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Ausgabe:

September/2019

Spalte:

905–907

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Kraus, Thomas J., and Michael Sommer [Eds]

Titel/Untertitel:

Book of Seven Seals. The Peculiarity of Revelation, its Manuscripts, Attestation, and Transmission.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2016. VIII, 274 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 363. Lw. EUR 99,00. ISBN 978-3-16-152741-8.

Rezensent:

Jan Dochhorn

Der vorliegende Band nimmt seinen Ausgangspunkt bei dem Eindruck, dass an der Textbezeugung und Rezeption der Apokalypse des Johannes etwas Besonderes sei, mit dem sie sich von anderen Büchern des Neuen Testamentes unterscheide. Dieser Eindruck wird von den einzelnen Beiträgen überwiegend bestätigt.
Der Band enthält nach einer programmatischen Einleitung von Thomas J. Kraus einen Aufsatz von Giovanni Bazzani, der sämtliche Papyrus-Textzeugen zur Apc Joh, zum Hirten des Hermas und zum Töpferorakel als Artefakte beschreibt und erkundet, inwiefern diesen von der Opinio communis als apokalyptisch deklarierten Schriften ein gemeinsames Benutzungsprofil eigne. Der Befund deutet ihm zufolge für alle drei Schriften auf Diversität der Rezipienten und Verwendungskontexte – bei einem allerdings starken Anteil privater, »freier« Leser, die nicht der Hochkultur angehören, aber über Literalität verfügen. Weiterhin zu nennen sind zwei Untersuchungen von Jeff Cate über einzelne Textzeugen, einmal ein Opisthograph zur Apc Joh (Papyrus 43) und dann zwei Schwes­terhandschriften, byzantinische Minuskeln (792.2643), die beide Miniaturformat haben und ungewöhnlicherweise die Evangelien und die Apokalypse zusammenstellen. Den Majuskeln ist ein Beitrag von Thomas J. Kraus gewidmet. Er nimmt die ständigen Zeugen von Nestle-Aland26–28 in den Blick, stellt unerwartete Unterschiede zwischen den Ausgaben fest (NA26 weist mehr Majuskeln als ständige Zeugen auf als die nachfolgenden Ausgaben) und konstatiert dann, dass sich unter den ständigen Zeugen zahlreiche Ma­nuskripte befänden, die den Eindruck einer Kopie für den privaten Gebrauch machten, also eher nicht für den offiziellen Ge­brauch bestimmt gewesen seien; Textkritiker müssten sich fragen, ob ihre Arbeit auf solchen Zeugen basieren sollte und ob die materiellen Eigenschaften bei der Klassifikation von Handschriften für die Re­zension von Lesarten nicht stärker berücksichtigt werden müssten.
Drei christliche Apokalypsen stellt dann Tobias Nicklas hinsichtlich ihres Rezeptionsprofils in Ägypten nebeneinander: die Apc Joh, den Hirten des Hermas und die Petrusapokalypse; der Hirte ist am populärsten, während die Petrusapokalypse am wenigsten rezipiert wird. Martin Meiser geht der literarischen Bezeugung der Apokalypse nach: Sichere Spuren sind zuerst bei Justin auszumachen; dann werden vor allem Irenäus, Tertullian, Clemens von Alexandrien, Origenes, Methodius und Laktanz in den Blick ge­nommen, die alle etwas mit der Apokalypse anzufangen wissen (sogar Laktanz, der doch kaum auf Biblisches referiert!). Auch Michael Kruger schreibt über die Rezeption der Apokalypse in der Alten Kirche; bei ihm kommen in besonderem Maße der nur in Spuren bezeugte Gaius von Rom und die Aloger des Epiphanius zum Zuge, deren kritische Einstellung zur Apokalypse einschlägig bekannt ist (er identifiziert sie nicht miteinander, anders als ich selbst). Michael Sommer geht es dann vor allem um die Positionierung der Apokalypse in Bibelhandschriften (nicht immer ist sie Schlussstein des Kanons!).
