Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juli/August/2019

Spalte:

809–812

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Ringleben, Joachim

Titel/Untertitel:

Der lebendige Gott. Gotteslehre als Arbeit am Begriff.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2018. XXVIII, 983 S. = Dogmatik in der Moderne, 23. Lw. EUR 139,00. ISBN 978-3-16-156114-6.

Rezensent:

Hermann Deuser

In Prozess und Realität, der (metaphysischen) Kosmologie A. N. Whiteheads (1929), heißt es zur Charakterisierung dieser umfassenden Weltsicht des 20. Jh.s: »Speculative boldness must be ba-lanced by complete humility before logic, and before fact« (part I, chapter I). Joachim Ringlebens Gotteslehre unternimmt etwas ganz Ähnliches: Die explizite Aufnahme und Weiterführung der spekulativen Philosophie und Theologie des deutschen Idealismus, vor allem Hegels, versteht sich zugleich als Programm zur überprüfbaren Integration der historischen Exegese und der durchsichtigen »Arbeit am Begriff«, die allgemein und »vernunftkonform« (250) nachvollzogen werden kann.
Diese große Summe der Theologie, die sach- und zeitgemäß dem Grundlegenden von allem, dem Gottesbegriff gewidmet ist, hat schon eine imponierende Reihe von Forschungsarbeiten hinter sich: zur Christologie (Jesus [2008]), zur Reformations- und Theologiegeschichte, zum Johannesevangelium und nicht zuletzt zu Hegel und Kierkegaard; und das alles kulminiert in der fundamentalen These und Einsicht, dass Gott sich denken, mehr noch: begreifen lässt. Das ist jetzt so zu erklären, dass die traditionelle, besonders neuzeitliche Falle eines aufs Empirische verkürzten Objektivismus (Begriff als bloßes Reflexionswissen) ebenso vermieden wird wie der sich selbst isolierende Subjektivismus (Begriff als unzuständig für Gefühlsinstanzen). Die These lautet dann: Auf biblischer und reformatorischer Basis muss Gott »als in sich selbst von sich unterschieden gedacht werden« (141), oder, in aller Konsequenz spekulativ gesagt: Gottes Sein ist »aktuelles Sich-selbst-Hervorbringen und ewiges In-sich-Gründen«, ist »von sich und durch sich, aus sich und in sich selbst« (171; cf. z. B. 767 u. ö.). Die damit etablierte Begrifflichkeit verabschiedet die herkömmliche Gottesvorstellung, die im Modell von Substanz und Eigenschaft denkt, und will Bewegung und Werden in Gott selbst ermöglichen (cf. z. B. zur Ablösung der Substanz zugunsten der Relation bei Luther, 129, Anm. 222). Mit Hegels Logik/Dialektik gesagt: ein »Sich-Setzen« oder »Sich-(sich-selber-)Voraussetzen« als »Anfangen von sich selbst« und diese Entzweiung zur Einheit aufheben (212). Hegels Dreischritt im Begriff soll nicht als selbstzufriedene, abstrakte Struktur verstanden werden, sondern lebensnah-integrativ, prozesshaft und als Gewinn »wahrer Unmittelbarkeit« (213), d. h. genau so kann Gottes »Lebendigkeit« zum mitvollziehenden Ausdruck gebracht werden, sein »selbstgeneratives Sein« (221, Anm. 342).
