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Ausgabe:

Juli/August/2019

Spalte:

770–771

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Rexroth, Frank

Titel/Untertitel:

Fröhliche Scholastik. Die Wissenschaftsrevolution des Mittelalters.

Verlag:

München: C. H. Beck 2018 (2. Aufl. 2019). 505 S. m. 8 Abb. u. 6 Ktn. = Historische Bibliothek der Gerda Henkel Stiftung. Lw. EUR 29,95. ISBN 978-3-406-72521-0.

Rezensent:

Karl-Hermann Kandler

Mit diesem etwas ungewöhnlichen Titel legt Frank Rexroth ein Buch vor, das nicht beansprucht, eine umfassende Geschichte auf dem Weg zur Frühscholastik zu sein; er will anstelle einer Synthese einen Problemaufriss geben, hervorgegangen im engen Austausch mit Angehörigen seines Graduiertenkollegs »Expertenkulturen des 12. bis 18. Jahrhunderts« (17.352). Er behandelt nicht die Scholastik insgesamt, sondern nur den Weg zur Frühscholastik (bis Anfang des 13. Jh.s). Albertus Magnus, Thomas von Aquin, Bonaventura und Wilhelm von Ockham werden nur ein- bis viermal nebenbei erwähnt, Johannes Duns Scotus und Dietrich von Freiberg überhaupt nicht. Aber das bedeutet nicht, dass das Buch nicht von großer Gelehrsamkeit wäre oder nicht eine interessierte Leserschaft verdienen würde.
R. geht von der These aus, »dass im okzidentalen, ›lateinischen‹ Europa seit den 1070er-Jahren und innerhalb weniger Jahrzehnte eine Form von Wissenschaft entstanden ist, die man überhaupt erst sinnvollerweise als wissenschaftliches Wissen bezeichnen kann« (20). Ganz im Mittelpunkt des Buches steht Peter Abaelard; es handelt »von der Geburt einer intellektuellen Lebensform«, von dessen »selbstreferentielle(n) Qualität« (33). Es geht nicht mehr um eine harmonische Verbindung von Theologie und Philosophie, nicht um eine »Christliche Philosophie« (É. Gilson), das Denken ist selbstbewusst geworden. Während das Mönchtum lehrte, die Welt distanziert zu betrachten, waren die Kathedralschulen stärker auf irdische Belange ausgerichtet, aber doch fremdreferentiell. Jetzt kommen freie Schulen eines Lehrers auf, die nicht ortsgebunden sind. So war schon Lanfranc von Bec zunächst ein lehrender Scholar gewesen. Es entwickelte sich ein »Vertrauen in die rationale Ordnung neuen Wissens und dem nicht an einen Ort und eine Kirche gebundenen Dasein« (92), manchmal durch falsche Selbstsicherheit als häretisch angesehen (so bei Berengar von Tours). Es entwickelte sich dabei ein neues Lehrer-Schüler-Verhältnis, die Gemeinschaft des Magisters mit seinen Schülern wurde neu gefasst. »Bohrende Fragen nach wissenschaftlicher Wahrheit« machten den Mittelpunkt der geistig-spirituellen Existenz aus (99). Lehrer waren nun totale Vorbilder, nicht nur Wissensvermittler. R. meint, erst jetzt könne man von Wissenschaft reden, nicht nur von höherem Wissen (129). Nun treten die Magister auch namentlich auf, Abaelards Werke sind nicht mehr anonym überliefert, sie sind »Lehrwerke und zugleich Dokumente zeitgenössischer Lehrpraxis« (134 f.). Es entstehen »sehr individuelle Texte«; »die Wissenschaft war für ihn gehalten, sich selbst zu erklären« (164.172), Autoritäten werden hinterfragt. Abaelard spitzt zu und treibt Wissenschaft wie ein Turnier. Selbst seine einstigen Lehrer Wilhelm von Champeaux, Anselm von Laon und Roscelin schont er nicht, im Gegenteil, doch auch er muss erfahren, dass man ihn anfeindet und der Häresie bezichtigt (nicht nur von Bernhard von Clairvaux). Seine dialektische Methode wird besonders deutlich an seinem Werk »Sic et non«, Ausdruck seines gelehrten Habitus. Er gibt sich nicht zufrieden, Widersprüche in der Bibel oder bei den Vätern zu harmonisieren. Junge Leser sollen sich anstrengen bei der Suche nach Wahrheit, damit das »Forschen scharfsinniger« werde, und dabei »geistige Neugier und intellektuelle Spannkraft« nutzen (179 f.). Man nimmt so am Forschungsprozess teil, Philosophieren wird eine Lebensform. Aber auch Abaelards Denken ändert sich – von der Dialektik zur Theologie –, er reflektiert dabei über das wahr Gehaltene und das Wahrscheinliche. Der Schüler soll lernen, die »innere Wahrheit« zu betrachten (204). Doch das weckt Kritik. Gegenseitig werden Vorwürfe erhoben, die doctores gelten als arrogant, die Mönche als oberflächlich gebildet.
