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Ausgabe:

September/2019

Spalte:

901–903

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Gill, David W. J., Trebilco, Paul, and Steve Walton [Eds.]

Titel/Untertitel:

The Urban World and the First Christians.

Verlag:

Grand Rapids u. a.: Wm. B Eerdmans 2017. 404 S. Geb. US$ 48,00. ISBN 978-0-8028-7451-1.

Rezensent:

Martin Ebner

Das Thema Stadt und Christentum ist im Kommen, nun verstärkt auch im anglophonen Raum. Ein Zeugnis dafür ist der vorliegende Sammelband, der aus einer multidisziplinären sowie internationalen Tagung in London 2015 hervorgegangen ist. Außer Neutestamentlern waren auch Fachvertreter der Humangeographie (Paul Cloke), der Alten Geschichte (Cédric Brélaz) sowie der klassischen Archäologie (David W. J. Gill) beteiligt bzw. wurde die entsprechende Expertise eingebracht. Vier der 17 Teilnehmer reisten von außerhalb nach Großbritannien an (Schweiz, Norwegen, USA, Südafrika). Die Beiträge beschäftigen sich mit dem Einfluss des städtischen Umfelds auf frühchristliche Gemeinden (Teil 1: »Early Chris-tianity in its Ancient Urban Setting[s]«: 3–215) sowie damit, wie sie ihre Position innerhalb der Städte des Römischen Reiches konzeptionalisieren (Teil 2: »Early Christian Thinking About Cities«: 217–319). Eine Einführung mit Abstracts der Beiträge (XII–XV), Schlussfolgerungen (320–324), ein Literaturverzeichnis (325–362) sowie diverse Register (363–388) runden den Band ab.
Die thematische Fokussierung ist sehr breit gestreut: Einzelne Städte werden ins Visier genommen. Joan E. Taylor (»Paul’s Caesarea«: 42–67) setzt die narrative Darstellung Caesareas in Apg (»performing Rome«) in Beziehung zu den entsprechenden archäologischen Daten. Vor allem Jerusalem spielt eine große Rolle. Jutta Leonhardt-Balzer (»Diaspora Jewish Attitudes to Metropoleis«: 86–98) entdeckt eine Kongruenz im Verhältnis der beiden Diasporajuden Paulus und Philo zu Jerusalem: Beide schreiben den »Jerusalemern« große Bedeutung im Blick auf die soziale Kohärenz desGottesvolkes zu, lehnen aber die Inanspruchnahme einer übergeordneten theologischen Autorität ab. Anders Runesson (»City of God or House of Traitors and Killers?«: 219–235) möchte das im Titel seines Beitrags angezeigte ambivalente Bild, das im Matthäusevangelium von Jerusalem gezeichnet wird, als Hinweis darauf lesen, dass – in typisch jüdischer Interpretationsmanier – der Tempel von Jerusalem, ganz anders als im Lukasevangelium, als von seinen Repräsentanten verunreinigt gesehen werde und die Stadt Jerusalem deshalb »off limits« sei, weshalb die Trägergruppen außerhalb Jerusalems zu lokalisieren seien und zugleich jenseits des Autoritätsradius der Jerusalemer Führer stünden – eine stark historisierende Sicht der Dinge, deren realhistorische Haftpunkte weder offengelegt noch problematisiert werden. Cédric Brélaz (»Outside the City-Gate«: 123–140) kommt zu dem Schluss, dass das bewusste Zugehen des Paulus auf die griechische Händlerschaft der Kolonie Philippi zu einem Ausschluss der Majorität der Bevölkerung, sowohl der römischen Kolonisten als auch der nativen thrakischen Population, geführt habe. Chris Keith (»Urbanisation and Litera-tion«: 187–204) stellt mit Blick auf Rom heraus, dass – durch die Brillen von Hermas bzw. Justin – der Erwerb von Literalität nicht in erster Linie von der lokalen Situierung in einem urbanen bzw. ländlichen Kontext abhängt, sondern vielmehr von der soziologischen Positionierung. Auf diesem Hintergrund holt er zu einem kräftigen Seitenhieb auf all jene Autoren aus, die auch in Veröffentlichungen neuesten Datums davon ausgehen, dass Jesu Jünger dessen Lehren in Notizbücher aufgeschrieben hätten, die dann als Quellen für die Evangelisten dienten; oder die für Jesus Literalität behaupten – ganz zu schweigen von einer angeblichen Autorschaft des historischen Jakobus für seinen kanonischen Brief (202 f.). Paul R. Trebilco (»Engaging – or Not Engaging – the City«: 160–186) versetzt sowohl die Adressaten der Pastoralbriefe als auch die der Johannesbriefe versuchsweise in die Großstadt Ephesus – und ar­beitet ganz unterschiedliche Einstellungen zur städtischen Ge­sellschaft heraus: für die Pastoralbriefe »a strong outward focus«, der sich für ihn im Gebet für alle, in der Aufforderung zur Wohltätigkeit und der Übernahme von theologischer Begrifflichkeit z. B. für die Entfaltung der Christologie ( ἐπιφάνεια) zeigt, während er aus den Texten der Johannesbriefe eher auf »a strong but inwardly focused community« schließt. Er folgert: »For the early Christians, there was no one paradigm of relating to their urban context but rather we see a considerable spectrum of interactions« (186).