Inhalt und Gliederung dieser Gotteslehre zeigen den biblischen und dogmengeschichtlichen Stoff in neuer Anordnung – die der regierenden »Dialektik von Form und Inhalt des Glaubens« (75) entspricht: Auch das Denkschema von Subjekt-Gesinnung einerseits und objektiven Inhalten andererseits wird aufgegeben zugunsten der Prozessualität als Formen der Inhalte, in denen sich Gott in einem absoluten Verhältnis zu sich verhält und der Glaube sich zu seinem bestimmenden Grund (cf. die »Korrelation von Gott und Glaube«, 60 ff.). Diese Konstellation ist es, die die strukturbildenden produktiven Bedingungen für das liefert, was programmatisch als der »lebendige Gott« ausgezeichnet wird. Was traditionell als »Eigenschaften« Gottes entwickelt wurde, ergibt sich jetzt jeweils abhängig und abgeleitet aus den verschiedenen Aspekten des Gott-Welt- und Glaubensprozesses. So kann die Hauptkategorie des »Lebendigen« (zweiter Teil, § 4) auf Gott bezogen erläutert werden als »reine Aktuosität und unendliche Gegensatzeinheit in Bewegung und Ruhe« (295), und die Hauptgliederung des großen Kapitels III trägt als Titel »Allmächtiges Leben« (§ 8–11) und »Lebendige Allmacht« (§ 12–14), bevor dann im letzten Kapitel die Dialektik des Absoluten, dogmatisch gesprochen: was allem anderen schon zugrunde liegt, Gottes Trinität (§ 15 [und § 16: Eschatologie]) selbst und als solche zum Thema wird.
Das detailliert und umfassend aufgenommene biblische Denken dient in der Regel zur Eröffnung der jeweiligen dogmatischen Topoi (z. B. Kapitel II Gott der »Lebendige« [§ 4], der »Allmächtige« [§ 5], der »Schaffende« [§  8]), alles steht aber unter der exegetischen wie systematischen Vorgabe möglicher Interpretationshorizonte der auf den ersten Blick rätselhaften, weil doppelten Selbstvorstellung Gottes in Ex 3,14 (Kapitel I, Gottes Name, 89 ff.): Hier war und ist der biblisch-philosophische Ort für spekulatives Denken, an dem sich die gegenseitige Angewiesenheit von Text, Sprache und Begriff vorbildlich zeigen lässt: letztlich immer wieder in der »Dialektik« von Selbstwerden in der »Einheit«, die vorausgeht und nach ihrer Selbstunterscheidung einer »Zweiheit« diese Negation zu einem Ganzen, dem Begriff wieder aufhebt (110). Hier wie durchgängig soll dieses strukturell gebundene und zugleich auf alles ausgreifende Denken aber gleichsam geerdet oder lebensweltlich zum Leuchten gebracht werden, indem nicht nur die biblischen, philosophie- und dogmengeschichtlichen Vorstellungswelten mit Akribie herangezogen, ausgewertet und im Rahmen der vorgenommenen Begriffsarbeit interpretiert werden, sondern darüber hinaus auch ganz bewusst literarische Beispiele und Hinweise. So entstehen, jeweils nach thematischen Schwerpunkten, kleine kulturgeschichtliche Anthologien, die eine Verankerung des theologisch-spekulativen Denkens in der überall gesuchten und beanspruchten »Lebendigkeit« stiftet: von Anaxagoras bis Wittgenstein, von J. L. Borges, G. Benn und Th. Mann bis Walter von der Vogelweide. In diesen Passagen lässt R. sich Zeit und ein weiter Blick wird möglich, der dann wieder auf die Dialektik des Werdens, im Kern immer wieder Hegels Logik, Phänomenologie und Religionsphilosophie konzentriert wird.
Wählen wir als Beispiel die Schöpfungslehre (§ 8), so gehört sie in Kapitel III zur Neubestimmung von Gottes »Eigenschaften«. Das geschieht u. a. so, dass etwa mit Hebr 11,3 das »Nicht-aus-sich-selber-Sein« (445) von Mensch und Welt diese transzendiert und »absolut« begründet, indem Gott im Anderen seiner selbst wieder auf sich zurückkommt, eine Bewegung, die der Glaube in seiner Unterschiedenheit und »Korrelation« (s. o.) mitgeht – und darin liegt zugleich der christologische Zusammenhang: die »existierende Selbstunterscheidung Jesu vom Vater« (448). In Anknüpfung an Luther wird Schöpfung nicht als ontologisches