Der Textkritik im herkömmlichen Sinne (Archetyp- bzw. Ur­textrekonstruktion) gewidmet ist der Aufsatz von Markus Lembke; er arbeitet heraus, dass die Grundannahme der von Gerd Mink erarbeiteten kohärenzbasierten genealogischen Methode, der zu­folge eine kontinuierliche Entwicklung vom neutralen bzw. ägyptischen Text der alten Zeugen zum byzantinischen Mehrheitstext stattgefunden hat (mit weiteren Familien als zum Teil schwer eruierbaren Marginalphänomenen), sich im Falle der Apokalypse als irreführend erweisen könnte: Die Überlieferung der älteren Textzeugen sei schon den Untersuchungen von Josef Schmid zufolge gespalten (in A C Ökumenius einerseits und Pap.47 und Methodius andererseits), und die byzantinische Überlieferung ebenfalls (es stünden eine Koinê und die Überlieferung aus dem Andreaskommentar nebeneinander). Hinzu komme nun, dass mittlerweile weitere selbständige Überlieferungszweige ausgemacht worden seien und außerdem ein höheres Alter der beiden byzantinischen Überlieferungen sich als möglich erweise; außerdem sei der Konnex innerhalb der beiden älteren Überlieferungsgruppen schwächer als bisher angenommen. Auf diese Arbeit folgt ein Lob des digitalen Edierens von Ulrich B. Schmid.
Zwei Beiträge fallen aus dem Rahmen, insofern sie nicht primär textkritisch und rezeptionsgeschichtlich orientiert scheinen: Lincoln H. Blumell und Thomas A. Wayment widmen sich der Isopsephie im frühen Christentum und korrelieren diesen Befund mit dem Zahlenrätsel in Apc Joh 13,18; sie deuten die Zahl des Tieres auf Nero. Isopsephie, das Spiel mit dem numerischen Wert von Buchstaben, war in der Antike weit verbreitet. Sueton etwa erwähnt ein mit Nero zeitgenössisches νεόψηφον (vgl. Nero 39,2; Ihm 249), das die Summe der griechischen Lettern des Namens νέρων (1005) mit dem Nero unterstellten Muttermord assoziierte: Der Satz ἰδίαν μητέρα ἀπέκτεινε hat denselben Zahlenwert (121). Interessant ist auch ein wohl christliches Graffito aus der Agorabasilika von Smyrna (Supplementum Epigraphicum Graecum 61.973), das von Bagnall vor 125 n. Chr. datiert wird (Everyday Writing in the Greco-Roman East, Berkeley 2011, 22–23) und folgendermaßen formuliert ist: ΙΣΟΨΗΦΑ/ΚΥΡΙΟΣ Ω / ΠΙΣΤΙΣ Ω. »Herr« und »Glaube« haben im Griechischen denselben Zahlenwert, nämlich 800 (129). Natürlich erwähnen Blumell und Wayment auch Barn 9,7–8 (die christologische Auslegung der Anzahl der Diener Abrahams: τιη = 318; τ steht für das Kreuz, ιη für Jesus) und den christlichen Gnostiker Markus, der das theologische Spiel mit den Buchstaben und Zahlen verfeinerte. Zu nennen ist weiterhin ein Aufsatz von Scott Charlesworth, der sich mit der Danielauslegung der Johannesoffenbarung befasst und sie zugleich in Beziehung setzt mit der synoptischen Apokalypse.
