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Ausgabe:

Juli/August/2019

Spalte:

728–729

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

[Boccaccini, Gabriele]

Titel/Untertitel:

Wisdom Poured Out Like Water. Studies on Jewish and Christian Antiquity in Honor of Gabriele Boccaccini. Ed. by J. H. Ellens, I. W. Oliver, J. von Ehrenkrook, J. Waddell, J. M. Zurawski.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2018. XVII, 607 S. m. 7 Tab. = Deuterocanonical and Cognate Literature Studies, 38. Geb. EUR 129,95. ISBN 978-3-11-059588-8.

Rezensent:

Stefan Beyerle

Der Gefeierte, Gabriele Boccaccini, ist ein aus Italien stammender, US-amerikanischer Spezialist des antiken Judentums. Er gehört zu den profiliertesten Vertretern der These eines »Enochic Judaism«. Seit 2001, da Boccaccini das »Enoch Seminar« gründete, wurden und werden insbesondere sozialhistorische Fragen des Judentums des Zweiten Tempels, des frühen Christentums, zuletzt auch des Is­lam, in international hochrangig besetzten Konferenzen und den diese dokumentierenden Sammelbänden diskutiert.
Die zu besprechende Festschrift greift in 39 Aufsätzen fünf wichtige Aspekte der Diskussion auf: Henoch und die Wurzeln der Apokalyptik, die Handschriften vom Toten Meer, Stimmen und Perspektiven einiger Texte des Zweiten Tempels (Apokryphen und Pseudepigraphen), Jesus und das Judentum sowie Juden und Chris-ten in der Spätantike. Das Thema Islam begegnet leider nicht. Zahlreiche Beiträge widmen sich der Rezeption antik-apokalyptischer Texte und Motive bis hinein in die Frühe Neuzeit. Die Diskussion reicht von den griechischen Handschriften des Wächterbuches im äthiopischen Henoch (Kapitel 1–36: 6. bzw. 9. Jh. n. Chr.; Luca Arcari, Kelley Coblentz Bautch) über die Weiterverarbeitung des Entrü-ckungsmotivs in Weish 4,10–14 (Luca Mazzinghi) bis zu den magisch-mantischen Rezeptionen des »Henoch« im England des 16. und 17. Jh.s (James R. Davila, Lorenzo DiTommaso). Erhellend ist auch der Aufsatz von Benjamin Wright zur rabbinischen Rezeption der Sirach-Überlieferung, weil er die unterschiedlichen Textformen der hebräischen Geniza-Handschriften des Sirach-Buches mit rab-binischen Urteilen konfrontiert. An den Beiträgen wird deutlich, dass text- und rezeptionsgeschichtliche Fragen sich überschneiden und vor allem die Überlieferungen des Henoch zu Recht wieder in ihrer je eigenen Textwelt wahrgenommen und diskutiert werden – man vergleiche hierzu auch Daniel Assefas Beitrag zur inner-äthiopischen Rezeption. Außerdem fragt Armin Lange in einem wichtigen Forschungsbeitrag, wie viel »Jeremia« in den aramäischen und griechischen Fragmenten zum äthiopischen Henoch steckt.
So knapp wie bedeutend ist der Beitrag von Årstein Justnes und Torleif Elgvin. Er diskutiert die schon an anderer Stelle stark angezweifelte Echtheit eines Papyrusfragments zu äthHen 8,4–9,3 aus der »Schøyen Collection«, das 2004/2005 von Esther und Hanan Eshel veröffentlicht wurde und bereits Eingang in die exegetische Diskussion gefunden hat (vgl. Stuckenbruck, JSJ.S 121, 2007, 54 f.; Beyerle, ADPV 46, 2017, 423 f.). Die Argumente beziehen sich auf die Unregelmäßigkeiten bei der Buchstabenwiedergabe, die ungewöhnliche und seltene Orientierung der Textlinien im Verhältnis zur Materialoberfläche (transversa charta) und vor allem die Nähe der noch lesbaren fünf Zeilen zu den Textrekonstruktionen bei Milik und Stuckenbruck. Die längst auch in der internationalen Presse beachtete Diskussion ist m. E. noch nicht abgeschlossen.
Der Abschnitt zu den Handschriften vom Toten Meer thematisiert darüber hinaus die »Umkehr« (hebr. šûb: Giovanni Ibba), das Verständnis von Armut in der weisheitlichen Komposition 4QInstruction (Pieter Venter) und die konfliktuöse Dimension der Sexualität in den gruppenspezifischen Texten vom Toten Meer (William Loader). Der Themenkomplex zu den jüdischen Stimmen während des Zweiten Tempels vereint, wie bereits der Titel andeutet, sehr unterschiedliche Beiträge. Hervorgehoben sei Devorah Dimants Diskussion zu Tobit und Ahiqar, die anhand der Ahiqar-Notizen im Tobitbuch (Kapitel 1–2) die Einbindung der – griechischen und aramäischen – Bezüge aus Tob 1,21 f.; 2,10 in die Gattung »Dias-pora-Novelle« nachweist, samt Parallelen in Ester, Daniel, Hiob oder Gen 37–50, und so eine enge narratologische Verbindung von Ahiqar- und Tobit-Überlieferung wahrscheinlich macht.
Die beiden letzten Abschnitte der Festschrift vereinen Abhandlungen zum jüdisch-christlichen Dialog im Kontext der Zeitenwende und der Spätantike. Lester Grabbe befragt in einem ausführlichen Essay die Apostelgeschichte nach ihrer Verlässlichkeit bei Angaben und Hinweisen zum Judentum vor der Zerstörung des Zweiten Tempels. Insgesamt überwiegen, nach Diskussionen mit inschriftlichen und weiteren zeitgenössischen Quellen (Josephus, frührabbinische Zeugnisse), bei Lukas die historischen Irrtümer. Es wirkt daher fast konsequent, dass sich nachfolgende Beiträge mit kultpraktischen (Mark Kinzer) und ideologischen Abgrenzungsproblemen (Isaac Oliver) im lukanischen Doppelwerk befassen. Schließlich sei der Aufsatz von Anders Klostergaard Petersen empfohlen. In Anlehnung an Mechanismen der evolutionsbiologischen Anpassung verfolgt die Studie in einem Gedankenexperiment die These, dass im Übergang von der Antike zur Spätantike unterschiedliche »Judentümer«, einschließlich des später »Christentum« genannten, unterschiedliche religiöse Schwerpunkte oder »Ni­schen« ausbildeten.
Die Studien dieser Festschrift sind von höchst unterschiedlicher Qualität, bisweilen sogar unterhaltsam: etwa die Frage nach der athletischen Konstitution und den sportlichen Interessen des historischen Jesus im Beitrag von James Charlesworth (vgl. DNP 1, 1996, 895). Alle Aufsätze eint jedoch das vorherrschende Interesse des Gefeierten, nämlich die in Motiven, Traditionen und textlichen Verflechtungen ersichtlichen Gemeinsamkeiten und Differenzen in jenen Religionen, die später »Judentum« und »Christentum« ge­nannt werden sollten.