Prinzip entwickelt, sondern als »Bewegung in Gottes Sein«, »Gottes Selbstvollzug«, sein ständiges »Sich-Hervorbringen« (452 f.), d. h. Gott »schafft erst ›den Anfang‹«, der er selbst » ist« (459). Diese »Dialektik« macht das begriffliche Gerüst dieser – und aller anderen – dogmatischen De­tailinterpretationen aus. Gott ist die Bewegung in der »Einheit von Anfang und Ende«, die die »Entzweiung« enthält und in einem »Gegenstoß« immer wieder abfängt, aufhebt (463 f.; cf. gleichlautend in § 8, 487.494). So ergibt sich eine schöne Übersicht zur Interpretation der »ex nihilo«-Vorstellung (465 ff.), die sich zugleich auf die Bestimmung von Zeit und Ewigkeit (z.  B. in der Tradition Augustins) bezieht. Die substanziell denkenden Theorien müssen an der Dialektik des Anfangs scheitern, solange dieser nicht als »Unterbrechung« unseres »weltbezogenen Sprechens« (469) aufgefasst wird: als »Gottes ewiges Aus-sich-selber-Sein« (473). Jeder Anfang hat seine ewige Bedeutung, die immer wieder als dieser (dialektische) Effekt bezeichnet wird, worin Gott sich in »jedem Moment der Schöpfung« lebendig »von ihr zu sich« abstößt (485. 487).
Die in dieser Weise präsentierte Fülle des Materials verbunden mit scharfsinnigen und abwägenden Interpretationen wird die fachlich interessierte Leserschaft beeindrucken und begeistern: Tatsächlich, so kann von Gott gesprochen werden, wachsam in der übertragenen theologischen Sprachwelt und vernünftigen Argumentation von der Schöpfung bis zum eschatologischen »Alles in allem« (957 ff.). – Bleibt nur eine Frage: Ist die dialektische Grund-figur, wie sie hier prinzipiell eingesetzt wird, gültig? Man kann exemplarisch, auf eine Konstellation zugespitzt auch so fragen: Ist Kierkegaards Existenzdialektik, die vielfach angeführt wird und für R. ein wichtiger Gesprächspartner ist, so gerecht zu werden, wenn Dialektik in ihrem Herzen als Bewegung und doppelter Übergang mit Negation und Aufhebung konzipiert wird, obwohl Kierkegaard gerade Bewegung in die Logik zu bringen als Sündenfall des Hegelianismus gebrandmarkt hat, weil so die ganz anderen exis-tentiellen Erfahrungen nicht mehr in ihrem eigentlichen Gewicht geachtet werden können (Kierkegaards Begreifen, dass man nicht begreifen kann)? R. weiß das alles, nimmt die Spielarten der Negation an allen Stellen auf, aber es bleibt eine Kategorienfrage, ob und wie Existenz in Gottes Bewegung schon vermittelt vorgelegt werden kann oder ob hier gedankliche, sprachliche, konzeptionelle Sperren aufgebaut werden müssten – einen Reflex dessen gibt vielleicht R.s Einsatz belletristischer Literatur! Kierkegaards Verteidigung des »faktischen Seins« wird jedenfalls energisch abgewehrt (225, Anm. 365) und Th. W. Adornos Satz, »das Ganze ist das Unwahre« (cf. 720) mag als Hegel-Kritik problematisch sein, es bleibt darin aber eine Pointe, die die kategoriale Differenz zwischen dem Exis-tenziellen selbst und dem (sprachlich) verallgemeinernd Gedachten festhält. Wie ist der Übergang zwischen beidem zu fassen – und wie stellt er sich dar? Genügt die religiöse Sprache zum Einholen dieser Besonderheit des jeweils Einzelnen, das das Ganze (des Begriffs) noch nicht haben oder tragen kann? So lässt sich summieren, dass R. mit einer faszinierenden Konsequenz und Gelehrsamkeit zu­mindest die Dogmatik als Ganze zum einladenden Gegenstand gemacht hat, der sich wieder und ganz neu studieren lässt.