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Ausgabe:

Juli/August/2019

Spalte:

821–825

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

[Hermelink, Jan]

Titel/Untertitel:

Reflektierte Kirche. Beiträge zur Kirchentheorie. Hrsg. v. K. Merzyn, R. Schnelle u. C. Stäblein.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2018. 340 S. = Arbeiten zur Praktischen Theologie, 73. Geb. EUR 68,00. ISBN 978-3-374-05568-5.

Rezensent:

Ralph Kunz

Die Festschrift zum 60. Geburtstag von Jan Hermelink versammelt gattungsgemäß einen Chor kollegialer Stimmen, die das Schaffen des Jubilars ehren. Es war den Herausgebern ein Anliegen, die Beiträgerinnen und Beiträger auf das Thema »Reflektierte Kirche« zu verpflichten und so jenes Quodlibet zu verhindern, das literarische Festgaben oft auszeichnet. Das Vorhaben ist gelungen. Der Titel greift einen zentralen kirchentheoretischen Grundgedanken von Jan Hermelink auf. Er betrachtet die theoretische Selbstbeobachtung der Kirche als eine ihrer Schlüsselaufgaben. Es ist ein Leitgedanke, der in seinem kirchentheoretischen Hauptwerk »Kirchliche Organisation und das Jenseits des Glaubens« entfaltet wird. Der Band sortiert die entstandenen Artikel anhand der kirchentheo-retischen Leitbegriffe »Organisation«, »Institution«, »Interaktion« und »Inszenierung« und ergänzt diese um die Perspektiven »Regie« und »Öffentlichkeit«. Jedes der sechs Kapitel wird dabei durch einen Artikel eröffnet, der den Leitbegriff umfassend praktisch-theologisch ausarbeitet.
Das Kapitel »Organisation« eröffnet Birgit Weyel mit Überlegungen unter dem Titel »Reflektierte Praxis dynamischer Selbststeuerung – Kirche als Organisation« (15–29). Ihre Zusammenfassung des Hauptwerks von Hermelink legt eine Grundlage für den ganzen Band. Sie würdigt Hermelinks Beitrag zur Kirchentheorie und sieht deren Gewinn darin, dass sein Organisationsbegriff »andere soziale Formen integrieren kann und paradoxerweise die Kirche als Organisation den Raum für religiöse Praktiken, ›das Jenseits des Glaubens‹, eröffnet« (29). Anders als behauptet könne mit einem solchen Organisationsbegriff eine Reduktion auf die be­triebswirtschaftliche Perspektive vermieden werden. Eine stärkere Einbeziehung der Netzwerktheorie könnte weitere Sehhilfen bieten.
Karin Bassler geht in »Organisation und Gabe – Kirchliche Stiftungen aus praktisch-theologischer Sicht« (31–44) auf die Chance und Herausforderung kirchlicher Stiftungen ein. Sie beleuchtet die Kritik am Paternalismus oder der Intransparenz der Stiftung und deren vormodernen Gabe-Charakter und plädiert für ein aktives Angehen dieser Monita. Mit Gareth Morgans Klassiker der Managementtheorie »Images of Organizations« (1997) versucht Lutz Friedrichs in »Kirchliche Bestattung als theologische Dienstleistung. Ein organisationstheoretischer ›Erkundungsprozess mit offenem Ausgang‹« (45–58) ein alter-natives Denkmuster. Er schlägt vor, »die Bestattung als theologische personenbezogene Dienstleistung zu verstehen und diese im Dialog unter anderem mit Bestatterinnen und Bestattern zu entwickeln.« (57) Bernd Schröder kommt in »Verfasstes Judentum – Thema und Gesprächspartner Praktischer Theologie?« (59–73) zum Schluss, dass im Rahmen einer pluralitätssensiblen Kirchentheorie eine sorgfältige Lektüre der eigenständigen religiösen Praxis- und Deutungstradition des ›neuen Judentums‹ im »Sinne eines von Wertschätzung und Vertrauensvorschuss, gewissermaßen von verwandtschaftlichem Geist getragenen Begegnens« (73) möglich sei.
