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Ausgabe:

September/2019

Spalte:

954–955

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Arnold, Jochen, u. Adél Dávid [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Europäischer Gottesdienstatlas / European Atlas of Liturgy. Protestantische Perspektiven auf den Gottesdienst / Protestant Perspectives on Worship Services. Hrsg. im Auftrag der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2018. 374 S. Kart. EUR 25,00. ISBN 978-3-374-05663-7.

Rezensent:

Michael Meyer-Blanck

Zur »GEKE«, der aus der »Leuenberger Konkordie« von 1973 hervorgegangenen »Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa«, gehören zurzeit 105 evangelische Kirchen, darunter die deutschen und schweizer Landeskirchen und außerdem Kirchen aus fast allen Ländern Europas. Es ist aufgrund der verschiedenen liturgiegeschichtlichen Traditionen ein lohnendes Unterfangen, für ein we­nig mehr Informationsfluss in liturgicis u. a. zwischen England, Italien, Zentral- und Osteuropa zu sorgen – zumal sich die GEKE primär als gottesdienstliche Gemeinschaft versteht (5). Der Untertitel des Buches gibt präzise an, was man von ihm erwarten kann: verschiedene Perspektiven, liturgische Schlaglichter aus dem Leben der GEKE-Kirchen. Der Obertitel »Atlas« ist hingegen etwas übertrieben – hier würde man mit genauen Daten, Aufstellungen und Verzeichnissen der geltenden Agenden (bzw. der historischen Agendentraditionen) rechnen. Von alledem findet sich in dem Band leider nichts – und selbst ein Verzeichnis der Autorinnen und Autoren sucht man vergeblich.
Es handelt sich also um einen Aufsatzband mit recht verschieden gearteten Beiträgen zum evangelischen Gottesdienst in Europa. Der Umfang der Texte liegt zwischen unter zehn Seiten (»Multilingual Services« in Italien, William Jourdan, 110–117) bis zu 40 Seiten (»Participative Worship. Good practices in the Church of Scotland«, Phill Mellstrom, 131–170 – hier geht es besonders um die politisch-ethischen Kontexte der Liturgie [134] sowie um vier Gottesdienststile mit den verschiedenen Schwerpunkten 1. Wort, 2. Emotion, 3. Symbol, 4. Aktion [137–140]).
Im ersten Teil des Buches (37–201) sind eher grundsätzliche Beiträge gesammelt (außer den genannten beiden noch zehn weitere, u. a. über die lutherische, reformierte und methodistische Sichtweise von Liturgie, über Gottesdienstqualität, das Neue Geistliche Lied sowie lokale Berichte aus dem Kanton Waadt, aus der Badischen Landeskirche, aus England, Estland und aus Österreich); dabei wird allerdings nicht recht deutlich, warum gerade diese Länder bzw. Regionen ausgesucht wurden. Die lokalen und die sachlichen Darstellungsperspektiven verbinden sich und überlagern einander. Vielleicht hätte es geholfen, diesen »Fundamental Reflections/Grundsätzliche[n] Überlegungen« durch die Vorgabe eines Schemas etwas mehr Struktur zu geben.
Im zweiten Teil des Buches (»Examples of good practice/Beispiele guter Praxis«, 205–374) stört die Buntheit dagegen nicht, da man hier gerne die verschiedenen Impulse zur Kenntnis nimmt; anders als im ersten Teil, der durchweg in Englisch geboten wird, erscheinen hier fast alle Beiträge sowohl in deutscher als auch in englischer Sprache, damit beim Lesen möglichst die Originalsprache der gefeierten Gottesdienste anklingt. Dabei ist die Abgrenzung zwischen den Grundsatzbeiträgen im ersten und den Praxisberichten im zweiten Teil fließend.
Der kundige Leser erfährt eine Menge interessanter Einzelheiten, von denen hier nur wenige erwähnt werden können. Holger Eschmann zeigt für die evangelisch-methodistische Kirche, dass sich diese zunächst nicht als liturgische Bewegung profilierte, sondern ganz auf Wort und Diakonie setzte (65), dafür aber in der Gegenwart umso aktiver in Sachen Liturgie und Agende ist (72). Olivier Favroud berichtet aus dem Schweizer Kanton Waadt von dem auch dort zu spürenden Traditionsabbruch: »Christian cul-ture is being lost, Christian references are becoming rarer and rarer among the younger generations.« (86) Ulrike Beichert und Monika Hautzinger schildern lokale Gottesdienstprojekte mit einem »mi­lieusensiblen« Angebot (93.95 ff.) und Stephan Goldschmidt erinnert mit einer Studie der »Liturgischen Konferenz« in der EKD an die Einsicht, dass der gottesdienstliche Gemeindegesang in einem weitaus besseren Zustand ist, als es das übliche »stereotype Lamento« vermuten lässt (101), und verweist zudem auf den anheben-den Entstehungsprozess des neuen »Ev. Gesangbuchs« in der EKD (108 f.). Einen ghanaisch-italienischen bilingualen Gottesdienst schildert William Jourdan (112–116) und Katrin Kusmierz berichtet von einer erneuerten evangelisch-reformierten Gebetspraxis beim Abendmahl mit Epiklese und Anamnese (121.126 f.), während Sam Richards und Simon Peters aus der Vereinigten Reformierten Kirche in England (URC) von dem Ringen um eine generationenübergreifende Liturgie erzählen (173–175).
Besonders interessant ist der liturgisch-agendarische Länderbericht von Kaido Soom aus Estland, weil dieser Bericht die verschiedenen liturgischen Einflüsse in der wechselvollen estnischen Ge­schichte lebendig werden lässt (180–190). Ähnlich verfährt Hannelore Reiner für die Österreichische Evangelische Kirche Augsburgischen und Helvetischen Bekenntnisses (191–201); hier erinnert man sich erneut an die Vergangenheit der evangelischen Christen in Österreich als Untergrundkirche in den Jahren 1627–1781 bis zum Toleranzedikt Josephs II. (192 f.), die Darstellung reicht dann aber bis hin zu den jüngsten Entwicklungen im 20. und 21. Jh. Nach meinem Geschmack wären noch mehrere Länderberichte dieser Art historisch-genetischer Liturgiebetrachtung hilfreich gewesen.
Um über die Fülle der zehn Praxisberichte im zweiten Teil eingehender Auskunft geben zu können, ist an dieser Stelle kein Raum mehr. Alles in allem liegt mit dem »Europäischen Gottesdienstatlas« ein bunter Bilderbogen evangelischer liturgischer Erfahrungen und Aufbrüche vor. Man hätte sich etwas mehr Einheitlichkeit und Übersichtlichkeit wünschen können; gewiss aber ist die Selbstbeschreibung im Vorwort der Herausgeber des Bandes zu­treffend: Dieser »vereint den Blick auf die Vielfalt mit den neuen Impulsen, die in den Kirchen entwickelt und erprobt werden« (7) .