Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juli/August/2019

Spalte:

786–789

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Stegmann, Andreas

Titel/Untertitel:

Luthers Auffassung vom christlichen Leben.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2014. XI, 549 S. = Beiträge zur historischen Theologie, 175. Lw. EUR 124,00. ISBN 978-3-16-153515-4.

Rezensent:

Klaus Unterburger

In seiner Berliner Habilitationsschrift rekonstruiert Andreas Stegmann die Entwicklung von Luthers Auffassung von der christlichen Lebenspraxis und damit seine Ethik entwicklungsgeschichtlich bis in die 1520er Jahre. Er will zeigen, wie seine Rechtfertigungslehre seine Auffassung von der vita christiana verändert hat. Seit Mitte der 1520er Jahre habe Luthers Ethik dann keine grundsätzliche Weiterentwicklung mehr erfahren (10), so dass der späte Luther ausgeklammert werden könne. S. will sich dabei primär an Luthers »Leittexten« bzw. »Schlüsseltexten« orientieren (12).
Teil I gilt der Zeit vor der ersten Psalmenvorlesung. Die beiden frühesten Predigten (zu Mt 7,12 und Joh 3,16) betonen, dass das Heil, das christliche Leben, ein Geschenk Gottes sei, das sich in der selbstlosen Liebe zu Gott und den Nächsten ausdrücke. Die Datierung dieser Predigten ist aber recht unsicher und so ist es doch fraglich, ob sich in diesen eine Theologie findet, die noch vor den Dictata liegt. Dass Luthers Credereest nostrum cooperari »sich im Rahmen spätmittelalterlicher Theologie und Frömmigkeit« bewege (24), also noch nicht die Einsichten der Rechtfertigungslehre impliziere, bleibt Behauptung. Es folgt ein eigenartiges Konjekturalkapitel (26–138), das in seiner Anlage nicht überzeugen kann: Da Quellen zu Luther fehlen, wird rekonstruiert, welche familiäre, schulische und universitäre Prägungen man im Spätmittelalter erfahren habe: So werde es dann auch bei Luther gewesen sein (vgl. »so oder so ähnlich«, 72, usf.). Von da aus lasse sich dann rekonstruieren, wie sehr er sich weiterentwickelt habe. Das im Elternhaus herrschende Ethos wird dabei aus den Tischreden rekonstruiert, die dafür kaum geeignet sind. Die angeblich übliche Praxis des Bußsakraments z. B. (hier wird aber doch zwischen Norm und Praxis ein viel stärkerer Hiatus anzunehmen sein!) sei auch bei Luther vorauszusetzen. Ob man zwischen Mystik und Devotio moderna wirklich eine derartige Gegensätzlichkeit annehmen muss wie S. (52), wird man bezweifeln können. Ein Brief aus dem Jahr 1509 bezeugt Luthers frühe Abneigung gegen Aristoteles zugunsten einer unaristotelischen Theologie (WABr 1, 17,41–43); die aristotelische Habitus-Theologie kritisiert er früh und radikal (119 f.).
Zu Recht betont S., dass Aristoteles von Beginn an bei Luther präsent ist und kritisch gesehen wird (59). Korrekt wird es auch sein, neben Christus vor allem Augustinus als das prägende Vorbild in Luthers Erfurter Klosterzeit auszumachen. Dass er in dieser Zeit durch Anfechtungen und die Angst vor dem strafenden Gott gequält worden sei, denen er durch Werkgerechtigkeit zu begegnen gesucht habe, ist doch kaum belegbar, wenn man den Tischreden nicht eine kaum haltbare historische Zuverlässigkeit attestiert. Über Gabriel Biel habe Luther wohl die wichtigsten mittelalterlichen ethischen Schulpositionen kennengelernt, dazu kannte er Petrus Lombardus, für den die Gottesliebe die zentrale ethische Pflicht war. Biel vertrat die These, dass die moralisch gute Tat ( facere quod est in se) durch die freie acceptatio Gottes angenommen werde. Luther sah die Fähigkeiten des Menschen von Anfang an drastischer durch die Sünde verdorben, als Biel das tat. Dennoch ist es gewagt, einfach Biel als Luthers Lehrbuch zu werten und in Biel gleich die Sichtweise »der mittelalterlichen Scholastik« generell zu vermuten (vgl. 132.134 u. ö.) oder andernorts von einem »System der spätmittelalterlichen Frömmigkeit« (307) zu sprechen. Hier wird schnell ein Pappkamerad aufgebaut, den der Held dann heroisch überwinden kann. Wieso die Unterscheidung zwischen lex antiqua und lex nova die Selbständigkeit einer weltlichen Sphäre implizieren soll (134), erschließt sich nicht. Von einer mittelalterlichen »Moraltheologie« zu sprechen, ist überdies ein Anachronismus.
