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Ausgabe:

September/2019

Spalte:

889–892

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Maier, Michael P.

Titel/Untertitel:

Völkerwallfahrt im Jesajabuch. Mit einem Geleitwort von G. Y. Kohler.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2015. XVIII, 630 S. = Beihefte zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft, 474. Geb. EUR 119,95. ISBN 978-3-11-040311-4.

Rezensent:

Beate Ego

Die Arbeit des an der Gregoriana in Rom lehrenden Vf.s wurde im Jahr 2014 an der Philosophisch-Theologischen Hochschule St. Georgen als Habilitationsschrift angenommen.
Michael P. Maier führt zunächst in die theologische Thematik der Völkerwallfahrt ein und verweist auf deren zentrale Position innerhalb einer Völkervergessenheit (Israels) und der Israelvergessenheit (der Kirche) (16). Es folgt ein ausführlicher Forschungsbericht zur Thematik der Wallfahrt der Nationen, der wichtige Arbeiten der letzten Jahrzehnte referiert (so Causse, »Le mythe de la nouvelle Jérusalem du Deutéro-Esaie« – 1938, Gerhard von Rad, »Die Stadt auf dem Berge« – 1948/49, Hans Wildberger, »Die Völkerwallfahrt zum Zion« – 1957, Helmut Schmidt, »Israel, Zion und die Völk er« – 1968, Odil Hannes Steck, »Friedensvorstellungen im alten Jerusalem« – 1972, Norbert Lohfink, »Bund und Tora bei der Völ-kerwallfahrt« – 1994, Jacques Vermeylen, »Jérusalem, centre du monde«– 2007, Gary Stansell, »The Nations’ Journey to Zion« – 2009, Beate Ego, »Vom Völkerchaos zum Völkerkosmos« – 2013, und Oliver Dyma, »Völkerwallfahrt/Völkerkampf« – 2013). Das Fazit aus diesem Forschungsüberblick lautet recht unspezifisch, dass die unterschiedlichen Studien das Thema von ganz unterschiedlichen Blickwinkeln angehen, da nur in wenigen Untersuchungen »alle relevanten Texte erfasst« wurden. Somit formuliert der Vf. als das erste Desiderat für die weitere Forschung das Ideal der Vollständigkeit, da »alle Texte, die eine Pilgerfahrt ausländischer Nationen nach Zion oder in das Land Israel prophezeien, […] analysiert werden« (41) müssen, wobei zunächst jeder Text in einer Eigeninten- tion zu respektieren ist: »Es braucht keine einheitliche, für das ganze Jesajabuch gültige Völkerwallfahrtstheologie konstruiert zu werden. Wichtiger ist es, die unterschiedlichen Ausprägungen der Vorstellung wahrzunehmen und als Variationen eines Grundthemas zu verstehen.« (41) Leitend für den Vf. ist dabei, dass »behutsam« und »interessenfrei« ausgelegt wird, »in einer Perspektive, die jüdische und christliche Leser nicht trennt, sondern nach Möglichkeit zusammenführt« (41).
Es folgt ein weiterer Abschnitt, der sich um einen methodologischen Überblick zur Auslegung des Jesajabuches bemüht. Hier referiert der Vf. zunächst redaktionsgeschichtliche Studien zum Jesajabuch (Joachim Becker, Jaques Vermeylen, Otto Kaiser, Odil Hannes Steck, Reinhard Gregor Kratz, Jürgen van Oorschot, Uwe Becker und Ulrich Berges) sowie synchrone, intertextuelle Forschungen (42–73). Vor diesem Hintergrund setzt sich der Vf. das Ziel, sich auf die Texte im Jesajabuch zu konzentrieren, die den Zug nichtisraelitischer Nationen zum Zion weissagen; synchrone und diachrone Perspek-tive haben sich dabei zu ergänzen. Dabei