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Ausgabe:

Juli/August/2019

Spalte:

831–832

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

[Riess, Richard]

Titel/Untertitel:

Kleine Geschichte der Seelsorge im 20. Jahrhundert. Biografische Essays. Festgabe für Richard Riess zum 80. Geburtstag. Hrsg. v. K. Raschzok u. K.-H. Röhlin.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2018. 368 S. m. 40 Abb. Kart. EUR 34,00. ISBN 978-3-374-05622-4.

Rezensent:

Isabelle Noth

Eine vertiefte und wissenschaftlichen Ansprüchen genügende Aufarbeitung der Geschichte der Seelsorge im 20. Jh. stellt im deutschen Sprachraum ein dringendes Forschungsdesiderat dar. An­ders als im englischsprachigen Raum, wo schon mehrere solcher Studien existieren (z. B. Myers-Shirk 2009), handelt es sich im deutschen Sprachraum um ein brachliegendes und vernachlässigtes Forschungsfeld. Umso erfreuter greift man zu dem kürzlich er­schienenen Werk mit dem Titel »Kleine Geschichte der Seelsorge im 20. Jahrhundert«. Eine Darstellung derselben geschieht mittels 39 biographischer Essays. Die beiden Herausgeber halten in ihrem Vorwort fest, sie hätten sich dabei auf die Seelsorgebewegung konzentriert. Dieser ihnen zufolge »synonym« für Pastoralpsychologie verwendete Begriff verweise sachlich nämlich sowohl zurück auf die Anfänge des 20. Jh.s und die theologische Rezeption der Psychoanalyse wie auch auf die Klinische Seelsorgeausbildung in den 1970er Jahren und auf poimenisch-konzeptionelle Weiterentwicklungen.
In der kurzen Einführung in den Sammelband erläutern die Herausgeber den von ihnen gewählten prosopographischen Zu­gang, der zu bisher kaum bekannten Informationen über die Menschen hinter den Konzepten führen soll, die systematisch er­forscht werden und neue Zusammenhänge erkennen lassen sollen. Es handelt sich um eine »wissenschaftliche Horizonterweiterung« (16). Doch ist es ausgerechnet diese Systematik bzw. deren mangelhafte Umsetzung, die den Wert des Bandes leider schmälert. Man ge­winnt den Eindruck, der prosopographische Zugang und sein Anspruch, Netzwerke und Zusammenhänge aufzuzeigen, widerspiegele sich mehr in der Zusammensetzung der Autoren – allesamt Schüler und Schülerinnen sowie Wegbegleiter und Weg-begleiterinnen des mit der Festschrift zu ehrenden Praktischen Theologen Richard Riess – als in der Auswahl der mit einem bio-­graphischen Essay bedachten Personen, die die Geschichte der Seelsorge im 20. Jh. repräsentieren sollten. Wie anders ließe es sich sonst erklären, dass zwar Bion mit einem Essay berücksichtigt wird (von Wolfgang Wiedemann, der beim Jubilar einst promoviert hatte), aber nicht die für die Geschichte der Seelsorge und insbeson-dere die Seelsorgebewegung doch unvergleichlich wichtigeren Protagonisten namens Freud und Jung? Wieso wiederum findet Dorothee Sölle in einer Geschichte der Seelsorge Aufnahme (von Renate Jost)? Wieso wird der Schweizer Christoph Morgenthaler gewürdigt, aber nicht der in einer Geschichte der deutschen Seelsorgebewegung zentrale Michael Klessmann, der übrigens kaum einverstanden sein dürfte mit der Aussage, die beiden Begriffe Seelsorgebewegung und Pastoralpsychologie könnten synonym verwendet werden?
Einem wirklich prosopographischen Zugang im Sinne der sys-tematischen und repräsentativen Erfassung der Zugehörigkeit zu einem bestimmten Personenkreis stand offensichtlich das gleichzeitige Bedürfnis im Wege, den Schüler- und Weggefährtenkreis des Jubilars zu berücksichtigen, was wiederum auf die besonderen Schwierigkeiten von Festschriften verweist. Der ernsthafte Versuch einer prosopographischen Erfassung der Seelsorge im 20.  Jh. hätte methodisch eine übergreifende Auswertung erfordert und ein Aufzeigen der erzielten neuen Erkenntnisse zum historischen Gesamtzusammenhang. Richard Riess als einem der »Pionier[e] der deutschen Pastoralpsychologie«, dessen Essay vom Erstherausgeber verfasst wurde, wird und darf all dies nicht bekümmern, denn für sich genommen sind die Essays – so unterschiedlich ihre Qualität jeweils sein mag, und jenes über ihn zählt zu denen, die qualitativ deutlich hervorstechen – ein weiterer Schritt hin zu einer nach wie vor dringend benötigten Geschichte der Seelsorge im 20. Jh.