Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juli/August/2019

Spalte:

816–819

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Gräb, Wilhelm

Titel/Untertitel:

Vom Menschsein und der Religion. Eine praktische Kulturtheologie.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2018. VIII, 348 S. = Praktische Theologie in Geschichte und Gegenwart, 30. Kart. EUR 39,00. ISBN 978-3-16-156564-9.

Rezensent:

Dietrich Korsch

Dass die Praktische Theologie die Systematische Theologie benötigt, wenn sie verstehen will, was sie tut, ist unbestreitbar; dass die Systematische Theologie zur Praktischen Theologie wird, wenn sie auf ihre Aufbau- und Kommunikationsbedingungen reflektiert, ebenso. Wie sich beide Disziplinen tatsächlich zueinander verhalten, ist freilich keineswegs immer klar. Hier schafft Wilhelm Gräbs »praktische Kulturtheologie« eine Einheit, die es so weder in der einen noch der anderen Disziplin gibt. Das Buch stellt insofern – als Quintessenz der theologischen Arbeiten G.s – einen Entwurf von eigenem Rang dar. Zu dessen Profil gehört es, historische, systematische und praktisch deutende Aspekte ineinander zu integrieren. Es geht G. konsequent um die geschichtliche Herleitung, die gedankliche Präzisierung und die exemplarische Anwendung einer »Religionskulturhermeneutik«, wie er seine Position in einer zu­sammenfassenden Formel nennt.
Es liegt nahe, die Integration von Praktischer und Systematischer Theologie an Friedrich Schleiermacher anzuschließen. In der Tat machen intensive Schleiermacher-Interpretationen rund einhundert Seiten in dem Buch aus. G. erweist sich darin einmal mehr als hochkompetenter Schleiermacher-Forscher, der es zudem versteht, die entscheidenden Pointen treffsicher zu vermitteln. Um nur zwei wichtige Beispiele anzuführen: 1.) Oft bewegt sich die theologische Debatte im Modus der Entgegensetzung oder Ab­grenzung von Theologie und Philosophie im Blick auf wissenschaftliche Wahrheitsansprüche. Von Schleiermacher aus geurteilt, lässt sich erkennen, dass es sich hier um eine schiefe Kontroverse handelt. Denn eine unmittelbare Konfrontation lässt den konkreten Bezugspunkt der Theologie, die Religion, außer Acht, die doch selbst schon diejenige elementare Deutungsleistung darstellt, auf die sich dann Theologie und Philosophie in unterschiedlicher Weise zu beziehen haben. Es geht also darum, philosophisch und theologisch den Sinn, die Form und die Wahrheitsgestalt der Religion zu thematisieren, statt etwa im Anspruch auf zutreffende Gotteserkenntnis miteinander zu konkurrieren (45–58). Eine abstrakte Entgegensetzung von Theologie und Philosophie lässt die kommunikative Vermittlung unbeachtet, die doch in der Religion im­mer schon vorliegt. 2.) An Schleiermacher kann man deutlich zeigen, dass der Kultur-Begriff nicht bloß ästhetisch-intellektuelle, scheinbar oberflächliche Sachverhalte meint, sondern sich auf die ganze Breite des Menschseins bezieht, also alle historisch-praktischen Dimensionen humaner Existenz in sich fasst. Darum hat es auch eine »Kulturtheologie« nicht mit Epiphänomenen der Oberfläche, sondern mit Elementarfunktionen des Menschseins zu tun (58–70). Aus dieser Einsicht speist sich das, was man Wilhelm G.s fast bekenntnishaft klingenden cantus firmus in diesem Buch nennen kann: »Die Religion gehört zum Menschsein.« (303 u. ö.)
Wie bei Schleiermacher Gefühl und Gefühle zu verstehen sind, wie sich die kommunikative und die organisatorische Gestalt von Kirche zueinander verhalten, wie mit dem religiösen Pluralismus umzugehen ist und welche Konsequenzen all das für die Gestaltung der Gesellschaft und den Aufbau der theologischen Wissenschaft hat – dies sind weitere Themen, über die man kompetente Aufklärung erfährt (70–150). Historische, systematische und praktische Perspektiven sind dabei stets ineinander verwoben; das stärkt die Möglichkeit gegenwärtiger Anwendung dieser Einsichten.