sind drei Grundelemente maßgeblich, nämlich die fremden Nationen als Subjekt der Wallfahrt, der Zion (als Berg oder weibliche Gestalt vorgestellt) als Ziel der Wallfahrt, und die Bewegung, die Völker vollziehen (mit halakh, bo’ oder ’alah). Weitere Angaben, die von Interesse sein können, sind das Motiv der Reise, ihr Zweck und ihr Resultat sowie die Rolle, die dabei Israel zukommt (71 f.). Relativ unvermittelt und ohne die Angabe von Gründen widmet sich das letzte Kapitel der Einleitung dann den biblischen Überlieferungen vom Völkersturm, die eine große formale Ähnlichkeit mit den Völkerwallfahrtstexten aufweisen, die aber eine Art »Gegenmotiv« darstellen, insofern es hier nicht um eine friedliche Wallfahrt zum Zion, sondern um einen Angriff gegen die Gottesstadt geht. Nach Untersuchungen zur Struktur und Lexik verweist der Vf. dann auf der Basis von Arbeiten Peter Machinists und Friedhelm Hartensteins auf die assyrische Königsideologie als Hintergrund dieses Konzepts (74-94).
An diese Einleitung schließen detaillierte und behutsame Exe-gesen zu den einschlägigen Völkerwallfahrttexten des Jesajabuches an, die in buchkursorischer Reihenfolge dargeboten werden: Kapitel I behandelt »Die Völkerwallfahrt in Jesajas ›Wort über Juda und Jerusalem (Jes 2–12) mit 1. Der Zug der Nationen zum Berg der Unterweisung‹« (Jes 2,1–5) und 2. »Die Nationen auf der Suche nach der ›Wurzel Isai‹« (Jes 11,10). Kapitel II, überschrieben mit »Die Völkerwallfahrt in Jesajas ›Sprüchen über die Völker und die ganze Welt‹« (Jes 13–23 und 24–27) bespricht 1. »Die Völker als Helfer bei der Heimkehr Israels« (Jes 14,1–2), 2. »Eine Gabenprozession zum Zionsberg« (Jes 18,1–7), und 3. »Das Völkermahl auf dem Zionsberg (Jes 25,6–8). Kapitel III behandelt »Die Völkerwallfahrt in dem Trostbuch für Jerusalem (Jes 40–55) mit 1. »Die Bekehrung der Nationen zum Zion-Gott JHWHs« (Jes 45,14–25), 2. »Die Völker als Begleiter der heimkehrenden ›Zionskinder‹« (Jes 49,14–26) und 3. »Das erneuerte Israel, Auslöser und Ziel der Völkerwallfahrt« (Jes 55,1–5). Kapitel IV untersucht die Texte im »Manifest der Knechtsgemeinde« (Jes 56–66): 1. »Die Zionsreise der ausländischen JHWH-Verehrer« (Jes 56,1–9), 2. »Ein Völkerzug zu dem verherrlichten Zion« (Jes 60,1–22) und 3. »Die Versammlung auf dem Zionsberg und der universale Gottesdienst« (Jes 66,15-24).
Der Schwerpunkt der Untersuchungen ist synchron orientiert, es finden sich aber gelegentlich auch traditionsgeschichtliche Hinweise (so zum Motiv des Lichts in Jes 60,1, wo der Vf. auf Ez 43,2 oder Sach 2,14 f. verweisen kann – 431 f., oder zur Gabendarbringung, wo ein Vergleich mit Ps 72 durchgeführt wird – 458 f.). Zudem enthalten die Ausführungen des Vf.s auch Abschnitte zu jüdischen und christlichen Auslegungen (so z. B. zu Jes 2 in der ma. Exegese – 138–143, zu Jes 45,24 bei Raschi und Nikolas von Lyra – 282–284, oder zu Jes 60 im Talmud, bei Ibn Ezra und Niklolaus von Lyra – 464–469).
Die sorgfältige Studie schließt mit einer ausführlichen Zusammenfassung, die gerade nicht auf eine umfassende theologische Synthese abzielt, sondern das Material unter einer synchronen, diachronen und einer leserorientierten Perspektive in den Blick zu nimmt.
