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Ausgabe:

Juli/August/2019

Spalte:

735–737

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Markschies, Christoph

Titel/Untertitel:

Reformationsjubiläum 2017 und der jüdisch-christliche Dialog.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2017. 128 S. = Studien zu Kirche und Israel. Kleine Reihe, 1. Kart. EUR 15,00. ISBN 978-3-374-04424-5.

Rezensent:

Walter Homolka

Den »Studien zu Kirche und Israel« des Instituts für Kirche und Judentum (IKJ) an der Humboldt-Universität Berlin ist 2017 in der Evangelischen Verlagsanstalt Leipzig eine »Kleine Reihe« beigestellt worden, die mit dem Band »Reformationsjubiläum 2017 und der jüdisch-christliche Dialog« von Christoph Markschies eröffnet wird. Dem Anlass des Reformationsgedenkens angemessen widmet sich M. zwei zentralen evangelischen Theologumena, die seines Erachtens vor dem Hintergrund der Ergebnisse des jüdisch-christlichen Dialogs nach dem Zweiten Weltkrieg eine frische Betrachtung verdienen: sola scriptura und solus Christus. Dabei stützt er sich auf zwei 2016 und 2017 in Berlin gehaltene Vorträge, die er durch ein Vor- und Nachwort erweitert und pointiert.
M. stellt in der Einleitung zur »Kleinen Reihe« den Anspruch auf, es handele sich bei dem Band um eine Programmschrift des IKJ unter neuer Leitung durch ihn. Aus exegetischer, historischer, systematischer und praktischer Sicht solle das christlich-jüdische Gespräch über die Grenzen Berlin-Brandenburgs hinaus Impulse erhalten und das Judentum als eigenständige und einzigartige Größe wahrgenommen werden. Es gelte, zentrale theologische Anliegen der Reformation so zu entfalten, dass sie das Judentum nicht herabwürdigen. Denn es bestünde aktuell keinerlei Anlass, sich beruhigt zurückzulehnen. Außerdem müsse der Ertrag des Gesprächs nun den nachkommenden Generationen übergeben werden.
M. wendet sich mit sola scriptura (allein durch die Schrift) und solus Christus (Christus allein) zwei klassischen Formulierungen zu, mit denen seit dem 19. Jh. gerne reformatorische Theologie zusammengefasst worden ist. Die verbleibenden Formeln sola gratia (allein aus Gnade) und sola fide (allein aus Glauben) und solo verbo (allein durch das Wort) behandelt er im Schlusskapitel knapp. Im Vorwort weist er gleich darauf hin, dass es sich hier um Kampfbegriffe handele, die nicht nur in Abgrenzung zur katholischen Kirche verwendet worden seien, sondern in zahllosen Texten, Lehrbüchern und Predigten auch »Zerrbilder eines unter dem Gesetz leidenden, ängstlich nach seinen Werken schielenden Juden« (16) unterlegt haben, schon durch Martin Luther und andere Reformatoren.
M. hält kritische Rückschau auf verschiedene Versuche der Relativierung und Exkulpation Luthers (25–26) und fragt zu Recht, ob angesichts dieser antisemitischen Belastung des reformatorischen Erbes 2017 überhaupt etwas zu feiern sei. M. formuliert programmatisch: »Christliche Theologie aus Zeiten der Vergegnung muss im Interesse von Begegnung grundlegend revidiert werden, im Kern saniert werden« (29).
Dazu müsse zunächst das Schriftprinzip neu akzentuiert werden. Seit Dabru Emet 2000 stehe im Raum, Christen und Juden teilten sich die Hebräische Bibel und Christen zögen auch Gewinn aus ihrer jüdischen Auslegung. M. geht aber noch weiter, wenn er fordert, sola scriptura müsse – gegen eine antijüdische Nutzung verstanden – bedeuten, »mit dem Judentum den Reichtum der ganzen Schrift zu entdecken«. Also »sola et tota scriptura«, nicht nur »sola pars scripturae« (32). Eine solche Berücksichtigung des Reichtums der biblischen Überlieferung beinhalte die Frage der unterschiedlichen Kanonisierungen und Lesetraditionen, das Studium der Auslegung in jüdischen Quellen und die Reflexion über diese Auslegungen durch die Zeiten. Diese Herangehensweise sei eine schöpferische Interpretation einer Kernforderung der Reformation. Kann neu verstanden auch solus Christus Impulse für das jüdisch-christliche Gespräch geben? M. verweist zunächst auf den Um­stand, dass mit dieser wie den anderen drei Kurzformeln im 19. Jh. Bezug auf Formulierungen des 16. Jh.s genommen wurde, die die Funktion normativer Zuspitzung hatten. Die Herausforderung sei nun, »die ohnehin nervöse Frage nach der Messianität Jesu von Nazareth und dem christlichen Bekenntnis zu ihm als dem Chris­tus Gottes unter der zugespitzten Perspektive des solus Christus zu verhandeln« (47). Denn bei dieser Frage gehe es nicht um eine akademische Streitfrage, »sondern es ging und geht um die Existenz des Judentums« (48).