Teil II verfolgt den Wandel von Luthers Bußauffassung von den Dictata bis 1519. Bereits die Dictata entfalten eine völlig andere Anthropologie und Sündenlehre als Biel (144–167; wie plausibel ist es also, dass Luther kurz vorher ein Anhänger Biels gewesen sei?). Die Sünde besteht im vergifteten Gottesverhältnis, so dass die Habituslehre verworfen wird; gerade das Pochen auf gute Werke ist der Inbegriff des Hochmuts. Der Glaube akzeptiert demütig das Gericht Gottes. Zu Recht betont S. gegen Bizer, dass die Demut nicht einfach vorreformatorisch bzw. ein Menschenwerk sei. Die Gottesbeziehung im Glauben, die Gabe, ist allem menschlichen Handeln vorgeordnet. So überzeugend S.s Analysen hier sind, so sehr wundert man sich, dass hier Luther nur noch immanent analysiert wird, obwohl er doch ständig den Psalmenkommentar des Augustinus heranzieht. Hier liegt doch die mittelalterliche Tradition, die für Luther wichtig ist, und nicht in Biel. Es folgt die Analyse der Römerbriefvorlesung (168–207) und der frühen Disputa-tionen (207–221). Hier werden bereits expliziter ethische Konsequenzen aus »der neuen Rechtfertigungslehre« entfaltet (173). Die Christusgnade bricht mit dem Streben, die Gerechtigkeit selbst durch Werke erarbeiten zu wollen. So bedeutet Rechtfertigung Verdemütigung, die ein Leben der poenitentia und humilitas als Frucht (Demutsexistenz) hervorbringt (Lehre von der doppelten Gerechtigkeit); eine solche christliche Praxis habe für Luther Heilsrelevanz; in dieser Vorlesung verstehe Luther die Rechtfertigung auch sanativ (184.193). Christen stehen unter der lex nova, »die dem Glaubenden volle Freiheit für die Praxis des Glaubens lässt und ihn nur auf die Liebe verpflichtet« (196); dabei wird das Gebot der Nächs-tenliebe verinnerlicht, entgrenzt und radikalisiert, da die falsche Egozentrik des Menschen aufgebrochen wird.
Die Römerbriefvorlesung scheint S. noch den Synergismus aktiven menschlichen Beteiligtseins an der Rechtfertigung zu implizieren (204 f.); der Rezensent würde hier eher eine terminologische Weiterentwicklung und Präzisierung in Luthers Theologie in den folgenden Jahren sehen wollen. Die anschließenden Disputationen spitzen die Lehre der Vorlesung jedenfalls antiaristotelisch zu. Noch immer können die aus der Gnade fließende Gottesliebe und die Selbstpreisgabe meritorisch gedeutet werden (216 f.), obwohl Luther doch (so 218 zu Recht) die Werke Gottes in uns als unser ganzes meritum bezeichnet! S. folgt in der Deutung und Datierung der reformatorischen Erkenntnis Bayer und Kröger (223–227); seine spätere Ethik sei auf der Grundlage seiner Frühschriften nicht möglich (erwächst die Dekalogauslegung von 1518 aber nicht aus Predigten 1516/17? ist die Nächstenliebe nicht schon in der Römerbriefvorlesung ähnlich konzipiert?). Christus sei nicht mehr der Richter und Retter, sondern nur noch heilvolles sacramentum. Dies setzt letztlich eine synergistische Deutung der Frühtheologie voraus, die doch keinesfalls zwingend ist und bei Luther eine Selbst-distanzierung hätte erwarten lassen, die aber weder in der Hebräervorlesung noch andernorts zu dieser Zeit erfolgte. Seit der He-bräervorlesung sei der Glaubende »nicht mehr in eine ständige Buß­bewegung hineingeworfen« (229). Dagegen ist doch zu sagen, dass sich das augustinische Gegensatzpaar sacramentum/exemplum ebenso bei Luther durchhält wie die Lehre von der doppelten Ge­rechtigkeit. Und noch immer ist für Luther der Glaube das eine Werk, aus dem alle Werke fließen (Scholion zu Hebr 2,3). Diese Werke fließen als Früchte aus der Christusgemeinschaft als Christusnachfolge, sind vom Erwerb des Heils aber getrennt. Seit 1517 interessierte sich Luther nun stärker um die ethischen Konkretionen dieser Lehre. Zentral ist das Thema Buße; diese beginnt mit der innerlichen contritio. Der Glaube befreit nicht von den Werken, sondern von einem Missverstehen der Werke. In der 1518 erschienenen Auslegung der Zehn Gebote will Luther zur entscheidenden inneren Dimension des Gebotsgehorsams führen; Dekalog und Bergpredigt fließen