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Ausgabe:

September/2019

Spalte:

885–887

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Fabry, Heinz-Josef [Ed.]

Titel/Untertitel:

The Book of the Twelve Prophets. Minor Prophets – Major Theologies.

Verlag:

Leuven u. a.: Peeters Publi-shers 2018. XXIV, 557 S. = Bibliotheca Ephemeridum Theologicarum Lovaniensium, 295. Kart. EUR 105,00. ISBN 978-90-429-3612-6.

Rezensent:

Jörg Jeremias

Der stattliche Band mit 30 Aufsätzen geht zurück auf das Colloquium Biblicum Lovaniense 2016, das den Büchern der Zwölf Kleinen Propheten (im Folgenden: XII) gewidmet war und wie stets Hauptvorträge, Seminar-Diskussionen und Kurzreferate bot. Die Breite der Themen ist Stärke und Schwäche des Buches in einem. Nur ein kleiner Teil der Beiträge – immerhin aber die Mehrzahl der Hauptvorträge – beschäftigt sich mit der heute so intensiv diskutierten Frage, ob die Bücher der XII eher als Einzelbücher oder als gewachsene Einheit gelesen werden wollen und im letzteren Fall: w ie dieses Gesamtwerk schrittweise entstanden sei. Auch die »presidential address« des Herausgebers (3–29) wählt kein spezi-fisches Thema der XII, sondern wendet sich dem vielfach verhandelten Thema der Gewalt Gottes in der Prophetie zu. Fabry plädiert für einen rezeptionsästhetischen Umgang mit Texten, die vom gewalttätigen Gott reden. Er möchte sie als »Inszenierungen« verstehen.
Die drei ersten Beiträge des Bandes stimmen darin überein, dass sie mit einem exilischen Vierprophetenbuch (Hos, Am, Mi, Zeph) als Grundlage des späteren Buches der XII rechnen. J. Nogalski (33–51) sucht unter dieser Voraussetzung nach vorexilischen Sammlungen prophetischer Reden (»thematic anthologies«), die ab dem Exil in umfassenderen Kompositionen aufgegangen seien. Dafür betrachtet er vornehmlich Kernbereiche der Bücher Hosea (Hos 4–10) und Amos (Am 3–6), aber überraschenderweise auch Nah 1,11–12a.14; 2,2 f., einen Text, der (zus. mit 3,15aγ–19) die redaktionelle Rahmung eines vorexilischen Nahumbuches gebildet habe. – Demgegenüber ist A. Schart (53–78) bemüht, die These eines exilischen Vierprophetenbuches gegen ihre Bestreitung durch C. Levin zu verteidigen und sie zugleich zu verfeinern. Für ihn sind die Überschriften der vier Propheten nach dem Vorbild von Jes 1,1 gebildet und in ihrer gegenwärtigen Gestalt von vornherein für das Vierprophetenbuch geschaffen worden. Zusätzlich arbeitet Schart »schriftenübergreifende Kompositionsstrukturen« (67) heraus und erhebt die wesentlichen gemeinsamen theologischen Akzente, die der Zusammenstellung der vier Prophetenbücher zugrunde liegen und weitgehend dem Bereich der deuteronomistischen Theologie zugehören – B. M. Zapff (79–101) schließlich betrachtet das Vierprophetenbuch aus dem speziellen Blickwinkel des Michabuches heraus. Er untersucht einerseits Texte, die ein »Vorwissen« besitzen, das sich nicht aus dem Michabuch selber erklären lässt (z. B. Mi 1,2.5.9), und findet andererseits in Mi 1–3 als dem Kern des Michabuches sprachliche und konzeptionelle Berührungen mit anderen Prophetenbüchern, besonders mit dem Buch Amos, die am besten als Bezugnahmen auf sie verständlich werden. Beide Beobachtungsreihen führen ihn zur Vermutung, dass »die Michaschrift […] erst im Rahmen eines Mehrprophetenbuches […] entstanden« sei (100), möglicherweise mit der Perikope von der Völkerwallfahrt (Mi 4,1–3) als Höhepunkt und Abschluss.
In deutlichem Kontrast zu derartigen Versuchen, ein frühes Mehrprophetenbuch zu rekonstruieren, legt P. Machinist in einem Beitrag, dem man die jahrelange Vertrautheit mit den Texten abspürt, das Buch Nahum aus (103–130): Es ist ein prophetisches Einzelbuch, das literarisch einheitlich ist und in dem die ungewöhnliche Rolle des Wassers darauf verweist, dass sein Verfasser schon Kenntnis von der Zerstörung Ninives 612 v. Chr. besaß. Freilich muss eine derartige Deutung des Nahumbuches den zuvor beschriebenen Analysen keineswegs zwingend widersprechen; literarisch ist das Buch Nahum von Büchern wie Amos und Micha denkbar weit unterschieden.