Wie schon das Schriftprinzip sei auch Wort, Werk und Person Jesu von Verkürzung zu einem bloßen sola parte Christi bedroht. Damit aber käme es auch zu einer Verkürzung der Überlieferung und Wirkungsgeschichte. Solus Christus fasse zunächst einmal die alleinige Bedeutung des Verdienstes Jesu Christi für das Rechtfer-tigungsgeschehen aus der Sicht reformatorischer Theologie des 16. Jh.s zusammen.
M. fragt aber zu Recht: »Wie sich aber auf den jüdischen Jesus in all seinen Dimensionen besinnen?« (61) Und er vertritt die These: »Wir haben durch den jüdisch-christlichen Dialog gelernt, dass die klassische Parole solus Christus nur dann sachgemäß verstanden wird, […] wenn sie als totus Christus interpretiert wird, wenn die Person Jesu von Nazareth nicht auf bestimmte Züge verkürzt wird, auf bestimmte Heilstatsachen zusammengeschrumpft wird und wir gemeinsam mit unseren jüdischen Schwestern und Brüdern die ganze Person unverkürzt zu entdecken versuchen« (63).
Jesus im jüdischen Kontext zu rezipieren ersetze aber nicht die Wahrnehmung des heutigen Judentums als lebendige Religion aus eigenem Recht. Und: Eine christliche Fixierung auf den Messias und die Messianität Jesu im christlich-jüdischen Gespräch ignoriere nachhaltig, dass in vielen Judentümern das Konzept eines Messias nur eine untergeordnete oder gar nicht die Rolle spiele, die die christlichen Gesprächspartner voraussetzen (69).
Zwischen Judentum und Christentum haben Differenzierungsprozesse stattgefunden, die nicht mehr rückgängig gemacht werden könnten, wohl aber theologisch bedacht werden müssten. Schon 1984 habe Pinchas Lapide eine neue Solus-Christus-Lehre gefordert, die frei von Antijudaismen sei. Unter Verweis auf Chris-toph Schwöbel (St. Andrews) könne man vielleicht sagen, dass hier nicht exklusive Aussagen über das Handeln Gottes gemacht würden. M. folgert, dass auf dieser Basis der Aufgabe des Absolutheitsanspruchs des Christentums im interreligiösen Dialog so von Christus gesprochen werden könne, dass dabei nicht der Glaube des Anderen abgewertet oder für unwahr erklärt werde (71).
»Wir stellen Gott anheim, wie er sich zu der Behauptung stellt, dass von anderen auch andere ›Ereignisse und Mächte, Gestalten und Wahrheiten als Gottes Offenbarung‹ geglaubt werden. Und mehr: Wir sind gewiß, dass er die biblischen Verheißungen an sein auserwähltes Volk nicht revoziert hat und treu zu seinem Bund steht.«
Gleichzeit werde aber nicht zurückgenommen, »dass für einen Christenmenschen die Gemeinschaft mit Jesus Christus der einzige Trost im Leben und im Sterben ist« (71–72). Unausweichliche Konsequenz einer solchen theologischen Sicht ist die offizielle Absage an die Judenmission durch die Evangelische Kirche in Deutschland, von der M. hofft, »dass eine solche Erklärung auch alsbald erfolgen wird« (28).
Vor diesem Hintergrund stellten sich noch große Herausforderungen an die gegenwärtige christliche systematische Theologie, ohne dass gleich die ganze reformatorische Rechtfertigungslehre, Trinitätslehre oder Christologie aufgegeben werden müsse. Das träfe auch auf drei andere reformatorische Formeln zu: sola gratia (allein durch Gnade), sola fide (allein durch den Glauben) und solo verbo (allein durch das Wort), auf die M. in einem Nachwort seine neue Perspektive kurz anwendet.
M. zieht als Fazit, »dass eine schlichte Reduktion von Kernbeständen christlicher Theologie der falsche Weg ist, um im Angesicht des Judentums und im Gespräch mit jüdischen Glaubenden christliche Theologie zu betreiben« (81 f.). Stattdessen müsse der Blick geweitet und neue Aspekte neu miteinbezogen werden: totus statt solus. Und eine Grundvoraussetzung für den künftigen Fortgang des gemeinsamen Lernprozesses sei, dass im Studium für Lehr- und Pfarramt wesentliche Kenntnisse über das Juden-tum vermittelt würden. Dem kann der Rezensent nur zustim-men.
M. hat mit seiner Skizze einen programmatischen Aufschlag gemacht. Hervorzuheben ist übrigens der umfangreiche Fußnotenapparat, der in dem schmalen Band die Literatur zu den Themen sehr umfassend erschließt.