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Ausgabe:

Juli/August/2019

Spalte:

803–805

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Strasser, Peter

Titel/Untertitel:

Gehirn ohne Geist. Die Vertreibung des Menschen aus der Wissenschaft.

Verlag:

Basel: Schwabe Verlag 2018. 143 S. = Schwabe reflexe, 54. Kart. EUR 19,50. ISBN 978-3-7965-3872-8.

Rezensent:

Hartmut von Sass

Wie sich Angebot und Nachfrage zueinander verhalten, ist eine müßige Nachfrage ohne rechte Angebote. Immerhin lässt sich feststellen, dass einige kleinere, geisteswissenschaftlich ausgerichtete Verlage kleinformatige Buchreihen anbieten mit der Folge, dass die Nachfrage an philosophischer Essayistik steigt. Ein Exemplar sind die bei Schwabe erscheinenden »reflexe«, als deren bereits 54. Bändchen Peter Strassers Gehirn ohne Geist erschienen ist. Der Autor selbst, bis 2015 Professor an den Universitäten Graz und Klagenfurt, ist einer der produktivsten Beiträger dieser Gattung.
Dazu gehören bereits vor Jahren publizierte Schriften wie Journal der letzten Dinge (1998) oder Der Weg nach draußen (2000), deren kritisches und konstruktives Anliegen nun aufgenommen und teilweise weitergeführt wird. Die Grundkonstellation besteht in der Auffindung eines skeptisch bleibenden Mittelwegs zwischen zwei Positionen, die S. nicht nur engagiert ablehnt, sondern deren Popularität er sogleich diagnostisch wendet: In ihnen würde sich eine falsch verstandene Moderne aussprechen, so dass sich an die artikulierte Sorge das Angebot einer Therapie anschließt.
In dieser doppelten Abgrenzung ähnelt S.s kritische Intention derer, die Jürgen Habermas in seiner späten Aufsatzsammlung Naturalismus und Religion (2005) vorgetragen hatte: Auch dort ging es um die antireduktionistische Zurückweisung einer ganz materialistisch bzw. physikalistisch ausgerichteten philosophy of mind einerseits und die Bewahrung der Sinnressourcen der (christlichen) Religion gegenüber theistischen Konfusionen, aber auch fundamentalistischen Agitationen andererseits.
S.s Essayistik ist spielerischer als die von Habermas vorgetragene, in Teilen persönlich gefärbt, oft an der Grenze zum Literarischen (14 f.91 f.107). Aber auch hier bildet die Zurückweisung des Naturalismus und dessen ›Geistaustreibung‹ die Negativfolie, vor der S. die geistige (nicht zu verwechseln mit: spirituelle) Dimension unserer Weltexistenz zurückgewinnen oder eher verteidigen möchte. Soll dieses Engagement jedoch nicht hinter die Religionskritik der Aufklärung zurückfallen, müsse eine Dimension des Geistes gedacht werden, die der Erde treu bleibe und doch nicht einfach nur unser Geist – oder gar unser Bewusstsein oder Gehirn – sei.
Übte Habermas den gesuchten Mittelweg sprachphilosophisch (und bildtheoretisch) ein, schlägt S. einen anderen Weg vor. Er attackiert dazu die naturalistische Gegenseite, der er einen Anti-Realismus vorhält: Alles sei demnach Produkt und Kreation unseres Bewusstseins, sodass sich dieser kontraintuitive Eindruck ge­gen sich selbst wende, da Gehirn und dessen Ströme dann ebenso konstruktivistisch aufgelöst werden müssten. Doch unser Be­wusstsein gehe in reiner »Hirnchemie« ohne wirklich treffende Empfindungsprädikate nicht auf (34.39), so dass der »zerebrale Zirkel« unserer angeblichen »Gehirnhöhlengefangenschaft« erst durchbrochen werde, wenn ein externer Geist gedacht werde (30.57). Leugneten wir den Primat des Geistes, sei Pan-Illusionismus und Solipsismus die Tür geöffnet. Um sie wieder zu schließen, müsse ein geistreicher Grund angenommen werden, aus dem alles Geistige komme und ohne den sich die Welt nie als solche geformt hätte (78). Das Universum sei gar darauf angelegt, menschliches Bewusstsein hervorzubringen (ebd.). Oder in leicht verändertem Akzent: »Als Personen könnten wir uns unserer selbst nur sicher sein, wenn der Geist, dem wir entstammen, sich in einem cartesianischen Ich manifestierte, welches nicht von materiellen Bedingungen abhinge. Aber diese Voraussetzung ist niemals erfüllt. Sie ist unerfüllbar.« (82; vgl. 115)
S. lässt keinen Zweifel daran aufkommen, dass es einen Rückweg zu einem personalen Geistgott nicht wird geben können. Hat es ihn jemals gegeben, sei er aus der Welt verschwunden (121). Doch sind es die, wie S. immer wieder formuliert, »intimen Transzendenzen« im Gewöhnlichen und Außergewöhnlichen, die an jenem Geist teilhätten (91.120). Hier zeige sich die Gleichursprünglichkeit von Sein und Wert von allem, weil alles Endliche die »vergängliche Abbreviatur eines Geistes« bilde (131). Und so lautet S.s Formel eines Denkens, das offen für den ontologischen Überschuss bleibt: »Welteingeborgenheit«. Oder in Satzform: »Wir stehen Gott nicht mehr gegenüber, wir leben im Medium des Göttlichen.« (122)
Ganz ähnlich wie in fast allen Hegelianischen Dialektiken wird vom Ganzen als Verkörperung des Geistes auf die Normativität der Wirklichkeit geschlossen und aus der Marginalisierung des Geistes auf die Geisterhaftigkeit unserer modernen Welt ohne Ziel, Wert und Pflicht, oder Erfüllung (99.115). Dementsprechend bietet S. hier ein dunkles Bild der digitalen Gegenwart ohne gute Geister, die zur »Selbstverkleinerung des Menschen« führt, aber zugleich auch zur Abschaffung der ›an sich‹ erfahrbaren Realität und ihrer wissenschaftlichen Erforschbarkeit (wie bereits der Untertitel an­deutet).
Wenn man S.s Essayistik etwas analytisch ordnen möchte, be­steht das Argument aus folgenden Segmenten: I.) der Naturalismus ist falsch, weil er die Phänomenologie unserer Empfindungen unerklärt lässt; II.) der Naturalismus ist widersprüchlich, weil er die Welt zum Produkt unseres Gehirns werden lässt und damit das Gehirn selbst zum Hirngespinst; III.) es gibt eine Geistdimension, die alles Geistige erklärt und formt; IV.) diese Dimension ist gleichsam transimmanent: Sie übersteigt das, was der Fall ist, und bleibt doch – darin a-theistisch – der Erde treu; V.) die Annahme einer von Materie unabhängigen Geistdimension ist unerfüllbar – sie bleibt eine regulative Idee, die sich durch die Abgründe der Gegenannahme rechtfertigt. Über alle fünf Propositionen dieses halb-poetischen Panentheismus ließe sich trefflich streiten. Der geistreiche Vorteil eines Essays aber ist, diesen Streit zwar anzuzetteln, ihn je­doch nicht selbst auszufechten.