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Ausgabe:

Juli/August/2019

Spalte:

801–803

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Sidgwick, Henry

Titel/Untertitel:

Der Utilitarismus und die deutsche Philosophie. Texte zur Ethik und Philosophiegeschichte. Übers., m. e. Einleitung u. Anmerkungen hrsg. v. A. Dufner u. J. Müller-Salo.

Verlag:

Hamburg: Felix Meiner Verlag 2019. LXII, 226 S. = Philosophische Bibliothek, 669. Kart. EUR 28,90. ISBN 978-3-7873-2996-0.

Rezensent:

Wolfgang Erich Müller

In der angelsächsischen Philosophie gilt Henry Sidgwick neben Jeremy Bentham und John St. Mill als führender Vertreter des Utilitarismus. Achtungsvoll schreibt John Rawls in seiner als Alter-native zum Utilitarismus konzipierten Theorie der Gerechtigkeit (Frankfurt a. M. 1975), dass die »klarste und am leichtesten zugängliche Formulierung des Utilitarismus die von Sidgwick ist« (40). Oder der mit dem Utilitarismus abrechnende Alasdair MacIntyre bescheinigt in seinem Werk Der Verlust der Tugend (Frankfurt/ New York 1987): »Das herausragende Ergebnis dieser Selbstprüfung [sc.: der eigenen ethischen Position] war die Moralphilosophie Sidgwicks« (92). Auch Otfried Höffe hat in seiner Einführung in die utilitarische Ethik (München 1975) S.s Hauptwerk von 1874, das 1909 in Leipzig als Methoden der Ethik erschien – und seitdem nicht wieder aufgelegt worden ist –, in seiner sorgfältigen Argumentation und differenzierten Darstellung hervorgehoben (18 f.). Angesichts dieser exemplarisch benannten Bedeutung S.s ist seine Rezeption im deutschen Sprachraum dürftig.
Die Herausgeber weisen für die Zeit bis zum Zweiten Weltkrieg lediglich sieben Monographien nach und für die Zeit danach nur drei Aufsätze (X f.). Vor dem skizzierten Hintergrund verdient die vorliegende Publikation von 13 Texten Beachtung, um die Aufmerksamkeit für S.s Ansatz im deutschsprachigen Raum zu we-cken, wie es der Bedeutung und dem Niveau seines Denkens entspricht. Die Beiträge sind in fünf Sektionen gegliedert; beginnend mit dem Thema des Utilitarismus folgen zweitens die Reflexion auf das Gute und drittens die Hinweise auf S.s Rezeption deutscher Ethik, die er teilweise auch auf deutsch gelesen hat. Dem schließen sich in der 4. Sektion Reflexionen zur theoretischen Philosophie und abschließend seine Darstellung der Situation der Philosophie in Cambridge an. Ein umfangreicher Anhang (153–226), besonders zur Bibliographie und mit ausführlichen Herausgeberanmerkungen, rundet den Band ab. Diese Anmerkungen führen alle in der Textausgabe ins Deutsche übersetzten oder auch nur angedeuteten Zitate im Original auf und belegen so zugleich S.s Umgang mit den von ihm herangezogenen Texten. Damit haben die Herausgeber Vorarbeiten in einem umfassenden Maß für eine künftige Rezeption S.s geleistet.
Die erste Sektion (3–34) beginnt mit S.s Vortrag »Utilitarismus«, der als eine kurze Zusammenfassung seiner Hauptschrift The Methods of Ethics (1874) gelesen werden kann. Der Utilitarismus wird als diejenige »ethische Theorie ›verstanden‹, demzufolge das äußerlich oder objektiv richtige Verhalten unter allen Umständen ein Verhalten ist, das die Tendenz hat, das größtmögliche Glück für die größtmögliche Anzahl all derjenigen, deren Interessen betroffen sind, zu produzieren« (3). Dieses Prinzip zielt – im Unterschied etwa zu Bentham – nicht auf die »größte Freude insgesamt, sondern ›auf‹ den größten Überschuss an Freude gegenüber Leid« (8). Im Anschluss daran grenzt sich S. vom psychologischen Egoismus und vom Naturalismus ab. Während Letzterer bestimmte Prinzipien als letzte Prinzipien setzt, gilt einem moralischen Egoisten als letzter Zweck seines Handelns nur das eigene Interesse. Gegen die Position des Naturalismus kann der Utilitarist zeigen, dass dessen Prinzip z. B. der Wahrheit von verschiedenen Personen unterschiedlich interpretiert wird. Deshalb benötigt man ein anderes, höheres Prinzip von allgemeiner Gültigkeit. Dem Egoisten, der nur auf sein eigenes Glück zielt, muss der Utilitarist zeigen, »dass sein Glück objektiv nicht wünschenswerter […] sein kann als das Glück irgend eines anderen« (13). Daher bedarf es einer umfassenderen »Vorstellung universalen Glücks […], als Repräsentation des wahren Zwecks der Vernunft […], auf den hin die Handlungen eines vernünftigen Akteurs ausgerichtet sein sollten« (13). Sollte der Egoist auf seinem eigenen Glück als höchstem Ziel beharren, so bliebe dieser Erweis des Utilitarismus jedoch wirkungslos.
