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Ausgabe:

Juli/August/2019

Spalte:

812–814

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Theobald, Christoph

Titel/Untertitel:

Christentum als Stil. Für ein zeitgemäßes Glaubensverständnis in Europa.

Verlag:

Freiburg i. Br.: Verlag Herder 2018. 363 S. = Veröffentlichungen der Papst-Benedikt XVI.-Gastprofessur. Kart. EUR 38,00. ISBN 978-3-451-34971-3.

Rezensent:

Rudolf Englert

Christoph Theobald, an der Hochschule der Jesuiten in Paris (Centre Sèvres) lehrender Systematiker, entfaltet in diesem Buch ein Verständnis christlichen Glaubens, das diesen nicht zuerst als System von Inhalten, sondern als Stil des Lebens begreift. Werde der Glaube so verstanden, könne er im Ringen des europäischen Kontinents um eine gute Zukunft eine wichtige Rolle spielen. Ein höchst ambitioniertes Projekt!
Europa zeigt T. zufolge starke Erschöpfungserscheinungen. Er spricht von einem Verblassen der Ideale (etwa der Humanitas), von einer Armut an Visionen, von einem Überdruss an Demokratie, von ökologischen Gefährdungen, von weit verbreiteten Gefühlen der Unbehaustheit, der Sinnlosigkeit und der Überkomplexität. Es bedürfe dringend geistiger Ressourcen, die Europas Vertrauen in eine gute Zukunft aktivieren helfen. In diesem Zusammenhang könne der christliche Glaube eine wichtige Rolle spielen.
Die faktische Präsenz des Christentums in Europa spricht T. mit dem erstaunlich starken Begriff der »Exkulturation« an. Diese Feststellung mündet aber nicht in die Klage über all das, was an Christlichkeit nicht mehr anzutreffen ist, sondern in das Vorhaben, »Glauben« dort aufzuspüren, »wo man ihn nicht vermutet« (75) – Glauben im Sinne eines elementaren Lebensglaubens. Auf einen solchen Glauben müssten sich Menschen überall da stützen, wo Planung und bewährte Routine durchkreuzt werden, wo es vielleicht gar zu Krisen eines Lebenskonzepts kommt. Solch elementarer Lebensglaube zeige sich im Grunde schon dort, wo die »Unverfügbarkeit des ›Sinnes‹ und des ›Ganzen‹ nicht ideologisch übergangen« oder »achselzuckend als uninteressant abgetan« (83) wird.
Ein derartiger Glaube sei es auch gewesen, den Jesus bei den Menschen hervorzubringen vermochte, denen er begegnet ist: ein Glaube an die Kreditwürdigkeit des eigenen Lebens. Jesu Stil, Menschen zu begegnen, habe diesen einen neuen Lebens- und Freiheitsraum eröffnet. Dabei hätten die Jesus Begegnenden entdeckt, »dass ›das‹, was sie in der Gegenwart Jesu ›belebt‹, jeweils aus der Tiefe ihrer eigenen Existenz auftaucht« (93). Von daher konnte Jesus, dies anerkennend, zu Recht sagen: » Dein Glaube hat dir geholfen«.
Lange sei in Theologie und Kirche der lehrhafte Inhalt des Glaubens gegenüber seiner kommunikativen Gestalt einseitig privilegiert worden. Diese Einseitigkeit müsse auf der Linie der jesuanischen Begegnungspraxis und des vom Zweiten Vatikanum entwi-ckelten kommunikativen Offenbarungsbegriffs überwunden werden. Dies gelinge, wenn man den christlichen Glauben als Stil be­greife. In einem Stil gehen Inhalt und Form, ohne ineinander zu verfließen, eine Einheit ein. »Stil« lässt sich mit Merleau-Ponty als eine Art und Weise definieren, »die Welt zu bewohnen« (53). Auch Jesus habe eine bestimmte Art, die Welt zu bewohnen, einen be­stimmten Stil, Anderen zu begegnen. Für diesen Begegnungsstil wählt T. den Begriff der »Gastfreundschaft«.
In Aufnahme des gastfreundlichen Stils Jesu sei die Sendung der Kirche als »ein Dienst […] am Lebensglauben aller Menschen« (95) zu verstehen. Hier wird ein sehr pointiert diakonisches, T. sagt: ein »de-zentriertes« Verständnis von Kirche entfaltet. Es setze voraus, dass die Kirchen aus einer Reproduktionspastoral herauskommen und eine »Gründungsperspektive« (123) einnehmen. Und dafür wiederum bedürfe es als zentraler Kompetenz der Entdeckungsfähigkeit Jesu, Lebensglauben auch dort aufzuspüren, wo man ihn nicht erwartet. Kirche entstehe dann, »wenn sich eine Gemeinde ›umsonst‹ für den ›Lebensglauben‹ der Anderen interessiert« (290). Kirche entstehe dort, wo solcher Glaube aktiviert oder gestärkt wird: »die geheimnisvolle Fähigkeit ›Jedermanns‹ […], dem Leben Vertrauen zu schenken« (305). Mitunter könne dieses Interesse »am immer bedrohten ›Glauben‹ des Anderen an den Sinn seines Le­bens« (305) dann auch zum Raum werden, wo »dieser Andere Chris-tus entdecken kann« (305).
