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Ausgabe:

Juli/August/2019

Spalte:

754–757

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Williamson, H. G. M.

Titel/Untertitel:

Isaiah 6–12. A Critical and Exegetical Commentary.

Verlag:

London u. a.: Bloomsbury T & T Clark 2018. LXI, 740 S. = The International Critical Commentary. Geb. £ 75,00. ISBN 978-0-567-03059-7.

Rezensent:

Konrad Schmid

Die Jesajaforschung hat in den letzten Jahrzehnten beachtliche Fortschritte erzielt, die mehrere Perspektivenwechsel mit sich gebracht haben. Es ist deutlich geworden, dass die Texte des Buches nicht nur, aber auch im literarischen Zusammenhang des Gesamtbuches interpretiert werden müssen. Weiter hat sich gezeigt, dass das Jesajabuch nicht unter Absehung seiner altorientalischen, d. h. assyrischen, babylonischen, persischen und hellenistischen Kontexte untersucht werden kann. Schließlich konnte die Forschung die Logik innerbiblischer Schriftauslegungen, die sich auch im Jesajabuch in mannigfaltiger Weise zeigt, erheblich aufklären.
Der zweite Band von H. G. M. Williamsons (Regius Professor Emeritus an der Universität Oxford) monumentalem Kommentar, der insgesamt Jesaja 1–27 abdecken soll, stellt einen ebenso detaillierten wie gelehrten Beitrag zur Jesajaforschung dar. In Bezug auf die Erschließung des Textes, die Textkritik sowie die philologisch-historische Aufhellung von Jesaja 6–12 lässt der zweite Band von W.s Kommentar, wie schon der im Jahr 2006 erschienene Vorgängerband zu Jesaja 1–5, keine Wünsche offen und darf als der künftige state of the art der Jesajaforschung in diesem Textbereich gelten. Was weitere, übergreifende Perspektiven zum Jesajabuch angeht, so äußert sich der Kommentar eher zurückhaltend und bleibt in vielem unbestimmt.
Die Kommentierung von Jesaja 6–12 berücksichtigt alle wichtigen Textzeugen des Buches und diskutiert namentlich die Varianten in der großen Jesajarolle aus Qumran ausführlich und kritisch. Besonders bemerkenswert sind etwa die Abweichungen innerhalb des sogenannten Verstockungsauftrags Jes 6,9. Die Jesajarolle aus Qumran bietet statt לא »nicht« die Präposition לע »damit, weil«, so dass sich der Verstockungsauftrag in sein Gegenteil verkehrt: »Hören sollt ihr, damit/weil ihr begreift! Und sehen sollt ihr, damit/weil ihr versteht!« Es liegt auf der Hand, dass diese Lesart als lectio facilior und deshalb sekundär zu gelten hat.
Auch die Interaktion mit der Sekundärliteratur erfolgt bei W. in nahezu erschöpfender Weise, die auch den deutschen und französischen Sprachraum miteinschließt. Er berücksichtigt alle wichtigen Kommentare zum Jesajabuch, greift aber auch weit in die Publikationen zum Jesajabuch aus der Forschungsgeschichte aus. Vergleichsweise häufig verweist er auch auf seine eigenen Arbeiten, die bestimmte Einzelprobleme in thematischer Fokussierung darstellen.
Kann der Kommentar von W. im Bereich der Mikroexegese als vorbildlich gelten, so gelangt das Werk aber an gewisse Grenzen für Fragen der Makroexegese des Jesajabuchs. Schon der erste Band zu Jesaja 1–5 enthielt nur eine kurze, zweiseitige »Introduction«, die im Wesentlichen Auskunft darüber gab, dass es offensichtlich sei, »that the time has not yet come for an introduction to this part [i. e. Jesaja 1–27] of the book of Isaiah in its entirety« (1). Der zweite Band enthält ebenfalls eine »Introduction«, nun im Umfang von 8 Seiten (1–8), der über gewisse Grundentscheidungen zur Anlage und zum Aufbau des Kommentars sowie zur rekonstruierten Entstehung des Jesajabuches Auskunft gibt. Doch an bestimmten Stellen des Kommentars, etwa zu Jesaja 7 und seinen Verbindungen zu Jesaja 36–39, macht sich der nur andeutungsweise Einbezug buchkompositioneller Perspektiven nachteilig bemerkbar. W. vermerkt zwar, »that the composition of these two passages must have been closely related« (106), doch die im Gesamtbuch aussagekräftige und formgebende Antithese zwischen den Königen Ahaz und Hiskia wird so nur ansatzweise erkennbar. Weiter ist nicht recht erkennbar, weshalb W.s nachvollziehbare Überlegungen zur Gesamtstruktur von Jesaja 1–12 – die beiden Blöcke Jesaja 2–5 und 6–11 kontrastieren einander, mit Jesaja 1 als Einleitung zu einem größeren Buchganzen und Jesaja 12 als Abschluss von Jesaja 2–12 – in grundsätzlicher Opposition zu der von E. Blum und anderen angenommenen Ringkomposition in Jesaja 1–11 stehen müssen, die W. bestreitet. Es fällt schwer, die Entsprechungen zwischen Jes 1,21–26/11,1–5 (Gerechtigkeitsthema), Jes 5,8–24/10,1–4 (Weherufe) und Jes 5,25–30/9,7–20 (Kehrversgedicht) mit Jesaja 6–8 als zentralem Element nicht als Ringstruktur zu deuten. Es ließe sich diskutieren, ob diese Ringkomposition eine ältere, blockweise organisierte Struktur modifiziert hat, doch diese selbst als »conjectured« (672, Anm. 76) einzustufen, läuft dem Textbefund zuwider.