Interessant ist nun, wie die systematisch zentrale Position Schleiermachers selbst historisch kontextualisiert wird. Wenn nämlich G. die pietistische Vorgeschichte des großen Berliner Theologen bei Spener akzentuiert (17–29), dann lässt das auch eine nur scheinbar verborgene Option des aktuellen Berliner Interpreten erkennen, nämlich das Interesse an einer authentischen und freien Frömmigkeit, die mithin die fromme Zielperspektive der »Religionskulturhermeneutik« ausmacht. Auf dieser Linie ist dann auch die Aufklärung in ihren religionspositiven Akzenten besonders zu würdigen – eine Tatsache, die sich nicht nur bei Spalding und Töllner belegen lässt (29-45). Dass sich die Aktualität Schleiermachers schließlich in der neueren Philosophie und Theologie bewährt, wird – im Blick auf die Nachgeschichte – exemplarisch an Paul Tillich, Paul Ricœur und Falk Wagner gezeigt (151–183).
Die Religionstheorie, so kann man nach der guten Hälfte des Buches sagen, erweist sich als aufschlussreich für das Verständnis der Kultur im umfassenden Sinn, der es um das Menschsein des Menschen geht. Es liegt auf der Hand, dass darin ein normativer Sinn mitschwingt. Der religiöse Anspruch lässt sich dann aber auch nur halten, wenn die Kultur selbst religiöse Momente aufweist, also Normbestimmungen, die dem Menschsein des Menschen dienen. Dem inklusiven Kulturbegriff entspricht darum im Teil II des Buches der Nachweis, dass es vor allem auf dem gesellschaftlich-politischen Feld ein starkes Religionsäquivalent gibt: die Menschenrechte. Man kann in diesem Gedanken den Schlüssel für die kulturprägende Kraft von Religion sehen. Damit sind nicht historische Ableitungen gemeint (die bleiben bestenfalls im Status von Wahrscheinlichkeit); vielmehr steckt in dem unbegrenzten Allgemeinheitsversprechen der Menschenrechte ein Potential, das metaempirisch ist, aber die Wahrnehmung von Empirie normativ steuert. »Transversale Religion« heißt das bei G. in Abwandlung eines Diktums von Wolfgang Welsch über die Vernunft. Die Menschenrechte stehen dafür, dass sich in der Moderne eine Selbstdeutung des Menschseins herausgebildet hat, die über die historische Bedingtheit jedes und jeder Einzelnen hinausgeht (213–225). Auf diesen Mechanismus sich einzulassen und an die nur scheinbar »säkularen« Selbstdeutungen anzuschließen, ist gerade der Kirche zu raten, um lebendige Frömmigkeit zu fördern (226–245).
An dieser Stelle taucht mit dem Terminus »religiöses Bewußtsein« ein Sachverhalt auf, der m. E. einer weiteren Erörterung bedarf (190). Denn es muss auf alle Fälle der Anschein vermieden werden, es handle sich entweder beim religiösen Bewusstsein um einen bestimmten materialen Teilbereich des Bewusstseins, das von spezifischen Deutungsaktivitäten lebt; oder es gehe andererseits auf eine reine Unmittelbarkeit des Erlebens zurück. In diesen beiden auszuschließenden Verständnisweisen wird das religiöse Bewusstsein so partikularisiert, dass man sich allzu leicht von seiner doch beanspruchten universalen Geltung verabschieden kann. Dieser Abweg lässt sich nur vermeiden, wenn man den Ort und Ausgangspunkt des religiösen Bewusstseins in der Struktur des Bewusstseins selbst verankert, wie sie der Sprache überhaupt zugrunde liegt. Danach ist es die in die alltägliche Sprachverwendung eingegangene unvermeidliche und vorprädikative Gewissheit der Verknüpfung von Selbstverständnis und Weltverhältnis, die auch den Bezugspunkt von Religion, also den Kern religiösen