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Ausgabe:

September/2019

Spalte:

882–885

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Bortz, Anna Maria

Titel/Untertitel:

Identität und Kontinuität. Form und Funktion der Rückkehrerliste Esr 2.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2018. XII, 327 S. = Beihefte zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft, 512. Geb. EUR 99,95. ISBN 978-3-11-056878-3.

Rezensent:

Bernd U. Schipper

Die Erkenntnis, dass das Esra-Nehemiabuch einen eigenen theologischen Entwurf enthält und nicht unkritisch als Primärquelle zur Rekonstruktion der Geschichte der nachexilischen Epoche genutzt werden kann, hat zu weitergehenden literaturgeschichtlichen Fragen geführt. Wo liegt der älteste Kern des Doppelbuches und welche theologischen Konzepte lassen sich in seiner Literaturwerdung erkennen? Besondere Bedeutung kommt dem einleitenden Ab­schnitt Esr 1–3 zu, der allein schon aus sprachlichen Gründen von den aramäischen Kapiteln in Esr 4–6 abzugrenzen ist. Ausgehend v on dem Kyrosedikt in Esr 1,1–4 werden über die Erlaubnis zur Heimkehr und den Aufbruch aus Babylonien die Etappen bis zum Altarbau und der Grundsteinlegung des Tempels beschrieben (Esr 3).
Die bei Sebastian Grätz in Mainz entstandene Dissertation von Anna Maria Bortz stellt die Rückkehrerliste in Esra 2 in den Mittelpunkt und damit einen Text, der zuletzt ausführlich von Sigmund Mowinckel im Jahr 1964 bearbeitet wurde (Studien zu dem Buche Esra-Nehemia, SNVAO.HF 3). B. bietet nicht einfach eine Untersuchung der langen Liste in Esr 2,1–70, sondern analysiert den Text als genuinen Bestandteil von Esr 1–3. Im Zentrum stehen zwei Fragen: 1. Geht Esra 2 auf eine authentische Liste zurück, wie Mowinckel meinte, oder handelt es sich um eine spätere fiktionale Komposi-tion? 2. Welche Funktion hat die Liste in ihrem literarischen Kontext (15; vgl. 184)?
Die Arbeit setzt mit einer Analyse der Dreifachüberlieferung der Rückkehrerliste in Esr 2; Neh 8,6–72 und 3 Esr 5,7–45 an (Kapitel 2), um dann die Liste in Esr 2,1–70 und damit den Text, von dem die beiden anderen literarisch abhängig sind, detailliert zu untersuchen. Die in ihrer Ausführlichkeit und philologischen Genauigkeit geradezu mustergültige Exegese von Esr 2 im Kontext von Esr 1–3 (Kapitel 2; 57–168) führt zu einem dreifachen Ergebnis:
(1.) Esr 1 ist eine literarisch einheitliche Komposition, die durch die Narrative in V. 1.5.8 strukturiert wird und eine theologische Neuerzählung der aramäischen Chronik in Esr 5,13–18; 6,3–5 bietet. Wie bei Deuterojesaja wird die Heimkehr als zweiter Exodus entfaltet (Leitbegriffe הלע und אצי), jedoch durch Anspielungen auf Ex 25; 35 und 1Kön 9,11 nunmehr der Tempel in den Mittelpunkt gestellt (110). Demgegenüber ist Esr 2,1–70 (2.) ein literarisch gewachsener Text, der durch die Rahmennotizen in Esr 2,1 und 2,70 sowie 2,68 f. literarisch an Esr 1,5 f.7–11 anknüpft. Mit der Fokussierung auf Juda und Jerusalem sowie der Trennung von Laien und Kultpersonal weist die Liste eine innere Struktur auf, die einer theologischen Programmatik folgt. Durch Bezüge auf die Exodusthematik (z. B. in 2,1 auf Gen 46,8; Ex 1,1; Num 26,4b), die auch die hohen Gesamtzahlen erklären (vgl. Ex 12,35–38), sowie die Bestimmung Judas als vorexilisches »Land der Väter« und nicht etwa als persische Provinz Jehud wird die Exodustypologie inhaltlich enggeführt: Nicht ganz Israel, sondern nur noch Juda und Benjamin sind das »wahre Israel« (148 f.).
