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Ausgabe:

September/2019

Spalte:

943–945

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Claaßen, Andrea

Titel/Untertitel:

Gewaltfreiheit und ihre Grenzen. Die friedensethische Debatte in Pax Christi vor dem Hintergrund des Bosnienkrieges.

Verlag:

Münster: Aschendorff Verlag; Baden-Baden: Nomos Verlag 2019. 483 S. = Studien zur Friedensethik, 64. Geb. EUR 79,00. ISBN 978-3-402-11710-1 (Aschendorff); EUR 84,00. 978-3-8487-5479-3 (Nomos).

Rezensent:

Ewald Stübinger

Die aus einer Dissertation an der katholisch-theologischen Fakultät der Universität Münster hervorgegangene Studie von Andrea Claaßen befasst sich mit der Kontroverse in der deutschen Sektion der katholischen Friedensbewegung Pax Christi über Gewaltfreiheit auf dem Hintergrund des Krieges in Bosnien-Herzegowina. Trotz dieser eingegrenzten Thematik kann die Studie als exemplarisch für die ethisch geführten Friedensdiskussionen seit 1990 gelten.
Anhand der diskursanalytischen Methode, in der die Akteure im Zentrum stehen, werden die drei Bereiche der Sach-, Identitäts- und Machtebene in historischer, chronologischer und systematischer Perspektive behandelt. Auslöser der Kontroverse waren die ethnischen Säuberungen in Srebrenica (und Zepa) im Jahr 1995 durch serbische Einheiten und die militärische Reaktion der NATO. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sich Pax Christi nur für »klassische« – rein gewaltfreie (»nicht-robuste«) – Blauhelmmissionen der UN ausgesprochen. Als im Jahr 1995 Papst Johannes Paul II. die Militärintervention der NATO gegen Serbien im Bosnienkrieg als »gerechten (Verteidigungs-)Krieg« einstufte und der Generalsekretär (J. Garstecki) sowie der geschäftsführende Vorstand von Pax Christi – also die Führungsebene – ohne Rücksprache mit der Generalversammlung für die Militärintervention der NATO öffentlich votierten, führte dies zu einer Kontroverse über die Befugnisse der Führungsebene (»Machtebene«) sowie über das Selbstverständnis der Organisation (strikt pazifistisch oder intern pluralistisch?, »Identitätsebene«). Inhaltlicher Hauptstreitpunkt (»Sachebene«) war die Frage, ob Gewaltfreiheit als »vorrangige Option« oder als absolutes, »deontologisches Prinzip« zu verstehen sei.
Ethisch-theologisch argumentierte die Führungsebene mit einem Zielkonflikt zwischen der Position der Gewaltfreiheit (als »Regelfall« und als Ziel) und dem Einsatz für Menschenrechte bzw. für den Schutz von unschuldigen Opfern. Statt ohnmächtigem Zusehen müsse man – mit D. Bonhoeffer – als ultima ratio und Grenzfall »dem Rad selbst in die Speichen greifen« (118). Zwar schaffe man damit keinen Frieden, aber es würde zumindest die Gewalt unterbrochen, was wiederum Bedingung sei, um Wege zum Frieden zu finden. Mit Bezug auf das Neue Testament wird die Verpflichtung zum Beistand für den Menschen – besonders für den in Not geratenen – als Ausdruck des Liebesgebots betont (179 ff.). Der Gewaltverzicht Jesu sei eine Folge davon und nicht dessen ausnahmslose Bedingung. Auch wenn Gewaltanwendung Opfer fordere, sei dies beim Verzicht darauf nicht anders, was folglich in jedem Fall in ein »schuldbeladenes« Dilemma führe. Im Hintergrund steht hier die strittige ethische Frage, ob es einen qualita-t iven Unterschied zwischen einem aktiven Handeln und einem passiven Geschehenlassen gibt, was die Führungsebene faktisch verneinte. Dem entspricht ein »Situationspazifismus«, der tele­o-logisch bzw. in Teilen pragmatisch-utilitaristisch argumentiert (436 ff.).
Demgegenüber steht die Gegenseite für einen prinzipiellen bzw. unbedingten Pazifismus mit einer deontologischen Argumentationsfigur. Diese erachtet Gewaltfreiheit und das Erstreben eines »gerechten Friedens« für das übergeordnete Prinzip, das durch die Erlaubnis von militärischen Mitteln konterkariert würde (112 ff.). Auch hält sie die Folgen militärischer Zwangsmaßnahmen weder für abschätzbar noch für kontrollierbar. Die Gewaltfreiheit Jesu als Quintessenz des Liebesgebots erlaube keine »Grenzfälle« (179 ff.). Während die Mehrheit der Pax-Christi-Vertreter militärische Mittel per se als ungeeignet zur Konfliktregulierung betrachtet, wird diesen von der Gegenseite ein bedingtes ordnendes und gewaltunterbrechendes Potential nicht a priori abgesprochen (113 ff.). Auch in politischer Hinsicht halten die Kritiker die Einmischung der NATO wegen ihrer Nichtneutralität (gegenüber Serbien) für ungeeignet, um einen »gerechten Frieden« zu erreichen, während die Führungsebene hier keinen unüberwindbaren Gegensatz sieht (90 ff.).
