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Ausgabe:

Juli/August/2019

Spalte:

746–747

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Eder, Sigrid

Titel/Untertitel:

Identifikationspotenziale in den Psalmen. Emotionen, Metaphern und Textdynamik in den Psalmen 30, 64, 90 und 147.

Verlag:

Göttingen: Bonn University Press bei V & R unipress 2018. 436 S. = Bonner Biblische Beiträge, 183. Geb. EUR 60,00. ISBN 978-3-8471-0684-5.

Rezensent:

Karoline Rumpler

In einer leicht überarbeiteten Fassung ihrer Habilitationsschrift untersucht Sigrid Eder mit literaturwissenschaftlichen Methoden vier Psalmen der Hebräischen Bibel, des Alten Testaments. Ihr Ziel ist es, einen Beitrag zur Klärung des Identifikationsbegriffs zu leis-ten, diesen auf die Anwendung der exegetischen Textauslegung operationalisierbar zu machen und damit Textstrategien zur Identifikation in den Psalmen zu beschreiben.
In der ausführlichen Einleitung begründet sie ihre Hermeneutik und stellt den aktuellen Forschungsstand zu den Themenfeldern Rezeptionsästhetik, Emotionen im Alten Testament, narratologische Zugänge zu lyrischen Texten sowie der Psalmenforschung dar. Die methodologischen Grundlagen entwickelt sie im zweiten Teil der Arbeit: Auf dem Hintergrund der Konzepte der literarischen Identifikation bei Werner Wolf, Els Adringa, Suzanne Keen, Keith Oatley und Uri Margolin konzipiert E. einen Identifikationsbegriff, der als Grundlage für ihre Methodik dient, die im dritten Teil dargestellt ist.
Die Vielfalt methodischer Herangehensweisen stets im Blick konzentriert sie sich im Methodik-Kapitel auf die Operationalisierbarkeit des Identifikationsbegriffs für die konkrete exegetische Textanalyse. Dabei erstellt sie drei Kategorien (Inhalt, Emotionen, Perspektiven/Textdynamik) als Grundlage für die Textanalyse, wobei sie neben theoretischen Darlegungen auch ihr konkretes Vorgehen nachzeichnet.
Im vierten und umfangreichsten Teil der Arbeit wendet sie nun diese Kategorien auf vier ausgewählte Psalmen (Ps 30, 64, 90 und 147) an und entfaltet jeweils nach einer auswertenden Zwischenreflexion für die einzelnen Psalmen »Identifikationspotenziale«.
Die Ergebnisse der Einzelstudien werden im letzten Teil der Arbeit erörtert, indem E. einerseits den Blick noch einmal auf die Frage nach der Relevanz narratologischer Analysekategorien für lyrische Texte lenkt und andererseits die Vielfalt an Emotionen gruppiert und systematisiert. Eine Zusammenfassung der Identifikationspotenziale der ausgewählten Psalmen sowie ein Ausblick auf die Rezeptionsgeschichte runden die Arbeit ab.
Die der Textanalyse vorausgehenden Kapitel und ihre Aufteilung (hermeneutischer Rahmen – literaturwissenschaftliche und psychologische Konzepte von literarischer Identifikation – me-thodologische Operationalisierung für die Textanalyse) zeigen E.s reflektierte Zugangsweise. Kriterien für die Psalmenauswahl sind Wechsel der Sprechinstanzen, unterschiedliche Themen und Gattungen, Beispiele aus vier der fünf Psalmenbücher sowie ihr Potenzial, sich in ihnen »wiederzufinden«. Die aufeinander aufbauenden ersten drei Teile kulminieren schließlich in der konkreten Textanalyse. In sorgfältiger Detailarbeit werden die Emotionen, aber auch die Perspektiven bzw. Textdynamik des jeweiligen Psalms für die weitere Bearbeitung aufbereitet. E. deckt dabei nicht nur offensichtliche Emotionen auf, sondern geht Vers für Vers auf »emotionale Spurensuche«.
Dabei erweist sich auch die von Keith Oatley getroffene Unterscheidung zwischen »Fiction-based emotions« (F-emotions) und »Artefact-based emotions« (A-emotions) als anregender Ansatz, die vielfältigen Emotionen der Psalmen zu beschreiben und darüber hinaus auch emotionale Anknüpfungspunkte für die Lesenden zu erfassen. Unter F-emotions werden dabei implizite und explizite Emotionen verstanden, die innerhalb der fiktionalen Welt des Textes entstehen. A-emotions sind dagegen jene Emotionen, welche bei Lesenden durch die Konfrontation mit dem Werk entstehen. In der konkreten Analyse wird der Bildsprache schließlich ebenso viel Aufmerksamkeit geschenkt wie den explizit und implizit im Text genannten Emotionen. Die sich daraus ergebende emotionale Vielfalt fasst E. im Schlusskapitel in insgesamt 16 Emotionsfeldern zusammen.
Perspektiven und Textdynamik werden unter mithilfe der Terminologie aus dem Bereich Theater und Film untersucht. E. unterteilt die jeweiligen »Szenen« der Psalmen in »Spots« und zeichnet so in Feinarbeit die Perspektivenlenkung nach. Dabei erhält die durch Parallelismen verursachte Dynamik ebenso Aufmerksamkeit wie die im Psalm nachgezeichneten Räume und Zeiten. Am Ende jeder Psalmenstudie erarbeitet E. aus den Ergebnissen der Textanalyse Identifikationspotenziale des jeweiligen Psalms, welche sich aus den Inhalten, den Emotionen sowie der Perspektivenlenkung bzw. Textdynamik erschließen lassen.
Der fünfte Teil fasst die Ergebnisse aus den Einzelstudien zu­sammen: E. weist auf Chancen wie auch Grenzen der narratologischen Analyse für die Psalmenexegese hin und veranschaulicht die Vielschichtigkeit der Emotionen in den ausgewählten Psalmen sowie den damit verbundenen Schwierigkeiten für zukünftige Arbeiten. Die Emotionsanalyse zeigt, dass die Trennschärfe aller Einteilungen und Kategorisierungen nicht immer gegeben ist, dennoch erweist sich die Zusammenstellung der gefundenen Emotionsfelder insgesamt als sehr aufschlussreich. Sprachbilder, die für den Ausdruck von Emotionen eminent wichtig sind, werden in metaphorische Rede, Metaphern, Personifikationen und Vergleiche eingeteilt.
Die Identifikationspotenziale stellt E. anhand der Stichpunkte »Einsteigen« – »Dranbleiben« – »Identifikation« – »Aneignung« zu­sammen und verweist in einem Ausblick auf die Bedeutsamkeit der Erforschung von Identifikationspotenzialen, die über die biblischen Texte hinausreicht.
Die Studie ist in ihrem methodischen Ansatz innovativ und führt zu Ergebnissen, die für die Entwicklung der alttestamentlichen Exegese höchst relevant sind: E. schafft es, die komplexen anthropologischen Fragestellungen von Identifikation und Emotionen so zu bündeln, dass sie für die Exegese biblischer Texte fruchtbar gemacht werden können. Dabei gelingt ihr sowohl ein Brückenschlag zwischen literaturwissenschaftlichen Theoriediskursen und alttestamentlicher Exegese, als auch der Anschluss an gegenwärtige Identifikationsdebatten in den Textwissenschaften – und darüber hinaus.