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Ausgabe:

September/2019

Spalte:

950–952

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Rohr, Winfried [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Liebe – eine Tugend? Das Dilemma der modernen Ethik und der verdrängte Status der Liebe.

Verlag:

Wiesbaden: Springer VS Verlag für Sozialwissenschaften 2018. IX, 364 S. Kart. EUR 59,99. ISBN 978-3-658-17873-4.

Rezensent:

Jochen Schmidt

Der Band setzt, so verdeutlicht der Herausgeber in seiner Einleitung (1–12), bei der durch Stocker diagnostizierten, häufig apostrophierten »Schizophrenie der modernen Moralphilosophie« ein: moderne Moralphilosophie, so lautet diese Diagnose, erhebe normative Forderungen, von denen nicht erkennbar werde, wie sie in die motivationale Struktur des Subjekts eingehen können bzw. mit dieser vermittelt werden sollen. Tugendethik verspricht hier – vermeintlich – einen Ausweg; sie stößt jedoch ihrerseits an Grenzen, eigentlich an dieselbe Grenze wie die ›moderne Moralphilosophie‹: Im Anschluss an Christoph Halbig diagnostiziert Winfried Rohr eine »Schizophrenie der Tugendethik« (6), die darin bestehe, dass der Begriff der Tugend entweder selbst mit einem Anspruch auf Normativität auftrete, mithin das zu lösende Problem reproduziere, oder diese Frage vernachlässige.
An die Caritas als Tugend, der sich die Beiträge des Bandes nun widmen, richtet sich die Hoffnung, dass sich in ihrem Horizont eine sinnvolle Zusammengehörigkeit von Pflicht und Bedürfnis finden lasse (9). In diesem Horizont diskutieren die Beiträge des Bandes die Potentiale einer tugendethischen Neubesinnung auf die Liebe; zugeordnet sind die Beiträge den drei Teilen »Einführung in die Fragestellung« (I), »Liebe als Fundament einer Tugendethik« (II) und »Liebe als Tugend in der Moderne – Grenze, Vorstoß und Bedingung« (III). Exemplarisch seien im Folgenden einzelne Beiträge vorgestellt.
Dass es sich bei der Besinnung auf die Liebe als Tugend um ein Desiderat der Forschung handelt, verdeutlicht vor allem der Beitrag von Kathi Beier »Ein Mangel an Liebe? Die Konzepte der Fürsorge und des Naheseins in der modernen Tugendethik« (103–125). Beier diskutiert die prominenten tugendethischen Entwürfe von Alistair MacIntyre und Christine Swanton mit Blick auf die Frage, welche Beachtung das Thema Liebe jeweils findet, v. a. inwieweit Liebe selbst als Tugend entwickelt wird. Dies, so diagnostiziert sie, ist letztlich nicht der Fall: MacIntyre erwähnt die christliche Caritas, aber er tut dies in einem stark apologetischen Gestus, i. e. geleitet von dem Bestreben sicherzustellen, dass sein Gedanke nicht von einer theologischen Deutung von Tugend abhängig ist. Auf der anderen Seite, so Beier, scheint MacIntyres Tugendethik »offenkundig die Luft der Liebe zu atmen« (115): Er setzt, wenn er der Zuwendung und der Fürsorge eine zentrale Stellung im Zusammenhang der Aneignung und Ausübung der Tugenden zuweist, Liebe immer schon voraus, ohne jedoch Liebe je zu definieren oder zu erläutern, was der Grund dieser von ihm vorausgesetzten Liebe sein könnte (116). Letztlich ähnlich verhält es sich bei Christine Swanton: Bei Swanton, die Beiers Darstellung zufolge ihre Gedanken eher andeutet denn ausführt, wird Liebe definiert als »moralische Reaktion oder Erwiderung auf die Bindungen, die jeder von uns zu bestimmten anderen Menschen hat« (121). Aus dieser »zaghaften« Definition von Liebe werden jedoch keine systematischen Überlegungen zum Status der Liebe als Tugend entwickelt. So bleibt nur das negative Ergebnis, dass eine systematische Beschreibung von Liebe als Tugend ein Desiderat darstellt.