Insgesamt rechnet W. mit einem substantiellen Anteil des historischen Jesaja selbst an der Überlieferungsbildung von Jesaja 1–12, so etwa Jes 6,1–11.13a; 8,1–8a.11–17; 8,23b–9,6; 8,7–20; 10,5–15.27–32 und 10,33–11,5). Das in der 1. Person Singular gehaltene Textgut in Jesaja 6 und 8 – unter Ausklammerung des Fremdberichts in Jesaja 7 – sieht W. als einen Selbstbericht Jesajas an, was der klassischen Hypothese einer Denkschrift Jesajas aus dem syrisch-ephraimitischen Krieg nahekommt (306 f.). Aufgrund von Jes 30,8 datiert W. diesen Selbstbericht in die Frühzeit Jesajas, was allerdings die Auslegung des Verstockungsbefehls (Jes 6,9 f.) im Sinne einer Rückprojektion auf die erfolglose Verkündigung Jesajas, die mit seinem Auftrag in eins gesehen wird, nahezu unmöglich macht. W. zieht es vor, J. Joosten zu folgen, der mit Verweis auf 1Sam 26,19b; 2Sam 14,7 und Jes 28,15 die Auffassung vertritt, Jes 6,9 f. sei nicht als aktuelle Verkündigung zu verstehen, sondern »serve to reveal something of [… the speaker’s] character at this point in the narrative« (74). An der von W. als jesajanisch bestimmten Auswahl (besonders Jes 8,23b–9,6; 10,16–19) wird deutlich, dass W. der Annahme einer josianischen Redaktion des Jesajabuchs, wie sie Hermann Barth vorgeschlagen hat, nicht folgt. Die bei Barth auf Josia bezogene Aussage Jes 9,5 (»Denn ein Kind ist uns geboren, ein Sohn ist uns gegeben«) übersetzt W. zwar zutreffenderweise im Perfekt, er hält sie aber gleichwohl für eine Verheißung (392.395). Doch der Verweis auf Jer 20,15 und Ruth 4,17 kann diese Auslegung nicht tragen – hier geht es um rückblickende Feststellungen von Geburten, nicht um »birth announcements«.
Darüber hinaus erkennt W. zwei übergreifende Redaktionen, die sich an wenigen Stellen, aber prominent in den Text eingeschrieben haben.
Die eine datiert er in die Exilszeit und führt sie auf Deuterojesaja, also den namenlosen Autor des Grundbestandes von Jesaja 40–55, zurück, der seiner Ansicht nach nicht nur den zweiten Teil des Jesajabuchs verfasst hat, sondern gleichzeitig auch den ersten Teil (Jesaja 1–39) in seinem Sinn überarbeitet hat. Diese Theorie wird im Rahmen des vorgelegten Kommentars nicht eigens begründet, sondern W. verweist hierzu auf seine Monographie »The Book Called Isaiah: Deutero-Isaiah’s Role in Composition and Redaction« (Oxford: Oxford University Press, 1994). Im Bereich von Jesaja 6–12 erkennt W. vor allem eine große Nähe von Jes 11,11–16 und 12 zu Deuterojesaja, ebenso hält er die jetzige Stellung von Jes 5,26–29, dem ersten Teil des sogenannten Kehrversgedichts (»refrain poem«), getrennt von Jes 9,7–20 für ein Resultat der Arbeit Deuterojesajas im vorderen Buchteil.
Für die zweite Redaktion, mit der W. rechnet, folgt er seinem Schüler Jacob Stromberg und dessen Arbeit »Isaiah After Exile: The Author of Third Isaiah as Reader and Redactor of the Book« (Oxford: Oxford University Press, 2011), der analog zu W.s Theorie zu Deuterojesaja auch Tritojesaja nicht nur als Autor hinter Jesaja 56–66 bestimmt, sondern in ihm zugleich einen zweiten Redaktor des gesamten Jesajabuches sieht. In Jesaja 6–12 finden sich Einschreibungen von Tritojesaja am Ende von Jes 6,13 sowie in 11,10.
Über diese beiden buchweiten Redaktionen hinaus rechnet W. auch mit kleineren Fortschreibungen und Glossen, so etwa in Jes 3,8 f.; 6,1 oder 8,15b.
Man mag dieses Bild der Entstehung von Jesaja 1–12 teilen oder nicht, einzeln begründet wird es in W.s Kommentar nicht, sondern die Würfel sind bereits in den zahlreichen und gewichtigen Publikationen W.s, die vor diesem Kommentar erschienen sind, gefallen, auf die er jeweils verweist. Darüber hinaus lässt W. aber auch substantielle Fragen der Komposition von Jesaja 1–27 offen, für die er sich noch nicht festlegen will, etwa für Jesaja 24–27.
Der Kommentar von W. zu Jesaja 6–12 oszilliert so zwischen einem Kompendium von exegetischen Detailbeobachtungen zum biblischen Text einerseits, die in ihrer Präzision ihresgleichen in der bisher vorgelegten Kommentarliteratur zu Jesaja suchen müssen, und der Anwendung eines historischen Gesamtbildes auf den Text andererseits, dessen Begründungen W. weitestgehend andernorts vorgelegt hat und die im Rahmen seines Gesamtwerks evaluiert werden müssen. Sein Buch zeigt, dass das Genre »Kommentar« angesichts der in der Forschung neu entdeckten, buchübergreifenden Fortschreibungs- und Redaktionstätigkeiten im Jesajabuch an gewisse Grenzen der Darstellungsmöglichkeiten stößt. Unbestreitbar bleibt jedoch das Verdienst W.s, die bislang dichteste Auslegung von Jesaja 1–12 vorgelegt zu haben, an der keine Jesajaforscherin und kein Jesajaforscher mehr vorbeigehen kann.