Während die literarkritische Abgrenzung sekundärer Verse in Esr 2 nicht klar zu entscheiden ist, lässt sich in Esr 3 eine Bearbeitungsschicht erkennen (3.). Diese steht mit der Betonung des Opferbetriebs und kultischer Fragen sowie der Ausrichtung auf die Tora des Mose den Chronikbüchern nahe (vgl. 2Chr 23,18). Die Grundschicht in 3,8abα.9aβ.10a.12 f. hat ursprünglich unmittelbar an Esr 2,70 angeschlossen und zeigt ein Interesse am Bau vorexilischer Heiligtümer (vgl. für Esr 3,8 Ex 40,17 und 1Kön 6,1). Terminologische Gemeinsamkeiten mit Hag 2,18 (Esr 3,6), Hag 1,12.14 (Esr 3,8) und Hag 2,3 (Esr 3,12) sowie thematische Übereinstimmungen mit Deuterojesaja in Esr 3,6–13* lassen ein theologisches Programm erkennen (178), das mit den Grundlinien von Esr 1–2 übereinstimmt: Die in Haggai und Sacharja prominenten Führungspersonen Serubbabel und Jeschua treten zugunsten des bei Deuteroje-saja wichtigen und in Esr 1,1 genannten Königs Kyros in den Hintergrund. Jerusalem und der Tempel bilden das theologische Zen­trum eines »Juda«, das bis auf die Erwähnung von Kyros keinerlei Anklänge an die Perserzeit enthält, wohl aber enge Bezugnahmen auf das vorexilische Juda.
Auf die Analyse von Esr 1–3 folgt die Bearbeitung der eigentlichen Frage: die Form und das Namensinventar der Rückkehrerliste in Esr 2,1–70. Bei der Form (Kapitel 4) fällt eine bemerkenswerte Übereinstimmung mit den Musterungslisten in Num 1–4 und 26 auf, mit dem Unterschied, dass Esr 2 nicht militärischen Zwecken dient, sondern eine Gemeindezugehörigkeit definiert. Diese ähnelt den griechischen Demen- oder Phratrienlisten sowie Listenmaterial aus Qumran; es geht um die Zugehörigkeit zu einer exklusiven Gruppe, die nicht ethnisch, sondern religiös bestimmt wird (224). Dadurch erhält der Erzählzusammenhang Esr 1–3 eine klare Pragmatik, die von dem inhaltlichen Dreischritt »Exodus – Zählung – Kulthandlung« bestimmt wird: Zum »wahren Israel« gehören nur jene, die Teil des zweiten Exodus (Esr 1) sind, zu Gottes erwähltem Volk gehören (Esr 2) und als Kultstifter und Bauherren des zweiten Tempels hervortreten (Esr 3).
Die Rückkehrerliste in Esr 2 erweist sich somit als integraler Bestandteil der Gesamtkomposition von Esr 1–3. Entscheidend ist, dass die Kontinuität zum vorexilischen Israel nicht genealogisch hergestellt wird, sondern narrativ, d. h. über die Verbindung zur Exodusthematik. Denn die Untersuchung der Namen selbst (Kapitel 5) zeigt eine bemerkenswerte Nähe zum Onomastikon der babylonischen Jahwe-Verehrer. Esr 2 lässt eine vergleichbare »etymologische Diversität« (235) erkennen wie die Personennamen der in Nippur exilierten Judäer sowie die Namen aus dem Mura šu-Archiv. Demgegenüber finden sich kaum inneralttestamentliche Parallelen. Damit steht die Liste in Esr 2 gerade nicht in Kontinuität zum vorexilischen Israel und enthält auch keine Gemeinsamkeiten mit den Personennamen der Judäer von Elephantine, wohl aber mit dem babylonischen Onomastikon (250). Dies führt zu einer völlig neuen Perspektive: »Die in Esr 2 gelisteten Personen werden so von Einwanderern zu Rückkehrern, von einer Gruppe, die unter dem multiethnischen, multireligiösen Einfluss des babylonischen Exils stand – und so klar mit einem Legitimationsdefizit zu kämpfen hat – zum wahren und einzigen Israel.« (264)
Die Arbeit schließt mit literaturhistorischen Überlegungen zur Datierung des Textes. Das Namensinventar in Esr 2 setze zwar Verhältnisse der neu-babylonischen bzw. persischen Epoche voraus, datiere jedoch trotz des Fehlens griechischer Namen (271) in die hellenistische Zeit. Insofern kann die eingangs genannte Frage nach Historizität oder Fiktionalität von Esr 2 mit einem klaren »sowohl als auch« beantwortet werden. Die Rückkehrerliste ist, so B., »literarisches Produkt und zeitgeschichtliche Quelle« zugleich (273).
B. hat eine ausgezeichnete Arbeit vorgelegt, die durch ihre philologische Genauigkeit, die Sorgfalt der Argumentation und das ausgewogene Urteil überzeugt. Auf der Basis einer profunden Textkenntnis und eines souveränen Umgangs mit der Sekundärliteratur wird eine spannende These entwickelt, deren Sprengkraft sich allerdings erst auf den zweiten Blick erschließt. Denn sofern man den knappen Ausblick auf »Esr 1–6 und die Gesamtkomposition des Esr-Neh-Buches« (276–279) weiterdenkt, ergeben sich weitreichende Perspektiven:
Wenn in Esr 2 auf der Basis von Listenmaterial aus dem 6.–5. Jh. v. Chr. ein Identitätskonzept entworfen wird, das die nach Babylonien Deportierten und von dort Zurückgeführten zum wahren Israel macht, liegt die Hypothese nahe, dass Teile des Esra-Nehemiabuches auf eine Gruppe zurückgehen, die mit dem »Israel« der vorexilischen Zeit nichts zu tun hat. Bedeutet dies, dass die im Esra-Nehemiabuch genannten, radikal auf Abgrenzung ausgerichteten Identitätsmarker des perserzeitlichen und hellenistischen Judentums mit Menschen zu verbinden sind, die selbst als »Fremde« ins Land kamen? An dieser Stelle wäre es lohnend gewesen, die im Anhang der Arbeit beigefügten Etymologien der Namen von Esr 2 und Neh 7 (280–297) noch genauer auszuwerten und dabei auch das Material aus Elephantine in den Blick zu nehmen. Denn dort zeigt sich im Gegensatz zur Analyse von B. (236) ein vergleichbares Onomastikon wie in den Texten des Mura šu-Archivs (vgl. dazu den Überblick bei R. G. Kratz, Historisches und biblisches Israel, 22017, 186–203). B. orientiert sich bei der Bewertung des Namensinventars in den aramäischen Texten von Elephantine zu stark an der Interpretation von Bezalel Porten (236), der jedoch – zumal in seiner von B. zitierten Arbeit »Archives from Elephantine« aus dem Jahr 1968 – bemüht war, das von ihm so bezeichnete »Judentum« auf Elephantine möglichst aller nicht-jüdischen Charakterzüge zu entkleiden. Ein Blick in die Namenslisten wie etwa die Zeugen in TAD B3.2; B2.2; B2.3; B2.4; B2.6 oder auch B2.11 hätte zu einem anderen Ergebnis geführt, denn letztlich unterscheidet sich das Onomastikon von Elephantine, wie man paradigmatisch an den Namen der Söhne der Mibtahjah und ihrer Bezeichnung als »Judäer« sehen kann (B2.6; B2.9), nur wenig von dem der Texte aus Babylon. Bedeutet dies, so wäre weiterhin zu fragen, dass die Konstruktion eines »wahren Israel« rein fiktionalen Charakter hat und die in den Texten aus Elephantine und Babylon, aber auch in Esr 2 zu findende »etymologische Diversität«, um die treffende Begrifflichkeit von B. aufzugreifen, letztlich die einzig historisch nachweisbare soziale Gestalt der Jahwe-Religion in der Perserzeit war? Sollte dies so sein, wäre wiederum Vorsicht angebracht, den historischen Kern von Esr 2, d. h. das Namensinventar, mit der babylonischen Diaspora zu verbinden. Die Namen könnten auch mit dem Onomastikon von Elephantine erklärt werden, womit der Kern von Esr 2 nicht zwingend nach Babylon verweisen würde (in diesem Zusammenhang ist auch auf das Onomastikon der Texte vom Wadi Daliye zu verweisen, das ähnlich international ist).
Eine inhaltliche Anfrage stellt sich bezüglich der Datierung des Textes und der Stoßrichtung gegen das Heiligtum der samarischen Jahwe-Verehrer auf dem Garizim. B. folgt der Mainzer Habilitationsschrift von Benedikt Hensel, der die Polemik gegen die Samarier auf dem Garizim in hellenistische Zeit datiert (Juda und Samaria. FAT 110, 2016, 229 f.). Angesichts dessen, dass das perserzeitliche Heiligtum dem Ausgräber Yitzhak Magen zufolge bereits um 480 v. Chr. existierte, würde eine theologische Profilierung wie in Esr 1–3 aber auch schon in der Perserzeit Sinn ergeben. Denn mit der strikten Ausrichtung auf den Tempel von Jerusalem und dem An­spruch, das »wahre Israel« zu sein, ergibt sich ein Gegenüber zwischen den Trägerkreisen von Esr 1–3 und anderen sozialen Ge­stalten der Jhwh-Religion, sei es im Land selbst, in Babylon, in Elephantine oder auf dem Garizim.
Insgesamt sollen die Anfragen das Verdienst von B. nicht schmälern. Sie hat eine wegweisende Arbeit vorgelegt, die auf der Basis einer detaillierten Exegese Perspektiven aufzeigt, die nicht nur zu einer Neubewertung der Literargeschichte des Esra-Nehemiabuches führen, sondern auch zu einem tieferen Verständnis der nachexilischen Zeit verhelfen.