bogen als sinnlos abzulehnen wie etwa Paul Valéry oder Theodor Lessing und auf den archaischen, im Mythos statt in der Geschichte lebenden Menschen zu setzen, wie es laut C. die Faschisten und vor allem die Nationalsozialisten taten.
Eine Adaption des wilhelminischen Ausgleichskonzepts schlägt C. allerdings nicht vor. Stattdessen richtet er gewisse, wenn auch nicht besonders große Hoffnungen auf Macrons Vorstellung von einem wirtschaftlich prosperierenden und dabei offensiv transnationalen Europa – und damit auf eine Art letzten Versuch, das liberal-demokratische Fortschrittsdenken doch noch zu retten und den »europäischen ›Motor‹ neu zu starten« (246). Dabei deutet er selbst auch an, dass er eigentlich eher glaubt, dass nach dem Scheitern von Faschismus, Kommunismus und liberaler Demokratie das politische Denken, auch in Bezug auf das Verhältnis von Zeit und Macht, wieder in derselben Situation angekommen ist wie 1918. Man ist versucht, hier zu widersprechen: nicht 1918, sondern ein paar Jahre davor.