Während eine Vielzahl der Beiträge des Bandes sich an dem Begriff bzw. dem Konzept Tugend abarbeitet, findet sich in Stephan Herzbergs Beitrag »Moralität im Licht der caritas. Über die Liebe als Höchstform des Wohlwollens« (169–182) eine über den Horizont des Begriffs Tugend hinausweisende grundsätzliche Betrachtung des Verhältnisses von Liebe und Moral, die sich eng an Josef Pieper, Axel Honneth und David Vellemann anschließt. Ziel der Betrachtung ist die Beschreibung von Liebe als einer besonderen Form der moralischen Beziehung. Liebe, so Herzberg im Anschluss an Josef Pieper, ist eine Form des Gutheißens, das die Existenz des geliebten Menschen bejaht und will, nicht ohne Gründe, aber zugleich nicht durch Gründe genötigt, sondern kraft eines spontanen Akts. Während diese Eigenschaften auch Formen des Wollens, bei denen es sich nicht um Liebe handelt, zuzusprechen wären, hat die Liebe darin ihre Eigenart, dass sie sich auf die Einzigartigkeit der anderen Person richtet:
»In der Liebe verläuft also der Weg der Erkenntnis vom Allgemeinen zum Besonderen, während es sich in der ›Welterkenntnis‹ genau umgekehrt verhält. Die Liebe ist, so könnte man sagen, eine konkrete Anschauung dessen, was in der Moral allgemein-begrifflich zugänglich ist: In der Liebe wird an einem konkreten Menschen erfahren, was jeder Mensch als solcher ist: eine einmalige Person. Und darüber hinaus: es wird erfahren, was es heißt, auf eine konkrete unüberwindbar singuläre Weise, eine Person zu sein.« (182) Dem kann der Rezensent nur nachdrücklich zustimmen.
In seinem Beitrag »Demut und Großgesinntheit. Apologie zweier schwieriger Tugenden« (335–356) plädiert Christoph Halbig für eine Rehabilitation jener beiden Tugenden, deren augenscheinliche Widersprüchlichkeit oft als Beispiel für die Kulturgebundenheit von Tugenden aufgeführt wird. Nicht nur handelt es sich bei Demut und Großgesinntheit um personale Eigenschaften, die sich als kohärente Charaktermerkmale beschreiben lassen und die als Tugenden gelten können, sie schließen einander überdies auch nicht aus, mehr noch, sie bedingen einander. Demut und Selbstachtung sind Aspekte einer einzigen Einstellung, nämlich jener, in der die moralische Person sich selbst als würdevoll erkennt, trotz ihres Scheiterns an vernünftigerweise zu erhebenden moralischen Maßstäben. Demut ohne Großgesinntheit macht den Menschen nieder und lähmt, Großgesinntheit ohne Demut führt dazu, dass Selbstzufriedenheit die Empfänglichkeit des Menschen für den moralischen Anspruch, dem er sich zu stellen hat, beschädigt (352 f.). Der Erwerb dieser notwendigerweise in Verbindung zu suchenden Tugenden ist komplex, denn sie können nicht intentione recta intendiert werden, d. h. nicht die Großgesinntheit oder Demut selbst, sondern allein die angemessene Reaktion auf den eigenen Wert kann als erstrebenswertes Ziel gelten, so Halbig mit Verweis auf v. Bredow.
Insgesamt stellt der Band einen wichtigen Impuls zur tugend-ethischen Grundlagenforschung dar. Bislang noch nicht hinreichend beachtete Potentiale der Tugendethik für die Theologie kommen im Rahmen des ertragreichen Bemühens, Liebe als Tu­gend (besser) zu verstehen, zur Geltung. Die Fokussierung auf überwiegend katholische Stimmen und Positionen ist mit Blick auf die Diskussionslage in der Forschung nachvollziehbar; dem Band ist zu wünschen, dass er auch über die Grenzen der katho-lischen Theologie hinaus Resonanz findet – Potentiale zu einer Weitung des mit dem Band angestoßenen Gesprächs gibt es ge­wiss.