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Ausgabe:

Juli/August/2019

Spalte:

757–760

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Baum, Armin D.

Titel/Untertitel:

Einleitung in das Neue Testament – Evangelien und Apostelgeschichte.

Verlag:

Gießen: Brunnen Verlag 2018. 960 S. Geb. EUR 70,00. ISBN 978-3-7655-9569-1.

Rezensent:

Ingo Broer

Armin Baum, der u. a. aus der Pseudepigraphiedebatte bekannte Neutestamentler der Gießener Freien Theologischen Hochschule, der gleichzeitig auch Professor an der Evangelischen Theologischen Fakultät Löwen ist, legt hier eine allgemeine und spezielle Einleitung für die neutestamentlichen Evangelien und die Apos-telgeschichte vor. Er kann sich dabei auf zahlreiche Vorarbeiten stützen.
Angesichts des Umfangs liegt es von vornherein nahe, dass B. den Begriff der Einleitungsfragen weit interpretiert, wie sich auch gleich zu Beginn zeigt, wo er Sprache und Stil der Geschichtsbücher mit dem Ergebnis erörtert, dass hier in durchaus unterschiedlicher Weise semitischer Spracheinfluss vorliegt, der auf Übersetzungen aus dem Hebräischen oder Aramäischen nicht nur im Redestoff hinweist. Auch der häufige Gebrauch der direkten Rede sowie das völlige Zurücktreten des Autors in die Anonymität ist in den Geschichtsbüchern des Alten Testaments (sowie der altvorder-orientalischen Literatur) vorgebildet und unterscheidet die Ge­schichtsbücher des Neuen Testaments von denen der antiken Geschichtsschreibung. Dieses Interesse an der Anonymität sollte allein dem Stoff höchste Priorität verleihen, stieß allerdings schon im 2. Jh. auf das gegenläufige Interesse, die Authentizität mit Hilfe von Namen der Apostel oder von deren Schülern zu untermauern. Auf Ausführungen zur Gattung der Evangelien folgen die zu den vier Evangelien und zur Apostelgeschichte, wobei die Erörterungen zum lukanischen Doppelwerk, zum erst nach den Synoptikern dargestellten synoptischen Problem und zum Johannesevangelium jeweils ca. 200 Seiten umfassen, während sich die zum Matthäus- und Markusevangelium auf ca. 50 Seiten beschränken.
Im Kapitel über das Markusevangelium geht B. im Wesentlichen auf formale Fragen ein: Mk 1,1 ist im Gegensatz zu Mt 1,1 keine Überschrift über das Evangelium; die häufig monierten falschen geographischen Angaben sind durchaus zutreffend; die bei Papias von Hierapolis anzutreffende, auf Tradition beruhende Angabe, Markus sei der Hermeneut des Petrus gewesen, passt trotz der anzunehmenden Zweisprachigkeit des Apostels Petrus gut in die Situation, da Petrus »bei seinen theologischen Lehrvorträgen durchaus dankbar die Hilfe eines semitisch-griechischen Dolmetschers in Anspruch genommen haben« kann. Denn der Paulus und Barnabas auf der ersten Missionsreise begleitende Johannes Markus dürfte die »unverzichtbare Verkehrssprache« im Gegensatz zu Petrus mühelos beherrscht haben. Das hohe Alter der Papias-Angabe spricht für deren Historizität. – Bei seiner Argumentation weist B. auf zahlreiche Analogien in der hellenistisch-römischen Welt hin, zum Beispiel zur Zweitsprachenkompetenz damaliger Autoren oder zur Notwendigkeit von Übersetzern in der literarischen Welt und bei politischen Verhandlungen. Darüber hinaus behandelt B. noch die beiden (sekundären) Schlüsse des zweiten Evangeliums und die Frage der Kanonizität. Genauere Angaben zur Abfassungszeit und zum Entstehungsort des Evangeliums liefert B. hier nicht.