Der vorhergehende Überblick deckt sämtliche Beiträge ab, und er hat hoffentlich gezeigt, dass wir es mit einem gut gelungenen und lohnenden Sammelband zu tun haben. Ich hätte allerdings noch mehr Freude daran, wenn ich meine deutschen und italienischen Kollegen jeweils in ihrer Muttersprache zur Kenntnis nehmen könnte; viele haben es vorgezogen, auf Englisch zu publizieren. Es wäre darüber nichts zu vermerken, entspräche dies nicht einem Trend. Ich weiß nicht, was das Funktionärsgespräch von einem europäischen Wissenschaftsraum überhaupt bedeuten soll, wenn die sprachliche und kulturelle Vielfalt Europas auf diese Weise unterdrückt wird. Glauben Deutsche und Italiener, anders keine Leser mehr zu finden? Was besagt das über die kulturelle Relevanz ihres wissenschaftlichen Tuns? Glauben sie, internationale Forscher könnten kein Deutsch oder Italienisch lesen? Was unterstellt man damit dem internationalen Publikum? Ich kenne keinen amerikanischen, britischen oder skandinavischen Forscher, der nicht auch mehrere andere Sprachen als Englisch läse. Ich fordere bei den Wissenschaftlern mehr Mut zum Eigenen ein und erinnere die Verlage an ihre Rolle als Kulturagenten, der sie nicht zuletzt auch Steuerprivilegien verdanken.
Im engeren Sinne fachliche Fragen betreffen die in dem vorliegenden Band zu beobachtende Tendenz, Handschriften als archäologische Artefakte auszuwerten, nicht zuletzt die Papyrushandschriften. Wie belastbar sind die damit erhobenen Befunde? Papyri etwa findet man überwiegend in Ägypten, und dort oftmals auf Müllhalden, die, weil wasserarm, offenbar selbst vom Ungeziefer gemieden werden. Sind solche Bestände nicht von vornherein in ihrer Repräsentativität begrenzt? Impliziert nicht etwa schon der Fundort einen Hang zur Hässlichkeit? Man schmeißt Gegenstände weg, denen man andere vorzieht (im gegebenen Falle zum Beispiel: weil man, vielleicht bedingt durch Wohlstandsgewinn, an schönere Bücher gekommen ist). Wie ist aber dann der Umstand zu bewerten, dass viele Papyruszeugen zur Apokalypse wenig gepflegt erscheinen? Wie sicher wiederum sind die Kriterien, anhand derer man bei den Handschriften einen privaten Gebrauch von einem offiziellen oder kirchlichen Gebrauch unterscheidet? Kann wirklich vorausgesetzt werden, dass ein kirchliches Exemplar einigermaßen passabel aussehen muss? Wie steht es mit der Möglichkeit, dass eine Handschrift nur als Gedächtnisstütze diente und dementsprechend der Vortrag frei war, also nicht abgelesen werden musste? Und warum sollten Handschriften, die den Eindruck des Inoffiziellen machen, wie sicher man sich auch immer sein kann bei diesem Eindruck, für die Textkritik weniger wert sein? Ich habe schon öfter in Handschriften, die einen liederlichen Eindruck machten (etwa aufgrund schauderhafter Orthographie), gute Lesarten gefunden.
Meines Erachtens sollte nach wie vor die Rezension von Lesarten der methodische Ausgangspunkt für die Textwertbestimmung sein. Begründet durch mehrere Rezensionsentscheidungen kann sich dann eine Gewichtung von Zeugen ergeben, aber auch diese ist doch prinzipiell eher ein Notbehelf für den Fall, dass kein Stemma rekonstruiert werden kann. Dieser Fall liegt beim Neuen Testament gewöhnlich vor, weil die Überlieferungsstränge – bedingt durch die Vertrautheit der Abschreiber mit differierender Textüberlieferung – kontaminiert worden sind. Aber spielt Kontamination in der Textüberlieferung zur Apokalypse eigentlich dieselbe Rolle wie bei den Evangelien?
Dieser Frage wäre vielleicht einmal gesondert nachzugehen – unter verstärkter Einbeziehung von Me­thoden, die weniger durch Archäologie und Neuphilologie konturiert sind und dafür mehr der klassischen Textkritik ähneln.