ineinander. Der innerlich und radikal verstandene Dekalog überführt so den Sünder; dem Gerechtfertigten kann er aber auch Anleitung zu guten Werken als Konkretionen der Liebe sein. Programmatisch zusammengefasst ist Luthers Deutung des christlichen Lebens dann in der Freiheitsschrift und im Sermon von den guten Werken. Folge der Begnadigung durch den Gekreuzigten ist der Wille, ihm nachzufolgen und im Leiden ihm gleichgestaltet zu werden ( vita passiva als Gleichförmigwerden mit Christus). Die Neuheit des Glaubens muss schrittweise in der alltäglichen äußeren Existenz Gestalt gewinnen. Die Selbsthingabe im Dienst an dem Nächsten fließt so aus dem Christsein; sie ist notwendig, wenn auch nicht der Weg zum Heil, jedenfalls wäre der Antinomismus ein grobes Missverständnis. Materialiter entfaltet sich dies im Sermon von den guten Werken an den Zehn Geboten, so dass hier durchaus die spätmittelalterliche Tradition einfließt, die von Luthers Rechtfertigungslehre aber durchdrungen wird (330–354). Entfaltet, präzisiert und systematisiert hat Luther dies in den 1520er Jahren, als er immer mehr die praktischen Konsequenzen seiner Theologie bedenken musste, so die Frage der Mönchsgelübde, die, wo sie gegen die evangelische Freiheit mit falscher innerer Einstellung geleistet worden wären, ungültig seien und Christi Heilswerk entwerten würden: In den Mönchsgelübden komme so ein falsches Gottes- und ein falsches Weltverhältnis zum Ausdruck (wie zwingend Luthers Deutung, dass das Mönchtum als Heilsleis-tung verstanden werden muss, bereits damals war, wird freilich nicht gefragt). Dies führt Luther zur Entfaltung seiner Stände-lehre, bei der er letztlich auf antike philosophische Schemata zu­rückgeht und diese weiterentwickelt (Kirche, Haus, Obrigkeit, mit ihren je eigenen Berufspflichten).
Gott ordnet die Welt durch Stand und Beruf; der Glaubende ist nur Instrumentalursache, durch die Gott die Welt regiert. Gegen Tendenzen, die wie Melanchthon das weltliche Schwert als etwas Negatives sahen, von dem Christen sich fernhalten sollen, hält Luther die weltliche Obrigkeit mit der christlichen Vollkommenheit für vereinbar und wertet sie positiv (Brief an Melanchthon vom 13. Juli 1521, die beiden Predigten von Oktober 1522, dann die Obrigkeitsschrift von 1523). Mit der Zwei-Regimenten-Lehre gelinge es Luther auf eine neuartige Weise, die eschatologische Radikalität des Evangeliums und die vorfindlichen Strukturen der Welt zusammenzudenken. Der Christ führe so eine Doppelexistenz und sei immer auch ein politisches Wesen von Natur aus. Gegen die mittelalterliche Tradition befreie Luther die weltliche Sphäre von geistlicher Bevormundung. Wegen der Sünde könne die Welt nicht nach dem Evangelium regiert werden. Die strafende Obrigkeit wird notwendig, wo die Sünde die Schöpfungsordnung in Gefahr bringe. Devianz im Glauben zu bekämpfen, erwartet Luther immer eindringlicher von ihr. – Predigten von 1519 münden 1522 in die Schrift »Vom ehelichen Leben«. Dieses wird der göttlichen Schöpfungsordnung zugewiesen; der Zusammenhalt zwischen Mann und Frau ist aber in gegenseitiger, selbstloser Liebe begründet und zielt auf die Zeugung von Nachkommen. Ehescheidung und Wiederheirat des Unschuldigen ist grundsätzlich möglich, Ehebruch müsse die weltliche Obrigkeit scharf sanktionieren. – Auch Besitz und Arbeit sind für Luther mit der Schöpfungsordnung gegeben und unvermeidbar, auch wenn das Wirtschaftsleben durch egozen-trische Gier verdorben sei. Vom Corpus iuris canonici hat S. freilich recht ungenaue Vorstellungen (476).
Entstanden ist eine kenntnisreiche Schrift eines mit Luther gut vertrauten Autors. Sie ist freilich von Vorentscheidungen zur Sichtweise auf Luthers spätmittelalterliche Prägung und auf seine Frühtheologie geprägt, die den Rezensenten nicht überzeugen. Dass wirklich erst eine völlig neuartige theologische Grundeinsicht Luthers Ethik möglich gemacht habe, die dann erst stringent aus dieser entfaltet werde, berücksichtigt doch zu wenig die Kontinuitäten bei Luther seit seinem Frühwerk und tendiert dazu, das Spätmittelalter als monolithischen Gegenblock zu essentialisieren.