Die Ausführungen zum Matthäusevangelium beginnen ebenfalls mit der Frage nach der Überschrift (1,1), behandeln dann die alttestamentlichen Zitate und die Frage nach einem semitischen Urmatthäus und dessen Verhältnis zu den synoptischen Evangelien.
1,1 ist Überschrift des ganzen Buches, die Sondergutzitate stimmen häufig gegen die LXX mit dem hebräischen Wortlaut des Alten Testaments überein, der Evangelist dürfte sie selbst aus dem Gedächtnis vom Hebräischen ins Griechische übersetzt haben. Die Papiasnotiz weist auf eine nur mündlich tradierte semitische Originalfassung des Matthäusevangeliums hin, ihr Zweck dürfte am ehesten sein, »den Lesern […] ein historisches Detail zu seiner Entstehungsgeschichte mitzuteilen«. Die semitische Urfassung ist möglicherweise in das Hebräerevangelium eingegangen. Das heutige Evangelium kann als Übersetzung der semitischen Originalfassung ins Griechische angesehen werden, wobei ein unwillkürlicher Einfluss des Markuswortlauts durchaus denkbar ist. Ein Problem für die Lösung der synoptischen Frage ergibt sich daraus für keines der gängigen Lösungsmodelle. Aber: Beweisbar ist die Existenz dieser Urfassung des griechischen Matthäusevangeliums nicht. Letzteres dürfte noch vor dem Ende des 1. Jh.s entstanden sein.
Im mit »Das lukanische Doppelwerk« überschriebenen Kapitel plädiert B. für einen gemeinsamen Autor von drittem Evangelium und Apostelgeschichte. Darüber hinaus geht er aber nur auf den Prolog des Evangeliums im Kontext antiker Prologe ein, das Schwergewicht der Ausführungen liegt eindeutig auf der Apostelgeschichte, die mit den antiken Geschichtswerken, Epen und »Romanen« verglichen wird und schon aufgrund des Vorwortes, der Prosaform und des Bezuges der Gattung zur Realität der Historiographie zuzuweisen ist. Dasselbe gilt aufgrund des im Prolog erhobenen historischen Anspruches auch für das Evangelium, die Kennzeichnung als »historische Monographie« besagt aber nicht viel. Die Ausbreitung einer Religion steht in antiken Geschichtswerken mit Ausnahme des Alten Testaments nicht im Mittelpunkt. Dass Lukas die von ihm erzählten Wunder für Tatsachen hielt, spricht nicht gegen den historiographischen Charakter der Apostelgeschichte, solche Erzählungen sind auch in Werken anderer antiker Historiographen enthalten. Allerdings überschreitet Lukas mit der leiblichen Auferstehung und Himmelfahrt den Rahmen antiker Historiographie mit Ausnahme der des Alten Testaments. Ausführliche Erörterungen über das Verhältnis der antiken Schriftsteller zu den in ihren Werken geschilderten Reden führen zu den Reden der Apostelgeschichte, wo B. in der Areopag- und Miletrede zahlreiche Anklänge an die paulinischen Briefe und keine Widersprüche zu ihnen findet. »Die Reden des lukanischen Paulus haben uns trotz ihrer bedauernswerten Kürze ein realistisches Bild davon aufbewahrt, wie der historische Paulus zu nicht-christlichen Juden und Heiden gesprochen haben dürfte.« Das dürfte analog auch für die übrigen Reden in der Apostelgeschichte gelten. Dann überrascht es nicht, dass die Wir-Stellen der Apostelgeschichte autobiographische Angaben des Autors sind und auf einen Paulus-Begleiter als Verfasser des Evangeliums und der Apostelgeschichte hinweisen. Dass der halboffene Schluss der Apostelgeschichte von Lukas als bewusstes Stilmittel eingesetzt wird, ist im Blick auf die antike Literaturtheorie wenig wahrscheinlich.