Im zweiten Kapitel »Institution« macht Christian Grethlein mit seinem Beitrag »Kirche als ›Institution‹ – Kritische Rekonstruktion einer kirchentheoretischen Bestimmung« (77–92) den Auftakt. In einem ersten Teil entfaltet er die begriffsgeschichtliche Einordnung von Institution von Dietrich Rössler (1986) über Rainer Preul (1997) bis Jan Hermelink (2011) und Eberhard Hauschildt/Uta Pohl-Patalong (2013). Dabei zeichnet er nach, warum der Institutionsbegriff ergänzt und relativiert werden muss (82) und die Erweiterung der Kirchentheorie als »Reflexionsinstanz für einen spezifischen Bereich der Kommunikation des Evangeliums« (Hauschildt/Pohl-Patalong 2013, 410) in die richtige Richtung weist. Allerdings haben weder Hermelink noch Hauschildt/Pohl-Patalong das wahre Ausmaß des Bedeutungsverlustes der Institution Kirche erfasst, wie sie empirisch an der Digitalisierung der Kommunikation und dem Wechsel der religiösen Kommunikation in den Modus der Authentizität abzulesen sei. Grethlein sieht hier wichtige Impulse zur »Weiterentwicklung der Organisationsgestalt von Kirche – jenseits der Form einer staatsanalogen Institution« (92).
Etwas weniger revolutionär sind Jochen Cornelius-Bundschuhs Thesen zum Dekanat als Schlüsselamt in der Transformation der evangelischen Volkskirche unter dem Titel »Handlungsfähig im ›Dazwischen‹« (93–97). Interessant ist Eberhard Hauschildts Vergleich von Hermelinks Kirchentheorie mit der Schrift »Die Verfassung der Mitte« des Juristen, Rechtswissenschaftlers und Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts Andreas Voßkuhle. In seinem Beitrag »Institution Kirche – Zu Jan Hermelinks Kirchentheorie der Mitte« (99–110) zeigt er auf, dass in der Mitte selbst eine jenseits ihrer selbst liegende Vorgabe liege, »die erst die Unschärfen, den inneren Pluralitäts- und Diskurscharakter der Mitte als mehr denn unausweichlich konstituiert.« (109) Damit gewinnt auch der Begriff der Inszenierung noch einmal an Kontur. Beleuchtet er doch das Eigene und Unverwechselbare einer interaktiven Interpretation des Glaubens, wie sie paradigmatisch am Gottesdienst erkennbar wird. Hier kommt das »alles Irdische relativierende und zugleich heilende Jenseits von Organisation als Quelle ihres Lebens« (110) zur Darstellung. Von dieser Quelle ist auch im theologisch prägnanten Beitrag von Martin Laube die Rede. Er entwickelt in »Vergegenwärtigung des Getauftseins – Überlegungen zum sakramentalen Charakter der Taufe« (111–124) die These, dass bei der Tauftheologie der Akzent konsequent vom Taufakt auf das Taufgedächtnis zu verlagern sei – »in dem Sinne, dass erst in der Vergegenwärtigung des je eigenen Getauftseins die im Taufakt zeichenhaft zugesprochene Gnade Gottes zu ihrer sakramentalen Wirkung gelangt.« (121) Der ebenso kurze wie gehaltvolle Beitrag von Christian Stäblein »Freiheitsräume – Praktisch-theologische Rede zwischen Reifikation und Verflüchtigung« (125–131) macht elegant auf eine Schwäche von Hermelinks Kirchentheorie aufmerksam, indem er zuerst sein kritisches Potential lobt und dann eine mögliche Gefahr anzeigt. Die Betonung der Distanz der Organisation mit der Formel »jenseits des Glaubens« kann nach Stäblein auch als eine Absage an die Verdinglichung der Institution bzw. der Gemeinde gelesen werden. Es sei diese Verdinglichung eine »falsche Reifizierung« (127), also die Auffassung, die menschlichen Produkten eine außer- oder gar übermenschliche Bedeutung zuschreibe (mit Berger/Luckmann 1980, 94 f.) Die Kehrseite dieser Kritik an der Verdinglichung trage allerdings die Gefahr der Verflüchtigung mit sich. Stäblein zitiert den Vorgänger auf Jan Hermelinks Lehrstuhl, Manfred Josuttis, der sich in seiner Dissertation mit der Anselm-Interpretation von Karl Barth auseinandersetzte und daraus eine Dialektik gewann, mit der dieser Gefahr begegnet wird. Gotteserkenntnis sei kein ›Haben‹, sondern der noetische Nachvollzug eines ontischen Vorsprungs, der auf Seiten der Menschen die Gehorsamshaltung des Gebets entspreche. Stäblein schlägt nun einen (kühnen) Bogen von diesem Raum des Gebets zum Raum der Freiheit jenseits von Verdinglichung und jenseits von Verflüchtigung (130), den er in der Kirchentheorie von Jan Hermelink ausmachen will.
