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Ausgabe:

Juli/August/2019

Spalte:

776–779

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Bahlcke, Joachim, Störtkuhl, Beate, u. Matthias Weber [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Der Luthereffekt im östlichen Europa. Geschichte – Kultur – Erinnerung.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter Oldenbourg 2017. 379 S. m. zahlr. Abb. = Schriften des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 64. Geb. EUR 29,95. ISBN 978-3-11-050159-9.

Rezensent:

Volker Gummelt

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Bahlcke, Joachim, Störtkuhl, Beate u. Matthias Weber [Eds.]: The Luther Effect in Eastern Europe. History – Culture – Memory. Berlin u. a.: De Gruyter Oldenbourg 2017. 376 S. m. zahlr. Abb. = Schriften des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 69. Geb. EUR 29,95. ISBN 978-3-11-053767-3.


Im März 2016 richtete das Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa Oldenburg zusammen mit dem Historischen Seminar der Universität Stuttgart im Deutschen Historischen Museum in Berlin eine internationale Tagung zur Rezeption reformatorischer Bewegungen im östlichen Europa aus. Achtzehn im Rahmen dieser Konferenz vorgetragene Referate – ergänzt durch fünf weitere Studien – wurden in einem deutschsprachigen Band sowie in einem in der Gestaltung völlig identischen Band in englischer Übersetzung publiziert. Diese Tagung, die Allgemein- und Kunsthistoriker aus Deutschland sowie aus der Slowakei, Polen, Ungarn, Rumänien, Estland und Litauen zusammenführte, fand in der Vorbereitungsphase zu der zum Reformationsjubiläum 2017 in Berlin gezeigten nationalen Sonderausstellung »Der Luthereffekt. 500 Jahre Protestantismus in der Welt« statt. Mit dem Titelbegriff »Der Luthereffekt« wird bewusst eine Brücke zu dieser Reformationsausstellung geschlagen. Jedoch wird das Verständnis dieses Begriffes, den die Herausgeber in ihrem Vorwort selbst als »plakative Wortschöpfung« (9) bezeichnen, nicht weiter von ihnen erläutert und auch in keinem der Einzelbeiträge n ochmals aufgenommen. Vielmehr zeigen die Aufsätze des Ta­gungsbandes in ihrer Gesamtheit, dass weder alle reformatorischen Strömungen im östlichen Europa auf Luthers Wirken zu­rückzuführen sind noch unter einem Begriff zusammengefasst werden können. So ist diese Publikation als ein Sammelband anzusehen, dessen stets fundiert und sorgfältig gearbeitete Studien jeweils eine Fülle von interessanten Einzelaspekten vorstellen, die thematisch jedoch oft sehr speziell gefasst sind.
In einem Einführungsbeitrag stellt Winfried Eberhard die Entwicklung »der Reformationsbewegungen« in Polen-Litauen, Un­garn und den böhmischen Landen im 16. und 17. Jh. in seiner konfessionellen Pluralität vor, die im sonstigen Europa so nicht zu beobachten war. Die weiteren Aufsätze sind fünf Themenschwerpunkten zugeordnet.
Unter dem ersten dieser Stichworte »Konkurrenz und Toleranz« vergleicht zunächst Matthias Weber vier sehr verschieden geartete Regelungen eines Religionsfriedens aus Böhmen, Siebenbürgen und Polen-Litauen aus der Zeit von 1485 bis 1609. Maciej Ptaszyński betrachtet Reaktionen auf das Augsburger Interim von 1548 in Polen, die vor allem in Diplomaten- und Gelehrtenkreisen nachweisbar sind. In einem Beitrag zum Verhältnis der Klausenburger Antitrinitarier zu Luther gibt Edit Szegedi einen Einblick in die Wirkung des Wittenberger Reformators in Siebenbürgen im 16. Jh. und belegt überzeugend, dass Luther und seine Theologie auch für jenen radikalen Zweig der Reformation einen Grundstein von deren Lehre und Identität bildete. Hans-Jürgen Bömelburg, der nach der Bedeutung der Lutheraner in Polen-Litauen im 17./18. Jh. fragt, kommt zu der Einschätzung, dass diese in erster Linie als deutsche Minderheit im Land wahrgenommen wurden und im Gegensatz zu den Anhängern der reformierten Konfession kaum einen spürbaren Einfluss auf die Gesellschaft ausübten. Anhand verschiedenster Publikationen katholischer Reformtheologen Ostmitteleuropas zeigt Kolja Lichy »die Bedeutung der lutherischen Reformation als Katalysator katholischer Debatten« (91) in der zweiten Hälfte des 16. Jh.s auf.