Auch unter den folgenden Beiträgen beschäftigen sich einige mit dem Problem der XII. Bei der Frage nach einer sozialen Botschaft des Gesamtwerks unterscheidet R. Kessler (213–230) überzeugend zwischen Themen der Sozialkritik als solcher, die aufgrund zeitbedingter Umstände bei fast jedem Propheten variieren – eine gewisse Nähe zueinander weisen die Bücher Amos und Micha auf –, und den Folgen, die die Propheten aus ihnen ziehen. Nur bei Letzteren zeigen sich im Laufe der Zeit – besonders in jüngeren Passagen des Zephanjabuchs – Rückbezüge auf Aussagen der älteren Propheten, die miteinander kombiniert werden und ein werdendes Buch der XII widerspiegeln. Kessler folgert, »dass Zefanja in seiner Endgestalt bewusst so formuliert wurde, dass das Buch zusammen mit Amos und Micha gelesen werden soll« (227). – F. X. Sedlmeier schließlich bietet beachtenswerte Erwägungen zur Frage, warum das Buch Hosea die XII einleitet (425–440), während P. B. Hartog die unterschiedlichen Funktionen und Intentionen früher Handschriften der XII in und außerhalb von Qumran herausarbeitet (411–424), die auch schon einleitend kurz Fabry berührt hatte (4 f.).
Zwei sehr lesenswerte Beiträge gehen über den Horizont der XII noch hinaus. In einem glänzenden Aufsatz behandelt J. Gärtner anhand zweier zentraler Beispiele die komplexen Bezüge zwischen dem Jesajabuch und den XII (131–156). Dabei zeigt sie einerseits, wie spannungsvoll, ja geradezu sperrig der Text Mi 4,1–3 par. Jes 2,2–4, der beiden Büchern gemeinsam ist, im näheren Kontext des Jesajabuchs und genauso in dessen Buchkontext steht, so dass seine Priorität im Michabuch, wo er stark vernetzt ist, als erwiesen gelten kann; andererseits anhand von Jes 13, dem hermeneutischen Kopfstück von Jes 13–23, wie hier mit dem »Tag JHWHs« ein Thema, das für die Entstehung der XII zentrale Bedeutung besitzt, einen Teil des Jesajabuchs prägt, ohne hier doch »buchbildende Kompositionslinien« zu entwickeln. Dadurch, dass Jes 13 seinerseits in Joel 1–2 (und Sach 14) rezipiert wird, ist eine relativ frühe Verbindung zwischen dem Jesajabuch und den XII bezeugt; eine Rekonstruktion der Geschichte des Wachstums der XII müsste eigentlich das Jesajabuch (und noch andere Prophetenbücher) miteinbeziehen. Die These O. H. Stecks, dass die Entstehung des Buches der XII wesentlich vom Wachstum des Jesajabuches beeinflusst sei, ist einmal mehr als zu einlinig erwiesen. – Mit ganz anderen, primär statistischen Mitteln untersucht dagegen J. Krispenz mit großer Sorgfalt intertextuelle Bezüge zwischen den XII und der Weisheitsliteratur auf sprachlicher, aber auch formaler und motivlicher Ebene (183–212). Freilich bestehen zwischen den einzelnen Prophetenbüchern bemerkenswerte Unterschiede – die deutlichsten Bezüge zur Weisheit bietet das Hoseabuch –, und diese Bezüge sind für Krispenz zumindest im Fall der älteren Texte eher auf die Bildung der Propheten und Tradenten zurückzuführen. Literarische Bezugnahmen lassen sich nur in sehr seltenen Fällen wahrscheinlich ma­chen. Offensichtlich haben sich die beiden literarischen Bereiche der Prophetie und der Weisheit weitgehend unabhängig voneinander entwickelt.
Unter den restlichen Aufsätzen, die hier nur noch genannt werden können, möchte ich besonders zwei Beiträge zur Messiaserwartung einerseits in den XII von A. Rofé und andererseits im Targum Jonathan zu den XII von A. Houtman hervorheben. Die übrigen Aufsätze betreffen Einzelbücher (Joel: D. Scaiola und E. di Pede sowie H. van Grol; Amos [zur LXX des Buches: E. Bons; zu Am 4: A. L. H. M. van Wieringen]); die Abfolge Obadja-Jona-Micha (A. S. Mumbere); Jona (B. Schlenke); Mi 4 im Vergleich mit Jes 60 (A. Spans); Maleachi (I. Balla; A. van der Wal); daneben Einzelthemen (zur Löwenmetaphorik in den XII: P. Van Hecke; zu Friedensvorstellungen: E. Scheffler), neue methodische Fragestellungen (zur Anwendung von Ergebnissen der Traumaforschung auf die Exegese biblischer Texte: I. Fischer zu Jona; A. Groenewald zu Mi 4; zur Performanz als Gestalt der Exegese: H. Utzschneider zu Joel 1–2) sowie Beiträge zur Wirkungsgeschichte (O. Dyma zu Sach 12,10; M. S. Ibita zu Mi 6; S. Koch zu Mal 3,22–24).