Das kurze Kapitel, das dem Leitbegriff der Interaktion folgt, beginnt ebenfalls mit einer spannenden Gegenüberstellung. Ulrike Wagner-Rau vergleicht in »Vertrauensbildung und Kreativität – Das Spannungsfeld der Interaktion« (135–150) die Ansätze von Jan Hermelink und Isolde Karle und kommt dabei zu folgendem Fazit: »Während Hermelinks Entwurf die Interaktion tendentiell der Organisation zu- und unterordnet, ist es bei Karle anders herum: Die Interaktion braucht zwar Organisation, aber sie entfaltet auch jenseits davon ein Eigenleben, auf das die Kirche grundlegend angewiesen ist.« (144) Wagner-Rau will aber dieses Eigenleben nicht (wie Karle) mit einer Favorisierung der Parochie verknüpfen, sondern verweist auf netzwerktheoretische Ansätze, die sich über den innerkirchlichen Kontext hinaus entfalten. Ein anderes Theorie-design schlägt Uta Pohl-Patalong in »Kirchliche Reformprozesse als ›Interaktionen‹? Eine kirchentheoretische Begegnung mit dem symbolischen Inter-aktionismus« (151–164) vor. Ihr Impuls, den Ansatz des symbolischen In­ter­aktionismus kirchentheoretisch auszuloten, ist verheißungsvoll. Es geht dabei um ein Kirchenbild, das seitens der Interpreten im Wandel ist, weil sich die Ges-ten und Interpretationsprozesse verändern. »Reformprozesse erscheinen in dieser Perspektive als der Versuch einer veränderten Interaktion mit Menschen oder Gruppen von Menschen mit dem Ziel neuer Interaktionen und dadurch neuer Bedeutungen von Kirche.« (156)
Das dritte und längste Kapitel widmet sich dem Stichwort »Inszenierung«. Ursula Roth bietet in »›Inszenierung‹ und darüber hinaus – Ein Beitrag zur praktisch-theologischen Inventur« (169–193) zunächst einen kurzen Überblick zur Diskursgeschichte von Inszenierung – ein Leitbegriff, dessen Stern am Sinken ist. Es könnte sein, so Roths vorsichtige Einschätzung, dass der Inszenierungsbegriff »aufgrund seiner eingeschränkten Reichweite allmählich von geeigneteren Begriffen abgelöst wird« (184). Roth prüft darum weitere praktisch-theologische Reflexionsformeln. Die Prüfung mündet in der Prognose, dass die Ergänzung durch den Artikulationsbegriff kirchentheoretisch höchst relevant ist, weil er verdeutlichen kann, »dass sich Kirchenleitung nicht nur auf die im Rahmen kirchlicher Sozialität verortete religiöse Praxis bezieht, sondern prospektiv wie retrospektiv immer auch auf die christlich-religiöse Praxis jenseits unmittelbarer Sozialität bezogen ist.« (193)
Sowohl der Beitrag von Wilhelm Gräb »Die kirchlichen Inszenierungen des Glaubens und ihre Resonanzen in der gelebten Religion – Einige Anmerkungen zu einer religionskulturhermeneutischen Erweiterung der Kirchentheorie« (195–208) als auch der Artikel von Albrecht Grözinger »Der zwanglose Zwang der Anmutung – Welchen Sinn es hat, ästhetisch von Gott zu reden?« (209–216) verknüpfen die Aufgabe der kirchentheoretischen Reflexion mit einem Begriff, der im eigenen Schaffen zentral ist. Gräb plädiert mit der Unterscheidung von subjektiver Religion eins und objektiver Religion zwei eindringlich dafür, die Inszenierungsaufgabe religionskulturhermeneutisch zu begreifen, weil der Religion eins »weithin der Kontakt zu den kirchlichen Inszenierungen des christlichen Glaubens verloren gegangen« (208) sei. Albrecht Grözinger erweitert Bultmanns klassische Frage »Welchen Sinn hat es, von Gott zu reden?« durch die ästhetische Aufgabe der Anmutung und kommt (überraschend) in seiner Quintessenz auf die ebenso klassische These des Antagonisten Karl Barth. »Wir geben in unserer Gottesrede Gott dann die Ehre, wenn wir in einer Sprache der Anmutung sein Ankommen erwarten. Das ist der unverfügbare Sinn, ästhetisch von Gott zu sprechen.