In dem zweiten Themenbereich »Reiche, Länder und Regionen« stellt Bernhart Jähring die Bedeutung von Königsberg für die Reformation im östlichen Mitteleuropa vor. Kęstutis Daugirdas führt in die frühe Reformation Litauens ein, wo alsbald eine Konkurrenz zwischen Vertretern des lutherischen und des reformierten Bekenntnisses sowie den Antitrinitariern entstand. Die Untersuchung von Eva Kowalská betrachtet das Verhältnis von Lutheranern und Reformierten in Ungarn während des 17./18. Jh.s. In einer interessanten Fallstudie stellt dann Péter Ötvös das Schicksal der österreichischen Lutheraner vor, die als Glaubensflüchtlinge im 16. und 17. Jh. nach Ungarn kamen.
Ein dritter Themenschwerpunkt »Idee- und Wissenstransfer« widmet sich dem Einfluss des Buchdrucks für die Ausbreitung reformatorischen Gedankenguts in Osteuropa. Anja Rasche richtet dabei den Blick auf die Kaufleute der Hansestädte, die durch ihr enges Kommunikations- und Handelsnetz auch die reformatorischen Bewegungen im Ostseeraum förderten. Detlef Haberland belegt an repräsentativen Beispielen die Bedeutung des Buchdrucks für die Reformation in verschiedenen deutschsprachigen Regionen des östlichen Europas. Wie durch Bücherschmuggel die Versorgung ostmitteleuropäischer Protestanten mit Bibeln, Ge­sangbüchern und Erbauungsschriften zur Zeit der Gegenreformation im 18. Jh. gelang, beschreibt Joachim Bahlcke in seinem Aufsatz.
Den visuellen Medien und der Architektur als Kommunikationsmedien für reformatorische Ideen gilt ein weiterer Themenbereich. Hier gibt Jan Harasimowicz einen fundierten Überblick über den protestantischen Kirchenbau der Frühen Neuzeit zwischen Stettin, Königsberg und Breslau. In ihrem Beitrag zu den Illustrationen in Bibeln, die im 16. Jh. in Polen gedruckt wurden, zeigt Grażyna Jurkowlaniec, dass einzelne Motive interkonfessionell verwendet wurden. Krista Kodres betrachtet den evangelischen Kirchenbau und die lutherischen Altarretabeln im Baltikum im 17. Jh. An ausgewählten Beispielen kann Evelin Wetter belegen, dass vorreformatorische Kirchenausstattungen, einschließlich liturgischer Geräte und Gewänder, in den evangelischen Gemeinden in Siebenbürgen in den folgenden Jahrhunderten weitergenutzt wurden.
In einem abschließenden fünften Themenschwerpunkt werden unterschiedlichste Aspekte der Rezeption von Reformation sowie der Erinnerungskultur in Osteuropa vorgestellt. Anna Mańko-Matysiak gibt einen Einblick in die Wandlungen des Lutherbildes in Polen vom 17. bis zum 20. Jh. Bei der Vorstellung des 1832 in Leipzig gegründeten Gustav-Adolf-Werkes zur Unterstützung der evangelischen Diaspora richtet Wilhelm Hüffmeier sein Augenmerk vor allem auf dessen Wirken in Ostmitteleuropa. Martin Zückert zeigt das Spannungsfeld von Abgrenzung und Integration auf, in dem sich die lutherischen Kirchen in der Tschechoslowakei in der zweiten Hälfte des 20. Jh.s bewegten. Eine bisher kaum bekannte Übertrittsbewegung von Ukrainern in Galizien zur lutherischen und reformierten Konfession in den Jahren 1925 bis 1939 dokumentiert Katrin Boeckh. Anmerkungen der heutigen Aufführungspraxis von polnischen und litauischen Liedern aus der Reformationszeit geben Marta Skiba und Frank Pschichholz in ihrem Beitrag. Die wechselvolle Geschichte der 1654/55 erbauten Friedenskirche im schlesischen Jauer/Jawor insbesondere im 20. und beginnenden 21. Jh. schildert Małgorzata Balcer.
Ein Glossar, ein umfangreiches Literaturverzeichnis sowie ein Personen- und Ortsregister, das sowohl heutige als auch historische Namen aufführt, ergänzen diese Publikation. Alle Beiträge dieses Sammelbandes sind mit zahlreichen, stets farbigen Abbildungen illustriert. Somit wird äußerst anschaulich ein Einblick in die konfessionelle Pluralität Osteuropas gegeben, die in der Wirkung unterschiedlicher Strömungen der Reformation des 16. Jh.s eine entscheidende Prägung erhielt. Insgesamt besteht jedoch die Gefahr, dass aufgrund des Titels Erwartungen hinsichtlich theologischer Studien über das Nachwirken von Luthers reformatorischem Gedankengut in Osteuropa geweckt werden, die nicht eingelöst werden.