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Ausgabe:

Oktober/2019

Spalte:

991–993

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Lundbom, Jack R., Evans, Craig A., and Bradford A. Anderson [Eds.]

Titel/Untertitel:

The Book of Jeremiah. Composition, Reception, and Interpretation.

Verlag:

Leiden u. a.: Brill 2018. XIX, 545 S. = Vetus Testamentum. Supplements, 178. Geb. EUR 154,00. ISBN 978-90-04-37326-6.

Rezensent:

Hermann-Josef Stipp

Der Band vereinigt 24 erstmals veröffentlichte Aufsätze und soll von seiner Anlage her eine Leserschaft von fortgeschrittenen Studenten an aufwärts an ein breites Spektrum aktueller Fragestellungen der Forschung am Jeremiabuch (Jer) heranführen. »The purpose of the FIOTL series is to explore the prehistory, contents, and themes of the books of the Old Testament/Hebrew Bible, along with their transmission and reception in Jewish and Christian tradition« (»Preface«, IX). Diesem programmatischen Zitat zufolge stehen dabei methodisch im Grundsatz Verfahren der klassischen historisch-kritischen Exegese im Vordergrund, nicht unterschiedliche Hermeneutiken. Die Autoren reichen von Doktoranden bis hin zu etablierten Jeremia-Spezialisten. Jedem Aufsatz ist eine »Select Bibliography« beigegeben, die die Vertiefung der behandelten Themen erleichtert.
Der Band ist in vier Teile gegliedert. »Part I: General Topics« wird eröffnet von Mark Leuchter, der in einem recht fantasievollen Beitrag präzisieren möchte, welche neue Qualität die Offenbarung in Jer per Schriftform angenommen habe: »The book […] is not a textual archive but a surrogate sanctuary« (22). Damit antworte das Buch auf Bedürfnisse der Exilanten: »Entering sacred sanctuary space was replaced by an entry into the texts« (23). Marvin Sweeney profiliert die Besonderheiten von Jer gegenüber den übrigen Prophetenbüchern und damit die innere Pluralität des Prophetenkanons als Beispiel für den dialogischen Charakter der biblischen Literatur überhaupt. Georg Fischer hebt gegenüber der gängigen Charakterisierung Jeremias als »der Prophet wie Mose« die Unterschiede in der Stilisierung der beiden Figuren hervor.
In »Part II: Issues in Interpretation« gibt Jeffrey R. Zorn zunächst einen Abriss der Resultate der Ausgrabungen in Mizpa (Tell en-Naṣbe), originell präsentiert als Rundgang Jeremias durch die Stadt, deren Reste aus dem 6. Jh. deutlich ihre Funktion als babylonisches Verwaltungszentrum erkennen lassen, wie auch in Jer gespiegelt. Bob Becking prüft die Erwähnungen Davids in Jer auf messianische Konnotationen und resümiert: »David is presented as a future prince of peace […] Although this concept later gave rise to a messianic interpretation of King David, the book of Jeremiah cannot be seen as a messianic text.« (111) Samuel E. Balentine untersucht den Gebrauch von Sprichwörtern in Jer und findet darin eine Kernaussage über die göttliche Innenwelt mit wichtigen Konsequenzen für die menschliche Urteilsbildung in Moralfragen: »The infinity of God’s wisdom may be beyond human reach, but God’s way of reasoning is not. As God reasons from X to Y, so too may humans figure out what is right and proper to do by extracting moral truths from available evidence.« (124) Catherine Sze Wing So unterbreitet einen neuen Vorschlag für das dornige Problem der Streuung und Abfolge der sogenannten Konfessionen: »There is […] a clear progression from accusing first a group of the wicked, then all the people, and finally God.« (147) Um das Verständnis der Verheißung des Neuen Bundes in Jer 31,31–34 zu fördern, möchte Magnar Kartveit die semantische Bestimmung des Schlüsselterminus תירב (herkömmlich: »Bund«) präzisieren, mit dem Ergebnis: »›decision,‹ and the presentation of a decision, ›decree,‹ ›proclama-tion,‹ or similar senses« (168), wobei er zu Recht den vorläufigen Charakter seines Beitrags unterstreicht. Für Amanda R. Morrow und John F. Quant ist die Perikope vom Neuen Bund von Dtn 30,1–10 angeregt und schreibt dieses Vorbild theologisch fort: »Deutero-nomy 30:1–10 declares the obsolescence of Deuteronomy itself in the face of human failure and the need for YHWH to ›circumcise hearts.