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Ausgabe:

Juli/August/2019

Spalte:

737–738

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Nathan, Emmanuel, and Anya Topolski [Eds.]

Titel/Untertitel:

Is There a Judeo-Christian Tradition? A European Perspective.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2016. VIII, 287 S. = Perspectives on Jewish Texts and Contexts, 4. Geb. EUR 99,95. ISBN 978-3-11-041647-3.

Rezensent:

Beate Ego

Die Publikation enthält die Beiträge einer Konferenz, die das Institute of Jewish Studies« (IJS) und das »University Centre Saint Ignatius« in Antwerpen (UCSIA) unter der Leitung von Vivian Liska (IJS) und Jacques Haers (damaliger Direktor von UCSIA) veranstaltet haben. Der Sammelband wird durch den grundlegenden Beitrag von Emmanuel Nathan and Anya Topolski »The Myth of a Judeo-Christian Tradition: Introducing a European Perspective« (1–16) eröffnet.
Ausgangspunkt ist die These des amerikanischen Philosophen Arthur Cohens aus dem Jahre 1984, wonach die »jüdisch-christliche Tradition« gar nicht existent ist, sondern einen Mythos darstellt, mit dem Judentum und Christentum ihren Willen zu einer Selbstbestärkung anlässlich eines immer stärker werdenden Atheismus zum Ausdruck bringen. Dem steht der häufige Ge­brauch des Be­griffes in der Gegenwartssprache gegenüber, wie er nicht zuletzt auch in offiziellen EU-Dokumenten erscheint, und so stellt sich die Frage nach der Bedeutung und der Sinnhaftigkeit der Verwendung dieser Begrifflichkeit. Die Sichtung der bisherigen Forschungsliteratur macht deutlich, dass die Thematik in historischer, philosophisch-theologischer und politischer Hinsicht be­trachtet werden muss. Daraus wiederum resultiert der Aufbau des hier vorliegenden Bandes in seinen drei Teilen.
Teil 1 mit der Überschrift »History« enthält die folgenden Beiträge: F. Stanley Jones, Jewish Christianity and the Judeo-Christian Tradition in Toland and Baur, 17–30; Peter C. Hodgson, F. C. Baurʼs Interpretation of Christianityʼs Relationship to Judaism, 31–52; Ivan Kalmar, Jews, Cousins of Arabs: Orientalism, Race, Nation, And Pan-Nation In The Long Nineteenth Century, 53–74; Noah B. Strote, Sources of Christian-Jewish Cooperation in Early Cold War Germany, 75–102. Es zeigt sich, dass der Begriff »jüdisch-christlich« zuerst von dem Philosophen John Toland (1670–1722) verwendet wurde und dann später bei Ferdinand Christian Baur (1792–1860) in der Tübinger Schule eine besonders prominente Bedeutung erhielt. In diesem Diskurs stand die Beschäftigung mit dem antiken Judenchristentum bzw. die Beziehung zwischen Judentum und Christentum in der Antike im Vordergrund. Der Orientalismus des 19. Jh.s betonte wiederum die Nähe zwischen Judentum und Islam. Weitere entscheidende Impulse für die Entwicklung der Begrifflichkeit entstammen dem deutschen Diskurs der Nachkriegszeit mit seinem Bemühen um einen jüdisch-christlichen Dialog.
Teil 2 des Bandes versammelt Beiträge aus dem Bereich »Theologie und Philosophie«: Emmanuel Nathan, Two Pauls, Three Op-tions: The Jewish Paul between Law and Love, 103–122; Gesine Palmer, Antinomianism Reloaded – Or: The Dialectics of the New Paulinism, 123–136; Marianne Moyaert, Christianizing Judaism? On the Problem of Christian Seder Meals, 137–164; Christoph Schmidt, Rethinking the Modern Canon of Judaism – Christianity – Modernity in Light of the Post-Secular Relation, 165–184: Michael Fagenblat, »Fraternal Existence«: On a Phenomenological Double-Crossing of Judaeo-Christianity, 185–210. Wie es bereits durch die einzelnen Titel deutlich wird, wird hier ein breites Feld aufgespannt. Im Hinblick auf die verschiedenen Paulusbilder wird deutlich, dass auch da, wo der jüdische Paulus in den Vordergrund gestellt wird, die Gefahr eines inhärenten Antinomismus besteht, insofern die Werte »Gesetz« und »Liebe« gegeneinandergestellt werden können. Wenn unter dem Motto der gemeinsamen jüdisch-christlichen Tradition auch christliche Sederfeiern zum Passafest abgehalten werden, so besteht die Gefahr, die Kontinutität zwischen Judentum und Christentum überzubetonen und das Judentum zu vereinnahmen. Die weiteren Aufsätze aus diesem Bereich widmen sich neuzeitlichen philosophischen Diskursen bei Habermas, Ratzinger und Levinas im Spannungsfeld von Religion, Säkularität und Mo­derne.
Der dritte und letzte Teil schließlich untersucht die politische Dimension der Begrifflichkeit: Warren Zev Harvey, The Judeo-Christian Traditionʼs Five Others, 211–224; Itzhak Benyamini, The Hyphenated Jew: Within and Beyond the »Judeo-Christian«, 225–240; Amanda Kluveld, Secular, Superior, and Desperately Searching for Its Soul: The Confusing Political-Cultural References to a Judeo-Christian Europe in the Twenty-First Century, 241–266; Anya Topolski, A Genealogy of the ›Judeo-Christian‹ Signifier: A Tale of Europeʼs Identity Crisis, 267–284. Hier wird auf das breite semantische Spektrum der Begrifflichkeit aufmerksam gemacht, zudem aber auch die Forderung erhoben, die Beziehung zwischen »jü­disch« und »christlich« differenzierter zu bestimmen. Während in den USA die Idee des Jüdisch-Christlichen Teil der zivilen Religion ist, dient sie in Europa als ein »Instrument in a toolbox of political rhetoric that appeals to a secular search for an identity or even Europe’s soul«. Dabei ist auch zu bedenken, dass der Begriff, der eine wichtige Rolle für die Identitätskonstruktion des modernen Europa spielt, auch eine ausgrenzende Funktion haben kann, insofern hier die islamische Tradition der jüdisch-christlichen gegenübergestellt wird.
Es handelt sich um einen sehr interessanten Band, der sich durch seine inhaltliche Konsistenz auszeichnet und der in einem reichen Maße Denkanstöße gibt, die für eine Bestimmung jüdischer und christlicher Identität produktiv sind.