« (216) Wo und wie – über das Stichwort der Insze nierung hinaus – der Zusammenhang zur reflektierten Kirchentheorie ge­macht wird, wird in diesem schönen kleinen Essay nicht deutlich. Das gilt auch für Julia Kolls lesenswerten Artikel zum Chorkonzert unter dem Titel »Das geht unseren Seelen nah – Das Chorkonzert als Inszenierung des christlichen Glaubens« (217–230), Gerald Kretzschmars Überlegungen zu »Inszenierte Kirche – Das Beispiel ›Familiengottesdienst‹« (231–242), Konrad Merzyns Beitrag »›Eigentlich hat sich nichts geändert, aber …‹ – Traugottesdienste als performative Inszenierungen« (243–254) und Ricarda Schnelles pastoraltheologischen Text »Inszenierte Berufsgruppe – Die kollektive Dimension des Pfarrberufes am Beispiel der Ordination« (255–266). Möglicherweise hat es, gegen Roth gesagt, mit der zu großen Reichweite des Inszenierungsbegriffs zu tun, dass in diesem Kapitel der Festschrift die Bezüge zur reflektierten Kirchentheorie am meisten zerflattern.
Nur gerade ein Artikel findet sich beim Kapitel »Regie«. David Plüss nutzt in »Regie – Variationen zu einem zentralen Aspekt der Kirchentheorie« (269–287) die Bühne des Textes für einen Vergleich der Theaterregie, die er in fünf Punkten als »kirchentheoretische Fremdprophetie« (285 ff.) auslegt. Er nennt insbesondere ihre historisch gewachsene und veränderliche Größe, die sich als vielgestaltige und demokratische Leitung, als engagierte Interpretation, als authentische Regie und als unverfügbarer Prozess zeige.
Im letzten Kapitel »Öffentlichkeit« ist es Kristian Fechtner, der mit »Öffentlichkeit – Praktisch-theologische Erwägungen zu einer Dimension der Kirche« (291–301) den Aufschlag macht und in drei Schlaglichtern die Aufmerksamkeit auf das, was Öffentlichkeit meint, lenkt. Anhand der Beispiele – einem Sonntagmorgengottesdienst, einem öffentlichen Trauerritual nach einem gravierenden Anlass und einer durch eine Gruppe in der Gemeinde initiierten Debatte zur Flüchtlingspolitik – erläutert Fechtner Dimensionen der Öffentlichkeit. Es läuft darauf hinaus, dass Kirche »in der Pluralität ihrer Öffentlichkeiten« auf dem Feld der Öffentlichkeit agiert. Die Notwendigkeit der Differenzierung der Ebenen und der unterschiedlichen Modi wird zum Schluss wieder an den Inszenierungsbegriff zurückgebunden. Ein eigentliches Schlusslicht setzt Wilfried Engemann. Er macht sich Gedanken über das Postulat einer »zeitgenössischen Theologie« und macht in »Theologische Kompetenz und die Attraktivität der Kirche – Anmerkungen zu Jan Hermelinks Thesen zur ›kirchlichen Effizienz‹« (303–320) eine Verbindung zur Göttinger Antrittsrede von Jan Hermelink, die dieser 2002 gehalten hat und die 2004 unter dem Titel »Wie hat die Kirche Erfolg?« erschienen ist. Dass die damals geäußerten Gedanken keineswegs Ladenhüter sind, zeigt die kurze Reprise. Engemann nimmt den Faden auf und spinnt ihn homiletisch weiter. Inwiefern ist die Predigt ein Erfolg für die Kirche? Und worin besteht dieser Erfolg? In einer »Erfolgskritik für Gottesdienst und Predigt« prüft Engemann u. a. den Gedanken, ob eine »attraktive Idee der Kirche in der Predigt als Ferment ihres Erfolgs« (313) bezeichnet werden könne. Das wiederum impliziert, dass die Kirche lebenskundliche Daseinskompetenz zeige (314). Ob die theologische Ausbildung diese Kompetenz fördere, daran zweifelt Engemann (u. a. mit Christian Grethlein) – wohl zu Recht. Den Band beschließt Thomas Schlag mit »›Öffentlichkeit 4.0‹ – Kirchentheoretische Überlegungen zur Gestalt und Gestaltung von Kirche in der digitalen Gesellschaft« (321–335). Auch er kommt zum Schluss, dass sich im Horizont der Digitalisierung der Kommunikation in der Ausbildung einiges ändern sollte und auch ein erheblicher Forschungsbedarf besteht.
Nach der Lektüre dieser Festschrift hat man – den Klang des ganzen Chores im Ohr – ein paar Stimmen herausgehört, die durch ihre prägnanten Texte aufgefallen sind. Man darf also hoffen, dass der Band kein »Pharaonengrab« (Andreas Marti) für kluge Gedanken ist, sondern zur »Krippe« für die eine oder andere neue Reflexion der Kirchentheorie werden wird.