Bewusstseins, ausmacht. Wenn das aber zutrifft, dann lässt sich die Besonderheit des religiösen Bewusstseins nicht über seine formale Verfassung rekonstruieren, weder über die Tatsache seiner Deutungsvollzüge noch über seinen Unmittelbarkeitsaspekt; sie hängt stattdessen an der konkreten Verwendung sprachlicher (und sprach­analoger) Kommunikationen. Anders gesagt: Erst an der Art und Weise der Verwendung religiöser Sprache wird die genaue Beschaffenheit des religiösen Bewusstseins sichtbar. Strukturelle Allgemeinheit des Sinninteresses und empirische Besonderheit der Sinnerfüllung bestehen dergestalt im religiösen Bewusstsein miteinander und machen nur zusammen dessen Spezifikum aus. Darum kommt es in der Tat auf die spezifische Auslegung des religiösen Bewusstseins an, wenn man über dessen Dienlichkeit für das Menschsein urteilen will. Nur in dieser Hinsicht kann man sich auch dem von G. schon eingangs (3) und später immer wieder notierten Phänomen der Ambivalenz von Religion stellen. Diese Überlegungen sprechen nach meiner Auffassung dafür, auf einen allgemeinen Religionsbegriff zu verzichten, der auf ein »religiöses Bewußtsein« rekurriert, und stattdessen Religion, wie das G. an verschiedenen Stellen im Anschluss an Joachim Matthes auch tut, als Diskursfeld zu beschreiben, das natürlich im Selbstbewusstsein wurzelt.
Im Grunde machen die paradigmatischen religiösen Kommentare zur Kunst (zur bildenden Kunst, zur Musik und zur Literatur) im Teil III des Buches auch von diesem kommunikativen Religionsbegriff Gebrauch. Nachdem der grundsätzliche, auf alle Bereiche des Menschseins ausstrahlende Kulturbegriff sein implizites religiöses Potential zu erkennen gegeben hat, wird die religiöse Dimension im Ästhetischen besonders anschaulich. Unter den von Gräb vorgelegten Analysen hat mich – nicht nur aus biographischen Gründen – die Besprechung der Kirchenfenster Johannes Schreiters in St. Jacobi zu Göttingen am meisten berührt. Denn in ihnen wird das konkrete Deutungspotential christlich-religiöser Sprache am intensivsten genutzt (268–273). Darauf aber wird es ankommen, wenn man die Prägnanz des christlichen Sprachspiels in den religiösen Umwelten der Gegenwart zur Geltung bringen will. Dogmatik entpuppt sich damit tatsächlich als Hermeneutik der Religion.
Das ist dann auch das Thema im abschließenden Teil IV des Buches, der sich als eine Zusammenfassung in praktischer Hinsicht lesen lässt. Ganz wie Schleiermacher, so ist es auch G. daran gelegen, die Präsenz der Kirche auf dem Feld der Kultur sichtbar zu machen. Dieses Anliegen erfordert, auf eine extravagante und autoritäre Sonderstellung der Kirche zu verzichten; damit, wie es in manchen Spielarten der »öffentlichen Theologie« versucht wird, kommt man in der Kultur nicht weiter. Man braucht sich darum aber auch nicht zu bemühen, denn die Überzeugungskraft des Christlichen vermittelt sich von innen her. »Versteht man die biblischen Texte in ihrer symbolischen Ausdrucksfunktion, dann tritt hervor, weshalb sie für religiöse Kommunikations- und Bildungsprozesse unverzichtbar sind.« (317) Ja, so ist es. Aber warum ist das so? »Ihre Geschichten gewinnen exemplarischen Charakter.« (Ebd.) Nein, das Exemplarische allein wird nicht ausreichen. Es muss um das grundsätzliche Verständnis vom Menschsein des Menschen gehen, welches in der christlichen Kommunikation, in expliziter Verkündigung wie in alltagspraktischer Verständigung, zum Zuge kommt. Das Programm einer Religionskulturhermeneutik verlangt nach einer weiteren Verbindung von Systematischer Theologie – ja: Dogmatik – und Praktischer Theologie. G.s »praktische Kulturtheologie« hat dazu eine anspruchsvolle Einladung ausgesprochen.