Bereits der synchrone Durchgang zeigt die unterschiedlichen Facetten der Thematik. Subjekt der Wallfahrt können alle Völker sein, aber auch nur eine begrenzte Zahl; Ziel der Reise ist der Berg, der Tempel oder die mütterliche Stadt Jerusalem; Anlass und Zweck der Reise ist es, zum Schmuck Zions beizutragen und damit das Gottsein Gottes anzuerkennen; die Wallfahrt kann aber auch dazu dienen, die heilsame Nähe Gottes zu erfahren oder den Exilierten bei der Rückkehr zu helfen (513–527). Daran schließt der Versuch an, das Material in diachroner Hinsicht und damit auch in seinem systematischen Zusammenhang zu rekonstruieren: Der ältes-te Text ist – so der Vf. – Jes 45,14–25. Im Zentrum des Textes steht die Idee der Einzigartigkeit des Gottes Israel; da die Hinwendung zu JHWH hier nur in V. 14–17 örtlich fixiert ist und auch »Zion« und »Jerusalem« nicht namentlich genannt werden, möchte der Vf. den Text als eine »Vorstufe des Völkerwallfahrtsmotives« verstehen. Auf Jes 45,14 dürften – so der Vf. – Jes 49,23 und 60,14 zurückgreifen. In den Kapiteln Jes 49–55 tritt das theologische Thema des Disputes um die Einzigkeit JHWHs in den Hintergrund, nun steht das Gottesvolk, das in Juda und der Diaspora lebt, im Fokus sowie seine Berufung, Sendung und sein weiteres Ergehen. Dadurch erhält das Thema der Völkerwallfahrt auch eine neue Kontur: »Sie ist nicht mehr der bildliche Ausdruck eines geistigen Vorgangs: der Bekehrung der heidnischen Nationen zu dem einen Gott«, sondern es formuliert sich nun die prophetische Erwartung, dass die fremden Völker den deportierten Judäern bei der Rückkehr aus dem Exil helfen. So repräsentiert in Jes 49,14–26 die Figur Zions die Stadt, die auf die Heimkehrer wartet. Eine entsprechende Idee findet sich auch in Jes 14,2. Die Völker sind nicht Wallfahrer im eigentlichen Sinne, aber vollziehen doch dann auch in Jerusalem die Proskynese.
Eine neue Stufe der Entwicklung stellt dann Jes 60 dar, wo sich die altorientalische Vorstellung der Völkerhuldigung in der Form der Darbringung von Tributen mit der Zionstradition verbindet. Im Gegensatz zu Jes 45,14 unterstreicht der Text die freie Initiative der Völker. Eine weitere Wandlung des Motivs resultiert aus der positiven Erfahrung der nachexilischen Gemeinde mit Ausländern, die sich für eine gerechte Gesellschaft engagieren, den Schabbat beobachten und den Gott Israels verehren. Jes 56,1–9 wendet sich dagegen, diesen Personen wegen ihrer ethnischen Verschiedenheit die Zugehörigkeit zum Gottesvolk zu verweigern, die Verheißung der Völkerwallfahrt richtet sich nun also an die Gruppe der »Gottesknechte aus den Heiden«.
Jes 66,15–24 bildet den Abschluss: Dieser Text nimmt die Ankündigung von Jes 60,1–3 auf, wonach die Heidenvölker zum Zion kommen, um die göttliche Herrlichkeit zu sehen, und verbindet sie mit der Erwartung von Jes 49,22–23, dass diese die heimkehrenden Judäer zurückbringen. Schließlich beantwortet Jes 2,1–5 die Frage, die Jes 66 noch offenlässt. Es handelt sich hier um den »literarisch spätesten und theologisch reifsten Völkerwallfahrtstext« (541): Alle Nationen ziehen aus eigener Initiative nach Jerusalem, und sie werden nun sogar als nachahmenswertes Beispiel für Israel dargestellt, wobei bereits für die Gegenwart ihre Gotteserkenntnis vorausgesetzt wird. Der universale Friede entsteht aber allein aus der Initiative Gottes. Vielleicht noch später als Jes 2,1–5 könnte Jes 25,6–8 entstanden sein, da nun die Anwesenheit der Nationen auf dem Zion vorausgesetzt wird. Eine Rückkehr scheint keine Rolle mehr zu spielen, vielmehr findet nun das Festbankett für diejenigen statt, die JHWHs Weisung angenommen haben (528–543).