Im zweiten Teil lassen sich David G. Horrel (»Re-Placing 1 Peter«: 271–286) und Wei Hsien Wan (»Repairing Social Vertigo«: 287–303) im Blick auf die Konstruktion des Raumes in 1Petr vom spatial turn anregen. Im Gegenüber zur Strukturierung des Imperium Roma-num in Provinzen sähen sich die christlichen Gemeinden als »trans-provincial community« (286) untereinander verbunden als »lebendige Steine« eines Alternativtempels (284). Die römische Ökumene werde reimaginiert als Diaspora (1,1 f.), Rom als Babylon, dem ar­chetypischen Gegenspieler von Gottes Erwählten, die soziale Stellung von »aliens« (πάροικοι) und »sojourners« (παρεπίδημοι) (2,11; vgl. 1,17) als »pneumatisches Haus« (οἶκος πνευματικός) einer »heiligen Priesterschaft« (2,5 vgl. 2,9). Für Offb hält Ian Paul (»Cities of Revelation«: 304–319) fest, dass die sieben Städte in Offb 2–3 den sozialen Kontext beschreiben, während die zwei konkurrierenden Städte, Babylon und (das neue) Jerusalem, die untereinander in­kompatiblen Lebenskonzepte darstellen, zwischen denen sich die Gläubigen in der Arena des Lebens entscheiden müssen. Dagegen hat sich mir die Folie von »effective/spiritual landscapes« für die Analyse des Kol durch Paul Cloke (»Spiritual Geographies of the City«: 253–270) nicht erschlossen. Auch die Ergebnisse von Matthew Sleeman (»Paul, Pentecost, and the Nomosphere«: 20–41) zur Analyse des letzten Aufenthalts des Paulus in Jerusalem (Apg 21) hätten meines Erachtens ohne das letztlich vage bleibende Konzept einer »nomosphere« (David Delaney) genauso gut erzielt werden können. Während der Hinweis von Anthony Le Donne (»Complicating the Category of Ethnos toward Policentrism«: 3–19), dass Ethnizität stark an den Bezug zu einer Metropolis gebunden ist (»policentric category«), sehr erwägenswert ist, wäre Steve Walton (»Heavenly Citizenship and Earthly Authorities«: 236–252) in seinen Untersuchungen zum Bürgerrecht wesentlich weiter gekommen, wenn er nicht zu erklären versucht hätte, wie Paulus einerseits in Phil 3,20 eine »Bürgerschaft in den Himmeln« behaupten kann und andererseits in der Stadt Philippi gemäß Apg 16,37 (trotzdem!) sein römisches Bürgerrecht in Szene setzt. Und: wenn er einschlägige Arbeiten deutscher Provenienz zur »himmlischen Bürgerschaft« zur Kenntnis genommen hätte (Pilhofer, Ostmeyer, Schinkel u. a.).
Kurz: Der Sammelband bietet einen Feld-Wald-Wiesen-Blütenstrauß zum Thema Stadt und frühes Christentum. Etliche Beiträge des ersten Teils könnten gut auch dem zweiten zugeordnet werden – und umgekehrt. Anders gesagt: Die Einteilung ist künstlich – und eigentlich unsachgemäß. Denn das »Denken« über die Stadt (2. Teil) kann nur dann evaluiert werden, wenn man die Realia (1. Teil) kennt. Der interdisziplinäre Zugriff ist unterschiedlich gut gelungen. Exklusiv diskutiert wurde er offensichtlich erst in einem kleinen Schlusspanel am Ende der Tagung (320). Die Zusammenstellung von offenen Fragen in der »Conclusion« des Bandes (320–324) ist richtungsweisend, aber sie sind zum Teil schon längst in Angriff ge­nommen, zum Beispiel eine differenzierte Definition von »Stadt«, der konzeptionelle und theologisch gewichtige Unterschied zwischen der Formation der christlichen Ekklesia und der städtischen, oder auch die Frage, ob hinter der paulinischen Mission eine be­stimmte Strategie steckt (»Did he target strategic hubs …?«: 323). Dafür wäre es allerdings nötig gewesen, auch einschlägige deutschsprachige Literatur wirklich zu konsultieren. Auf jeden Fall macht der Band deutlich, dass für eine schärfere Sicht auf die frühchristlichen Gruppierungen die sozialgeschichtliche Folie der Städte im Imperium Romanum äußerst erhellend sein kann.