‹ Jeremiah 31:31–34 […] draws upon this concept and makes it explicit: YHWH will need to make yet another new covenant and make changes to human hearts.« (189 f.) Herbert B. Huffmon porträtiert die Rechabiter in Jer 35 und der israelitischen Geschichte. Jack R. Lundbom katalogisiert die rhetorischen Stilmittel in den Fremdvölkersprüchen Jer 46–51 und analysiert ausgewählte Beispiele. Paul R. Raabe entnimmt demselben Korpus zu YHWHs Plänen mit den Fremdvölkern: »The God of Israel is destroying the self-security, the self-orientation, the self-focus, the self-determina-tion, and the self-complacency of foreign nations.« (249) Für die Empfänger von Heilsverheißungen unter den Völkern gelte ferner: »He is changing the future for the better, to the benefit of Israel and to the benefit of the foreign nations.« (251)
Enthalten die übrigen Teile des Bandes durchweg monographische Arbeiten, bietet »Part 3: Textual Transmission and Reception History« vor allem Überblicksartikel. Anders noch Andrew G. Shead, der die These seiner Dissertation – wenngleich abgeschwächt – verteidigt, die Vorlage von JerG* habe umfangreiche Textverluste durch Parablepsis erlitten. Armin Lange bietet eine nützliche Übersicht zu den Jer-Manuskripten aus Qumran. Craig A. Evans fasst die Rezeption des Jer im Neuen Testament zusammen, wo insbesondere gelte: »Jeremiah’s prophecy of a ›new covenant‹ played a key role in Jesus’ understanding of his mission and his death.« (318) Robert Hayward charakterisiert den Targum zu Jer, Gillian Greenberg die Peschitta, David L. Everson die lateinischen Übersetzungen Vetus Latina und Vulgata. Weitere Referate behandeln die antike und mittelalterliche Rezeptionsgeschichte: Sean A. Adams skizziert die Jeremia-Überlieferungen in der außerbiblischen antiken Literatur der Juden und Christen, Michael Avioz resümiert das Echo Jeremias und seines Buches bei Flavius Josephus, und Joy A. Schroe-der stellt mittelalterliche christliche Interpretationen des Werkes vor, die durch Publikationen zugänglich sind.
»Part 4: Jeremiah and Theology« kehrt zum monographischen Modus zurück. Aufbauend auf unveröffentlichten Vortragsmanuskripten von James Muilenburg zur Bundesmittlerschaft Moses aus den 1960er Jahren, entfaltet Jack R. Lundbom die These, »that Jeremiah, who understood himself as ›the prophet like Moses‹ (Deut 18:15–18), became mediator of the covenant during the final days of Israelite nationhood« (437), wobei Lundbom unter dieser Funktion praktisch alle Formen von Mittlerschaft zwischen JHWH und den Menschen subsumiert, die er Jeremia zuschreibt. Ob die Exegetenzunft freilich nochmals zu einem derart konturierten Bild vom Selbstverständnis des historischen Propheten und von der Rolle der Bundestheologie in seiner Verkündigung zurückkehren wird, bleibt abzuwarten. In einer Studie zum Gottesbild des Jer betont Terence E. Fretheim, dass das Buch Gott in zeitlichen Kategorien imaginiert, nicht zeitlos oder außerzeitlich. Ist dies jedoch im Alten Testament ein Spezifikum des Jer? In theologischer Deutung besage der Befund: »God has so bound himself in relationship to the world that God and world move through time together. For God to so relate to the world and its time is an act of divine self-limitation for the sake of a genuine relationship.« (473) Diese systematisch-theologische Aussage überschreitet das Alte Testament, denn sie setzt voraus, dass man eine extratemporale Seinsweise denken kann. Nach diesem Blick auf die zeitlichen Dimensionen in der Beschreibung des Gotteshandelns in Jer widmet sich David J. Reimer den örtlichen: »God’s ›how‹ for the life of his people has a counterpart not only in a ›when‹ but also in a ›where.‹« (496)
Autoren- und Stellenregister beschließen den Band, der seinen Platz in der Jeremiaforschung finden wird.