Die ausführliche Durchsicht aller vorhandenen Lösungen des synoptischen Problems (ca. 70 Seiten) endet mit der Feststellung, dass alle Lösungen zwischen einem reinen Abschreibeverhältnis und einer reinen Gedächtnisleistung anzusiedeln sind, weswegen B. die Lösung des Problems anhand der Frage der Verarbeitung schriftlicher Quellen in der Antike einerseits und der Rolle mündlicher Überlieferung andererseits sucht. Allerdings ist mit Hilfe der Wortlautidentität die Frage nach dem Verhältnis der Autoren der synoptischen Evangelien zu ihren Quellen auch nicht eindeutig zu lösen, obwohl die »Unterschiede zwischen den synoptischen Parallelperikopen ohne weiteres als Ergebnis menschlicher Gedächtnistätigkeit erklärbar« sind. Deswegen muss am Ende das Ergebnis doch vom Blick auf den »synoptischen Gesamtbefund in seiner ganzen Komplexität« abhängig gemacht werden, bei dem dann aber der Befund zur Wortlautidentität ein sehr entscheidender Faktor wird. Da alle Hypothesen zur Lösung der synoptischen Frage an Plausibilität gewinnen, wenn sie mit einer primären Bezugnahme auf mündliche Quellen und nur sekundär auf schriftliche Quellen rechnen, führt B. die synoptischen Evangelien auf ein mündliches Urevangelium und auf eine mündliche Quelle Q zu­rück.
Die zahlreichen Bezugnahmen auf das synoptische Problem im diesem Kapitel vorangehenden Text machen deutlich, dass dessen Behandlung besser der der synoptischen Evangelien vorangegangen wäre statt ihr erst zu folgen. Trotz der von B. vorgetragenen Eigenschaften mündlicher Überlieferung bleibt m. E. die grundsätzliche Frage bestehen, ob die in hohem Maße bestehenden Wortlautübereinstimmungen zwischen den Synoptikern nur aufgrund mündlicher Überlieferung bestehen können und insofern einer Augenzeugenschaft nicht im Wege stehen.
Zum Johannesevangelium: Die Ortsangaben sind historisch zuverlässig und auch auf dem Hintergrund der kognitiven Psychologie plausibel. Die in ihrer Präzision ebenfalls über die Synoptiker hinausgehenden Zeitangaben weisen auf den Anspruch des Autors hin, über detaillierte Kenntnisse dazu zu verfügen. Sie sind im Übrigen, soweit nachprüfbar, von beachtlicher historischer Zuverlässigkeit und stehen einer Augenzeugenschaft des Verfassers nicht im Wege, zumal sie sich »gedächtnispsychologisch ohne weiteres auf die autobiographische Erinnerung eines Zeitzeugen zurückführen« lassen. Auch die (relativ) späte Abfassung des Johannesevangeliums und das dementsprechend hohe Alter des Verfassers als Augenzeugen stellen gedächtnispsychologisch kein Problem dar. Die zahlreichen Wiederholungen sind ein Hinweis auf die Entstehung des entsprechenden Stoffes in der mündlichen Predigt. Vor allem die »sehr große Zahl johanneisch-synoptischer Konzeptparallelen« lassen die häufig betonte große Differenz zwischen den johanneischen und synoptischen Reden für »auf der inhalt- lichen Ebene als weit überzogen« erscheinen. »Gemessen an der Christologie der Synoptiker nach den Maßstäben antiker Historiographie hat der vierte Evangelist den Selbstanspruch (sc. Jesu) angemessen wiedergegeben.« Joh 21,1–25 ist aufgrund mehrerer Kri­terien ein Nachtrag zum Text des Evangelisten, der mit dem Lieblingsjünger zu identifizieren und am ehesten als Hinweis auf den Zebedäussohn Johannes zu verstehen ist. Die zahlreichen literarkritischen Rekonstruktionen dagegen beruhen häufig auf »weltanschaulichen Überzeugungen des modernen Kritikers«. Die synoptische und die johanneische Tradition hatten auf verschiedenen Stufen der Entstehungssituation miteinander Kontakt.
