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Ausgabe:

September/2019

Spalte:

941–943

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Nusser, Karl-Heinz

Titel/Untertitel:

Der blinde Fleck der Evolutionstheorie. Ansätze zu einem gewandelten Naturverständnis.

Verlag:

Freiburg i. Br.: Verlag Karl Alber 2018. 288 S. Kart. EUR 29,00. ISBN 978-3-495-48957-4.

Rezensent:

Hans-Dieter Mutschler

Alle Welt ist davon überzeugt, dass die Evolutionstheorie auf der ganzen Linie gesiegt hat. Wer nicht davon überzeugt ist, der wird umstandslos in die Ecke der religiösen Fundamentalisten, Neo-vitalisten oder Intelligent Design-Anhängern verfrachtet. Das ist doch vielleicht etwas vorschnell, denn es gibt mehrere Probleme, die der herkömmliche Darwinismus offenlässt, wie z. B. das Entstehen des Lebens, die Frage, ob der Mensch auch nur ein Tier wie andere Tiere ist, oder die Frage, ob manche Lebewesen nicht doch intrinsischen Wert haben, was der Darwinismus bestreitet. Karl-Heinz Nusser stellt solche Fragen, die man in zwei Kategorien einteilen könnte: praktische und theoretische.
Die praktischen Fragen betreffen unseren Naturumgang, der nach N. katastrophal ist, wie wir an pathologisch-grausamen Praktiken wie Massentierhaltung, Tierversuchen oder Artenschwund sehen können, aber auch an der Art, wie wir mit dem menschlichen Leben umgehen. Der Instrumentalisierung der äußeren Natur entspricht die Instrumentalisierung des Menschen bis hin zu Eingriffen in die Keimbahn, die wir kürzlich erleben mussten. Die schrankenlose, kapitalistisch induzierte Instrumentalisierung der äußeren Natur macht vor dem Menschen nicht halt. Die Dramatik, mit der N. die Situation beschreibt, ist wenig übertrieben.
Von einem theoretischen Standpunkt aus beklagt N. die Engführung der Biologie, die das Lebendige nur noch als Verfügungsmasse ansieht und zwar dadurch, dass wir die Evolution nur noch am Leitfaden der Kausalität begreifen, um den Eigenwert des Lebendigen zu ignorieren. Das ist alles gut nachvollziehbar und wurde schon oft beklagt, so bei dem Philosophen Hans Jonas, den N. reichlich zitiert. Als Remedium gegen dieses schlimme Übel, das uns selbst außer Kraft setzen könnte, schlägt N. den Rückgriff auf eine aristotelisch-thomistische (oder neothomistische) Ontologie vor.
Diese Ontologie betrachtet die Natur als ipso facto wertgetränkt (omne ens bonum) und zwar in verschiedenem Maße, je nach Stellung in der scala naturae. Alles in der Natur nimmt teil am Wert und an der Vollkommenheit, die Tiere mehr als die Pflanzen und die Menschen mehr als die Tiere. Es ist das Sein, das sich im Sinn des Neoplatonismus in die Naturreiche von oben herab verströmt und das sich durch die Wesenheiten der Formen spezifiziert, die zu­gleich die Identität im akzidentellen Wechsel der Substanzen garantiert. Das Sein ist, so könnte man weiter sagen, der Platzhalter Gottes in der Natur, so dass es einen direkten Übergang vom esse commune zum ipsum esse subsistens gibt.
Weil die heutige Biologie die Form, als etwas Immaterielles, We­senhaftes ignoriert, entgeht ihr die Ganzheit des Lebendigen und sie muss also daher Lebendige bottom up als Resultat der anorga-nischen Teile rekonstruieren, was nach Nusser niemals gelingen kann. Wir haben also eine vollständige Disjunktion zwischen Materialismus und Theismus: Der Materialismus denkt von den Teilen zum Ganzen und kommt nie dort an, der Theismus setzt die ganzheitliche Schöpferwirksamkeit Gottes als Urprinzip, das via transzendenter Wesensform, die wir auch »Seele« nennen könnten, die Integrität und Ganzheit der Lebewesen garantiert. Wenn wir diese Metaphysik der substanziellen Wesensformen mit ihrem Verweischarakter auf das Sein akzeptieren, dann müssten wir in der Tat ein neues Verhältnis der Achtung vor der Natur gewinnen. Die Frage ist nur, ob wir diese ziemlich starke und voraussetzungsreiche Metaphysik auch begründen können. Das wäre wiederum in zweierlei Hinsicht zu überprüfen, einer praktischen und einer theoretischen.