Aber die Kritiker können an Abaelards Methode nicht einfach vorbeigehen; »die neue Wissenschaft« etabliert sich »als ein Be­standteil urbaner Kultur«; der Scholar ist kein Klausner mehr, er bahnt sich disputierend seinen Weg durch die Stadt. So wird Paris »zum Anziehungspunkt des Schulenmilieus« (224.226) und ge­winnt überregionale Bedeutung als Bildungszentrum, gilt aber auch als Stätte der Unmoral. Kritisiert wird dazu das »übertriebene Interesse am Neuen«, die »Vernachlässigung der geistigen Tradition«, die Arroganz der Jungen sowie die Bevorzugung der Disputation gegenüber dem Lehrvortrag (242). Ab etwa 1150 rechnet eine neue Generation von Herrschern mit der Wissenschaft. Christliche Gelehrte beginnen, sich arabisches Wissen anzueignen, ein christlich-jüdisch-islamischer Gelehrtenaustausch kommt zustande, der von Spanien über Frankreich in das übrige Europa ausstrahlt.
Nach 1150 interessiert zunehmend die neue Generation, die R. Humanisten nennt, das christliche und das klassisch-antike Bildungsgut; der Diskurs wird gepflegt. »Was die Scholastiker für gefährliche Einfallstore des Vorurteils und des Irrtums hielten, galt den Humanisten als der Königsweg«. Das an den Schulen Gelernte fließt nun in weltliche Aktivitäten ein (275.279). In Italien erlebte die Rechtswissenschaft eine Renaissance als eine »funktionale Wissenschaft«, sowohl hinsichtlich des römischen als auch des kanonischen Rechts. Letzteres gewann seine Grundlage im Decretum Gratianum. Es formierte sich ein »Stand von Wissensträgern im Dienst des sozialen Ganzen« (297). Bologna gewann für die Juristen eine Magnetwirkung wie Paris für Theologen und Philosophen.
An die Stelle des an den Schulen gelehrten Programms der septem artes liberales trat um 1200 »eine stärker an der Sache ausgerichtete Idee von ›Philosophie‹« und damit eine bestimmte Lebensform, die artes standen nun unterhalb der höheren Studien. Johann von Salisbury, Abaelards Schüler, sah »die neue, sich vor seinen Augen entwickelnde Heterogenität der gelehrten Szene als ein wertvolles Gut an«. So entwickelte sich durch Zusammenfassung der örtlichen Studien die Universität als eine Körperschaft von Magistern und Scholaren (312.314 f.). Sie besaßen (zunächst) Autonomie und Autokephalie. Doch traten bald Vorbehalte gegenüber einer freien Behandlung theologischer Fragen auf, es kam in Paris zu Verboten naturphilosophischer Lehrveranstaltungen. Dies führte wiederum zum Auszug von Magistern und Scholaren an Orte, die einen freieren Umgang damit ermöglichten. Die Universität trat »an die Stelle jener fröhlichen Scholastik …, die weniger als anderthalb Jahrhunderte europäischer Wissensgeschichte geprägt hatte« (350).
R. legt ein grundgelehrtes und doch leicht lesbares Werk vor, das den gegenwärtigen Stand der Forschung gut zusammenfasst. Als Historiker stellt er die äußeren Bedingungen und Entwicklungen einer ungebundenen (»fröhlichen«?) Wissenschaft anschaulich dar, den Inhalt (Philosophie, Theologie) jedoch nicht. Doch sollte auch die theologische Mediaevistik das Buch zur Kenntnis nehmen. Der Anmerkungsteil (leider separat) umfasst 80, das Quellen- und Literaturverzeichnis 58 Seiten. Personen- und Ortsregister sind beigefügt, Ersteres aber unvollständig. Ein Fehler fiel auf: S. 247 muss es 1070 statt 1170 heißen (richtig dann 248).