Das abschließende Kapitel behandelt die Entstehungszeit der neutestamentlichen Geschichtsbücher. Sichere Indizien für die Abfassungszeit lassen sich den Geschichtsbüchern des Neuen Testaments nicht entnehmen. Alle altkirchlichen Nachrichten stimmen darin überein, dass das semitische Matthäusevangelium das älteste und das Johannesevangelium das jüngste ist. Irenäus datiert die Synoptiker »in den 60er Jahren des 1. Jahrhunderts«.
Bei der Einleitung B.s handelt es sich zweifellos um ein sehr gelehrtes Buch. B. gelingt es, seine Ansichten im Gespräch mit anderen Autoren argumentativ durchzubuchstabieren. Er geht dabei mit seinen »Gegnern« immer fair um und weist sowohl bei diesen wie bei sich selbst auf die Voraussetzungen der eigenen Arbeit hin. Er benutzt zahlreiche antike Quellen und Belege aus der Sekundärliteratur, geht durchaus aber auch eigene Wege. Sein Blick auf die Texte erfolgt mit einer ausgesprochen weiten Perspektive, was u. a. seine literaturtheoretischen (zu Antike und Gegenwart) und psychologischen Überlegungen demonstrieren. Zahlreiche Texte werden aber auch kleinteilig analysiert. Abbildungen und Schemata erläutern die Ausführungen, Zusammenfassungen er­leichtern den Überblick. Die einzelnen Abschnitte sind jeweils mit einem eigenen ausführlichen Inhaltsverzeichnis versehen, und Spezialliteratur wird bei sehr vielen Unterabschnitten genannt, die diskutierten Einzelmeinungen sind in der Regel genau belegt. Das Buch stellt eine Fundgrube für den dar, der sich einen Überblick über die zahlreichen Probleme der Entstehung der neutestamentlichen Geschichtsbücher verschaffen will.
Dass zahlreiche Ansichten B.s kontrovers sind, bringt dieser selbst zur Sprache. Es sei nur auf die Frühansetzung der Bücher verwiesen. Vor allem der Blick auf die Darstellung des johanneischen Redematerials macht in den Augen des Rezensenten allerdings deutlich, dass die genaue Betrachtung der Einzelheiten nicht vor der Gefahr schützt, den Blick für das Ganze etwas aus dem Auge zu verlieren. Denn auch wenn es in der Tat zwischen den johanneischen und den synoptischen Reden durchaus ähnliche Wendungen gibt, so sind diese doch auch und vor allem gerade in ihrem gesamt-christologischen Gehalt so weit von den Synoptikern entfernt, dass die »Christologie« des vierten Evangeliums nicht einfach als bloße Explikation der bei den Synoptikern schon implizit vorhandenen christologischen Aussagen angesehen werden kann. Die zahlreichen Selbstidentifikationen des johanneischen Jesus mit »dem Sohn«, dem Heil der Menschen (Auferstehung, Licht der Welt usw.) und dem Vater sowie der Hervorgang aus diesem sowie deren exponierte Stellung im Evangelium können kaum mit den von B. angeführten synoptischen Parallelen gleichgestellt werden. In der Christologie »dieselbe theologische Hochebene« zwischen Johannes und den Synoptikern festzustellen, dürfte trotz mehrerer Versuche (keineswegs nur von B.!) kaum möglich sein. Ein »christologischer Niveauunterschied« ist zwischen Johannes und den Synoptikern keineswegs nur auf der »terminologischen Oberfläche« gegeben.
B. hat ein eindrucksvolles Buch vorgelegt, damit ist freilich die Diskussion über die Abfassungsverhältnisse der neutestamentlichen Geschichtsbücher nicht beendet, sondern erneut angestoßen. Das spricht für die Qualität des Buches!