Durch die »Hübinger Erklärung« von 1996 sollte der Streit einer Lösung zugeführt werden (423 ff.). Darin spricht sich die große Mehrheit von Pax Christi weiterhin zugunsten eines uneingeschränkten Pazifismus aus, nicht zuletzt aus Sorge, ihr bisheriges eindeutiges Selbstverständnis zu verwässern. C. sieht darin jedoch weder einen Konsens noch einen Kompromiss, da die »Minderheit« de facto nicht repräsentiert sei (440). Mit dem Aufflammen des Kosovokonflikts und der Militärintervention der NATO im Jahr 1999 wiederholte sich die kontroverse Einschätzung innerhalb von Pax Christi, so dass sich »Hübingen« als »fauler Kompromiss« (450) erwiesen habe. Schließlich trat Garstecki im Jahr 2000 zurück. C., die ihre Sympathie für die »Minderheit« nicht verhehlt, beklagt eine mangelnde Diskurskultur, zu wenig Verständnis für die je­weilige Gegenseite sowie die Nichtzulassung von Pluralismus in­nerhalb von Pax Christi, was auf die (katholische) Kirche insgesamt zutreffe (455 ff.). Als Basis für eine konstruktive Konfliktkultur wird der Konsens beider Seiten über die (langfristige) Überwindung von Gewalt und Krieg, die Schaffung eines gerechten Friedens sowie die Institutionalisierung entsprechender internationaler rechtlicher und praktischer Maßnahmen erachtet.
Das Buch bietet umfangreiche Detailanalysen der Kontroversen um die Gewaltfreiheit bei Pax Christi der Jahre 1995–1997. Dabei zeigen sich bei beiden Positionen typische Dilemmasituationen. Während ein uneingeschränkter Pazifismus sich dem Verdacht aussetzt, gegenüber bereits ausgebrochener Gewalt theoretisch kriterienlos und praktisch ohnmächtig zu sein, könnte die Legitimation von militärischen Mitteln als »Grenzfall«, um noch mehr Opfer zu verhindern, theoretisch zu einer faktischen Restitution der Lehre vom »gerechten Krieg« und praktisch zu einer immer weiteren Vorverlegung militärischer Mittel (zeitlich wie strategisch) zur Konfliktlösung (»präemptiv«) führen. Auf empirischer Ebene (welche der beiden Positionen führt zu weniger Opfern?) ist dieses Dilemma kaum auflösbar, da nicht beide Positionen gleichzei-tig realisiert werden können. Betrachtet man das internationale (UN-)Recht als »eine Konsequenz des christlichen Glaubens« (W. Lienemann), das es fortzuschreiben gilt, dann wäre es möglicherweise denkbar, dass bei ausgebrochenen Kriegen die Kriterien des »ge­rechten Krieges« sukzessive in säkulares internationales Recht überführt (was zum Teil bereits geschehen ist) und parallel dazu kontinuierlich verschärft werden, was schließlich dazu führen könnte, dass die Frage der Legitimation von Krieg »aufgehoben« wird zugunsten der Suche nach Wegen zu einem »gerechten Frieden« (und dem Benennen der Defizite des Status quo). Institutionell entspräche dem am ehesten eine politisch möglichst neutrale, internationale »Polizeigewalt« auf UN-Ebene mit primär deeskalierenden und zeitlich begrenzten Eingriffen. Statt sich an der Frage der Legitimität von militärischen Mitteln »festzubeißen«, würde man sich auf das ethische Ziel (und die dafür erforderlichen Schritte) konzentrieren.
Das Buch von C. bietet nicht nur vielfältige und instruktive Einblicke in die inhaltliche Debatte um Gewaltfreiheit sowie die Diskurskultur bei Pax Christi, sondern auch und gerade Impulse für die allgemeine ethische Diskussion zu dieser Problematik. Die umfangreichen Detailanalysen und die häufigen Wiederholungen und Doppelungen, die dem methodischen Analyseschema ge­schuldet sind, machen die Lektüre allerdings nicht leicht. In ihrer Ausführlichkeit sind diese auch eher für »Insider« relevant. Für einen guten Überblick eignen sich insbesondere die Kapitel II und VI. Im Anhang (459 ff.) findet sich schließlich eine Auflis-tung aller Dokumente zu dieser Auseinandersetzung bei Pax Christi.