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Ausgabe:

September/2019

Spalte:

940–941

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Noller, Jörg, u. Thomas Zwenger [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Die Aktualität des Geistes. Klassische Positionen nach Kant und ihre Relevanz in der Moderne.

Verlag:

Freiburg i. Br.: Verlag Karl Alber 2018. 224 S. = Geist und Geisteswissenschaft, 1. Geb. EUR 29,00. ISBN 978-3-495-48992-5.

Rezensent:

Michael Murrmann-Kahl

Dieser Sammelband, zugleich der erste Band in einer neuen Reihe für geisteswissenschaftliche Debatten, informiert solide über die Geistkonzeptionen bei Kant und Autoren überwiegend im Umfeld der Philosophie des »Deutschen Idealismus« (sechs Beiträge). Ironischerweise stellt »Geist« allerdings in Kants Transzendentalphilosophie als kritischer Geltungsreflexion gar keinen zentralen Begriff dar, wie Thomas Zwenger (München) im Gefolge von Hans Wagner einleuchtend darlegt (12-33). Allerdings wird dabei die »Kritik der Urteilskraft« nicht angemessen berücksichtigt (vgl. dazu die Ausführungen von V. L. Waibel und B. Recki). Jacobi bringt den »Geist« gegenüber der Philosophie von Spinoza bis Schelling in Stellung, der er bekanntlich »Atheismus« und »Nihilismus« vorwirft (34-54).
Birgit Sandkaulen (Bochum) zufolge wird mit ihm auf das »allein in der Innenperspektive zugängliche basale Selbstverhältnis einer Person« abgehoben (50, vgl. 47.49). Fichte dagegen beerbt nach Thomas Wyrwich (München) vor allem Kants praktische Philosophie, wenn er nach dem Atheismus-Streit auf die Geltung des Sittengesetzes in allen möglichen Welten abhebt und damit für den Menschen auf eine unabschließbare moralische Vergeistigung (55-76, hier 74). Violetta L. Waibel (Wien) stellt die Anstrengung des Dichter-Priesters besonders bei Hölderlin dar, im Kontext von Kant und Fichte »des Geistes mächtig« zu werden und ein sowohl ge­meinschaftlich zu verstehendes Allgemeines als auch Religiöses durch die (geschriebene) Dichtung zu vermitteln (77-111). Schelling positioniert den menschlichen Geist im Verhältnis zum Absoluten: Thomas Buchheim (München) versucht zu zeigen, dass dabei in der Freiheitsschrift (1809) die Freiheit des endlichen Geistes de facto mit der Trennung von Gott koinzidiert, während der späte Schelling für diese Selbstabtrennung von Gott zwei Versionen zu­lasse, »die eine zum Bösen erst führend, die andere zum durch ihn möglichen Guten« (112–125, hier 119). Wilhelm von Humboldt betont Jörg Noller (München) zufolge den sprachlichen und intersubjektiven Charakter des Geistes (126-138). Anton F. Koch (Heidelberg) stellt die Konzeption des »subjektiven Geistes« bei Hegel vor (139-149). Mit den letzten vier Aufsätzen zu Nietzsche (150-162), Simmel (163-184), Cassirer (185-200) und Adorno (201-219) von Volker Gerhardt (Berlin), Melanie Riedel (Bonn), Birgit Recki (Hamburg) und Christoph Demmerling (Jena) wird der Kontext des »Deutschen Idealismus« verlassen und rücken die Ausführungen tatsächlich näher an gegenwärtige Debatten heran.
Die Einzelbeiträge wirken kompetent, aber insgesamt ein wenig gemäß der biblischen Sentenz: »… ein jeder sah auf seinen Weg.« Nur für den Leser ergeben sich zwischen ihnen interessante Korrespondenzen: Während Zwenger einführend Platons und Kants kritizistischen Philosophiebegriff gerade stark macht und folglich die Vernunft ins Zentrum und den Geist ganz an den Rand rückt, versucht Sandkaulen umgekehrt zu zeigen, wie sehr das Kantische Vernunftverständnis in der Perspektive des Verstandes exakt eine solche Verkürzung darstellt (41 ff.), die Jacobi zum Ausbrechen in den Geist nötigte, um dem individuellen Selbstverhältnis Raum zu verschaffen. T. Wyrwich will die Alternative von Fichtes Geistverständnis gegenüber Hegels immanentem sittlichen Staat plausibilisieren: was Hegel als sich nie aufhebende Sollensunendlichkeit an Fichte kritisiert hat, das könne »gerade als Markenzeichen von dessen vollumfänglichen kritischen Geistbegriff angesehen werden« (73). Waibel hebt die Bedeutung von Kants »Kritik der Urteilskraft« und der Wissenschaftslehre des frühen Fichte für die dichterische Reflexion hervor, wobei Hölderlin und Novalis aber gegenüber allen philosophischen Prätentionen aufs Allgemeine gerade auf der künstlerischen Individualität bestehen (101.105). Ernst Cassirer greift Hegels »objektiven Geist« auf, ebnet aber die Differenz zum »absoluten Geist« so ein, dass auch Kunst und Religion zur Kultur gehören (188 f.); demnach sind Geistes- und Kulturwissenschaften synonym zu verwenden (186.198). Kochs luzide Darstellung des »subjektiven Geistes« (141 f.) macht überaus deutlich, dass viele Elemente von Theodor W. Adornos geistiger Erfahrung (abzüglich vielleicht des utopischen Moments) bei Hegel schon berücksichtigt sind, so dass Adornos Hegelkritik (203 ff.) sich eher einem Zerrbild (»Hypostasis des Geistes«, Identitätszwang) verdankt.
Die beanspruchte Gegenwartsrelevanz des Geistes erschließt sich allerdings nur in wenigen Aufsätzen wie etwa denjenigen zu Nietzsche und Adorno, die den Bogen zu Fragestellungen der angelsächsischen »philosophy of mind« schlagen (159 ff.214 ff.); die meisten verbleiben dagegen im unmittelbaren Umfeld der nachkantianischen Philosophie. Dem Theologen fällt überdies die professionelle Beschränktheit der philosophischen Perspektive auf: wer von der systematischen Aktualität des Geistes heute reden will, dürfte doch eigentlich zum Heiligen Geist nicht schweigen!