Mit dem stilistischen Ansatz verbindet T. ein höchst dynamisches Verständnis der christlichen Tradition. Demnach kommt es in der Begegnung mit der Tradition darauf an, »erneut das ankommen zu lassen, was sich zwischen Jesus und denen ereignete, deren Weg er kreuzte« (71). Das, was die Identität des Christentums ausmacht, muss »in jeder neuen Situation neu entdeckt, neu formuliert und neu durchdacht werden« (33). In diesem Zusammenhang gewinnt auch der Glaubenssinn der Gläubigen eine wichtige Bedeutung, der dann nämlich »nicht nur passiv das ein für alle Mal feststehende Kerygma rezipiert, sondern durchaus aktiv an seiner alltäglichen Beglaubigung beteiligt ist« (55).
T. entfaltet weitreichende Implikationen seines stilistischen Ansatzes, etwa für den Umgang mit dem religiösen Pluralismus oder für die Auseinandersetzung mit der ökologischen Krise und dem Transhumanismus, den aus seiner Sicht größten Gefährdungen der Zukunft Europas. Gerade in Anbetracht dieser Gefährdungen, die den elementaren Glauben an die Vertrauenswürdigkeit des Lebens erschüttern können, sieht T. das Christentum gefordert. Aus dessen Tradition könnten Europa geistliche Ressourcen zu­strömen, mit deren Hilfe sich die Menschen trotz allem »für einen auch von den kommenden Generationen bewohnbaren Planeten« (202) einzusetzen vermögen. Die für diesen Einsatz nötige Kraft erwachse den Menschen letztlich nicht aus prophetischen Drohpredigten, mit denen etwa die Auswirkungen einer ökologischen Katastrophe beschworen werden, sondern aus dem dankbaren Staunen über umsonst geschenktes Leben, ein Staunen, »das im Osterglauben seine hoffnungsbildende Bestätigung und Erfüllung findet« (236).
T. ist sehr darauf bedacht, sein stilistisches Verständnis des christlichen Glaubens aus der Tradition zu begründen und auch gegen aus der Tradition heraus formulierbare Einwände abzusichern: durch eine reiche Aufnahme biblischer Perspektiven, durch die Verbindung mit der dogmatischen Lehrentwicklung und durch eine intensive Auseinandersetzung mit den Dokumenten des Zweiten Vatikanums. Das Ausmaß der dabei geleisteten Ge­lehrtenarbeit kann hier nicht einmal angedeutet werden.
Besonders beeindruckend ist, mit welcher Konsequenz und in wie viele Verzweigungen hinein T. sein stilistisches Glaubensverständnis ausbuchstabiert. Im Grunde versucht er, sämtliche großen Fragen fundamentaler Theologie vom stilistischen Ansatz her aufzunehmen und in ihrer Verwiesenheit aufeinander durchsichtig zu machen. Dabei nimmt er Bezug auf wichtige Diskussionen innerhalb und außerhalb der Theologie. All das eröffnet weite Horizonte und ermöglicht vielfältige Entdeckungen. Wobei nicht verschwiegen werden darf, dass das Buch von seiner mitunter eigenwilligen Diktion und seinem theologischen Voraussetzungsr eichtum her keine einfache Lektüre ist. An manchen Stellen wünschte man sich zudem ein bisschen mehr Anschaulichkeit, Konkretion und empirische Erdung.
Gleichwohl: ein höchst bemerkenswertes Buch! Aus seinem stilistischen Ansatz gehen Anforderungen hervor, die christliches Leben und kirchliche Praxis unter einen außerordentlich hohen Anspruch stellen. Die Frage ist, ob man einer vielerorts mindestens genauso ermattet wie Europa insgesamt sich darstellenden und überdies durch tausendfachen sexuellen Missbrauch in eine Vertrauenskrise geratenen Kirche noch zutrauen mag, diesem An­spruch gerecht zu werden.