Dass der Darwinismus keine intrinsischen Werte in der Natur kennt, ist unstrittig. Aber folgt daraus, dass wir ihn als solchen korrigieren müssen, oder könnten wir nicht bescheidener so argumentieren, dass wir den Darwinismus weniger verändern als er­gänzen sollten. Genau das geschieht ja in den Formen nichtanthropozentrischer ökologischer Ethik, die immer mehr Anhänger unter den Philosophen gewinnt. Dort geht man davon aus, dass die Achtung, die wir Menschen schulden, in analoger Weise auch auf die außermenschliche Natur übertragen werden sollte, weil sie nämlich intrinsischen Wert haben. Auf diese Art sind wir aber nicht auf eine (neu-)scholastische Seinslehre verpflichtet. Es dürfte kein Zufall sein, dass bei N. Fragen der ökologischen Ethik überhaupt nicht vorkommen.
Ähnlich ist es mit der Menschenwürde. Diese hat in seiner scala naturae ihren integralen Ort im Rahmen einer traditionellen Naturrechtslehre. Andererseits beruft sich N. gern auf Kant und dessen Begründung der Menschenwürde. Die kommt aber be­kanntlich ohne Seins- und Wesensmetaphysik aus. N. hat schon Recht, wenn er darauf verweist, dass der Begriff der »Menschenwürde« ein metaphysischer Begriff ist, aber bei Kant eben nicht im Rahmen einer traditionellen Seinslehre. Alle Argumente aus der praktischen Philosophie, die N. zugunsten seiner Position anführt, lassen sich auch tiefer hängen. Und das gilt auch für seine theoretischen Argumente. So z. B. für seinen Ganzheitsbegriff.
Es ist nicht wahr, dass uns ohne ein scholastisches Konzept der substanziellen Wesensformen die Natur in gleichgültige Elemente zerfallen würde, denn ein echter, starker Ganzheitsbegriff wird überall in der Philosophie diskutiert. So z. B. in dem monumentalen Werk über Ganzheit im Bereich der Semantik und der Quantentheorie bei Michael Esfeld. Oder in der Biologie selbst ist der reine Bottom-up-Ansatz der früheren Genetik längst zugunsten einer Systembiologie überwunden, die zugleich Top-down-Kausalität lehrt, also den kausalen Einfluss des Ganzen auf die Teile. In all diesen Fällen benötigen wir keine voraussetzungsreiche scholastische Metaphysik. Dasselbe gilt für die Wesensformen als Garanten der Identität im Wechsel. Dieses Problem wird ja ausführlich in der Analytischen Philosophie diskutiert, wiederum ohne Rückgriff auf die traditionelle Metaphysik. Aber nicht nur dies.
N. muss von seinem Standpunkt aus eine andere Biologie fordern. Das hieße, dass die größte Anzahl der Biologen falsch liegt und dass die Prinzipien ihrer Forschung radikal verändert werden müssten. Wäre es da vielleicht nicht angemessener, die rein kausal vorgehende Biologie durch eine Konzeption der Lebenswelt auszubalancieren, wie das der Biologe und Philosoph Christoph Rehmann-Sutter, aber auch andere, vorgeschlagen haben, oder wenn schon, die Biologie nicht so sehr zu verändern, sondern in ein um­fassenderes Konzept der evolutionären Metaphysik einzubinden, wie bei Whitehead? Je stärker und voraussetzungsreicher eine Me­taphysik ist, desto schwerer zu begründen.
Das Occamsche Rasiermesser ist einer der am besten bewährten Grundsätze sowohl der empirischen Wissenschaft als auch der Philosophie. Es empfiehlt, die Prinzipien zur Klärung eines Sachverhalts nicht unnütz zu vermehren oder stärker zu machen, als unbedingt nötig ist. Eine neuscholastische Seinslehre, so wie sie überliefert ist, ist sehr stark und voraussetzungsreich. Sie wird deshalb nur wenige überzeugen, abgesehen davon, dass die neuscholastische Ontologie schon einmal – in den 1950er und 1960er Jahren – am Problem der Naturwissenschaft gescheitert ist.