In der zweiten Sektion (35–89) sind Beiträge versammelt, die den für den Utilitarismus wichtigen Begriff des Guten thematisieren. S. untersucht zunächst philosophiehistorisch das Verhältnis von Eigeninteresse und allgemeinem Wohl und bezieht dann diese Thematik kritisch auf seine utilitaristischen Vorgänger Bentham und Mill. Für Bentham ist das Handeln aus Eigeninteresse »unvermeidlich« (54). Dass er dieses Handeln andererseits aber in einigen Fällen als gemeinwohlbezogen erkennt, belegt für S., dass Bentham den wirklichen Unterschied zwischen Eigenwohl und Gemeinwohl – also den Dualismus der praktischen Vernunft – nicht er­kannt hat. Ähnlich kritisiert S. an Mills Schrift Utilitarism (1861), dass hier einerseits das Gewünschte und das für angenehm Gehaltene als gleichbedeutend gesehen wird, andererseits aber gesagt wird, dass Menschen oft das für sie weniger angenehme wählen. Mill hat also, so S., die geringe Stichhaltigkeit seiner ersten Aussage nicht erkannt. Abschließend reflektiert S. den »Unterschied zwischen ›Sein‹ und ›Sollen‹« (83). Er überprüft die Position des metaethischen Naturalismus, der von deskriptiven Aussagen über ein bestimmtes Sein zu normativen Aussagen, einem Sollen, gelangt, was S., dem sogenannten Humeschen Gesetz folgend, als unstatthaft kritisiert.
In der dritten Sektion (91–119) geht es zunächst um S.s Darlegungen zum deutschen Einfluss auf die englische Ethik – anhand von Kant, Hegel, Schopenhauer und Eduard von Hartmann. Ausführlich erörtert S. den kategorischen Imperativ Kants sowie dessen Zusammenhang mit Pflicht und freiem Willen. Er widmet sich kritisch Kants »Konzeption des freien Willens« (106) und belegt vielfältig die doppeldeutige Verwendung des Begriffes der Freiheit, da sie erstens »nur im richtigen Verhalten realisiert wird« und zweitens die Möglichkeit hat, »zwischen richtig und falsch zu wählen« (106). S. hält diese »Thematik der Heteronomie des Willens« (118) für nicht lösbar, da hier ein Dilemma besteht: Wenn die für Kants Ethik grundlegende Beziehung von moralischer Vernunft und Freiheit gestrichen würde, wäre nicht mehr zu begründen, warum man moralisch handeln sollte. Andererseits ist seit Darwin nicht zu leugnen, dass die »Handlungen von empirischen oder sinnlichen Impulsen bestimmt werden« (118), womit Kants Auffassung der moralischen Verantwortung keine Basis mehr hätte.
In der vierten Sektion (121–132) geht es um die Frage, ob die Erkenntnistheorie Kants als idealistisch bezeichnet werden kann. S. konstatiert, dass Kant bewusst geworden ist, dass ihm nach dem Text der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft (1781) die Position eines Idealismus zugeschrieben werden könnte (s. AA 3, 181 f.), was er später, etwa in den Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik (1783) mit seinem transzendentalen Argument zu vermeiden trachtete (s. AA 4, 289). Der Vergleich beider Texte (128 f.) führt S. zu dem Ergebnis, dass die sogenannte transzendentale Antwort nicht den Vorwurf des Idealismus entkräftet, da sie selbst idealistisch ist.
Die abschließende fünfte Sektion (132–151) ist philosophiehistorisch für deutsche Leser, die mit den damaligen Verhältnissen an der Universität Cambridge nicht vertraut sind, sehr interessant. In S.s Gegenwart hat sich die Lehrsituation zugunsten der Philosophie verbessert. Der Bericht endet mit weiteren Verbesserungsvorschlägen für die Philosophie, einem Prüfungsplan für das Studium der Moralphilosophie und benennt dafür wesentliche Bücher.
Die Herausgeber haben mit diesem Band die Philosophie S.s in einer großen Breite vorgestellt, so dass sie in der deutschsprachigen Diskussion wahrgenommen werden kann. Zugleich wird durch die Textauswahl S.s gründliches Denken deutlich gemacht und gezeigt, dass er an verschiedene Traditionen anknüpft, aber auch die Schwierigkeiten für die Begründung der eigenen Auffassungen nicht leugnet.