Am Ende seiner Ausführungen greift der Vf. eine knappe Bemerkung in dem Beitrag von Oliver Dyma auf, wonach die »Erwartung der Völkerwallfahrt […] die positive Transformation des Völkersturmes darstellt« (545). Dies muss – so der Vf. – in einer so allgemeinen Formulierung abgelehnt werden, da das Konzept der Völkerwallfahrt ja nicht einheitlich ist. Der Vf. kann aber zugestehen, dass einzelne Begriffe und Bilder tatsächlich vom Motiv des Völkerkampfes in das Motiv der Völkerwallfahrt übernommen und dort gleichsam positiv gespiegelt werden: »Dass die Nationen friedlich nach Jerusalem kommen, ist in jedem Fall eine Kontrastvision, die der Autor der gegenwärtigen Erfahrung seiner Leser entgegenhält, um sie auf eine neue, von Gott geplante und anfanghaft er­möglichte Realität aufmerksam zu machen.« (546)
Das Werk endet mit knappen Ausführungen zur Bedeutung des Motivs in einer leserorientierten Perspektive. Es werden zwei implizite Leser konstituiert, nämlich Israel, das JHWH-Volk, das auf dem Zion wohnt (Jes 12,6), sowie die fremden, nicht-israelitischen Nationen, die zum Zion ziehen. Dementsprechend wurden die Texte im Mittelalter auch von zwei Lesegemeinschaften, nämlich der jüdischen und der christlichen, rezipiert. Um den Texten gerecht zu werden, müssen sich beide Stimmen miteinander verbinden. Freilich bleibt hier vieles offen, zumal die jesajanischen Prophetien »sehr disparat und wenig ›operationalisierbar‹« sind:
»Es gibt die negative Vorschrift, die Fremden, die den Schabbat beachten, nicht aus dem Volk JHWHs auszuschließen. Und es gibt die positive Vorhersage, die ganze Menschheit werde sich zur Anbetung auf dem Zion versammeln. Dazwischen aber bleibt vieles offen, so dass es dem realen Leser (dem jüdischen vielleicht noch mehr als dem heidenchristlichen) schwerfällt, aus der überwältigenden Wallfahrtsvision einzelne konkrete Schritte auf das angezielte Miteinander hin abzuleiten.« (553)
Das Buch schließt mit einem umfangreichen Literaturverzeichnis, einem Stichwort- und einem Bibelstellenregister.
Vielleicht ist die Leserperspektive hier im Hinblick auf konkrete Handlungsdimensionen des Textes etwas verengt gesehen. Aber insgesamt handelt sich um eine interessante Studie, die vor allem durch ihre differenzierten und ausgewogenen Einzelauslegungen besticht. Sehr interessant und plausibel ist der Versuch, das unterschiedliche Material diachron zu verorten und dabei eine immanente Logik des Vorstellungskomplexes und die ihm inhärente Systematik aufzuzeigen. Mit dem Verweis auf das Theologumenon der Einzigkeit Gottes gelingt es dem Vf., eine inhaltliche Mitte der Vorstellung herauszuarbeiten, um die dann die einzelnen Texte angeordnet sind und die diese variieren. Weiterführenden Studien wird die Aufgabe zukommen, das Motiv noch konziser traditions- und religionsgeschichtlich zu kontextualisieren.