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Ausgabe:

Juli/August/2019

Spalte:

726–728

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Akiyama, Kengo

Titel/Untertitel:

The Love of Neighbour in Ancient Judaism. The Reception of Leviticus 19:18 in the Hebrew Bible, the Septuagint, the Book of Jubilees, the Dead Sea Scrolls, and the New Testament.

Verlag:

Leiden u. a.: Brill 2018. 215 S. = Ancient Judaism and Early Christianity, 105. Geb. EUR 105,00. ISBN 978-90-04-36687-9.

Rezensent:

Thomas Hieke

Die anzuzeigende Studie basiert auf der in Edinburgh entstandenen Dissertation von Kengo Akiyama (2015; Betreuung: Timothy Lim). Sie analysiert die Rezeption des Gebots der Nächstenliebe von Levitikus 19,18 in Literatur aus der Zeit des Zweiten Tempels. Die Monographie besteht aus einer Einführung (1), vier Hauptteilen (2–5) und einer Zusammenfassung (6).
In seiner Einführung (1) stimmt A. auf das Thema mit drei Zitaten von Augustinus, Luther und Calvin ein und stellt fest, dass die Bedeutsamkeit des Doppelgebots der Liebe im Neuen Testament und dessen Rezeption sehr viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen habe. Doch die Verwendung von Lev 19,18 im Neuen Testament setze bereits eine frühjüdische Auslegungstradition voraus, die bisher nur wenig behandelt worden sei. Nach einem kurzen Überblick geht A. auf die Arbeiten von H.-P. Mathys (1986, deutsch) und Manabu Tsuji (2010, japanisch) ein. Daran schließt sich ein Blick auf das wachsende Interesse an der Rezeptionsgeschichte biblischer Texte an (bis hin zur Encyclopedia of the Bible and Its Reception). Als Ziel seiner Untersuchung nennt A. die Erhellung der jüdischen Auslegungstradition von Lev 19,18 bzw. 19,34 von den Anfängen bis zum Neuen Testament.
Das zweite Kapitel sichert den Ausgangstext und interpretiert das Liebesgebot im Buch Levitikus, und zwar sowohl das Gebot der Liebe zum Nächsten (19,11–18) als auch das Gebot der Liebe zum Fremden (19,33–34). A. arbeitet die Feinstruktur von Lev 19 (und insbesondere 19,11–18) heraus und analysiert dann die Semantik der Schlüsselbegriffe (»lieben«, »Nächster«, »Fremder«; bei »wie dich selbst« vs. »er ist wie du« optiert A. plausibel für die zweite Möglichkeit als ursprüngliche Bedeutung). Die Ausführungen zeigen, dass A. sein exegetisches Handwerkszeug beherrscht und die englischsprachige Sekundärliteratur in umfangreichen Fußnoten diskutieren kann.
Kapitel 3 widmet sich der Auslegung durch Übersetzung ins Griechische in der Septuaginta sowie der Auslegung durch Nacherzählung im Jubiläenbuch. Bei der Septuaginta zeigt A., dass die Übersetzung ὡς σεαυτόν im Griechischen nicht eindeutig sei und somit auch für den »adjektivischen« Gebrauch (»[er ist] wie du«) stehen könne. Damit habe der Übersetzer die Ambiguität des hebräischen Textes nachgeahmt. Das Jubiläenbuch wiederum betone stärker die negativen Folgen des Hasses (nämlich Mord) und ermahne daher zur Liebe innerhalb der Familie. Das Gebot der Liebe zum Fremden wird vom Jubiläenbuch nicht übernommen. Brüderliche Liebe sei im Jubiläenbuch die Erfüllung der Bundesverpflichtung, und dazu gehöre auch die offene Zurechtweisung, die nicht explizit gefordert, aber in der Nacherzählung praktisch vorgeführt werde.
Im vierten Kapitel befasst sich A. mit den Belegen von Lev 19,18 bzw. Anspielungen darauf in der Literatur der Gemeinschaft von Qumran (»Dead Sea Scrolls«), wobei er sich auf die Damaskusschrift (CD) und die Gemeinschaftsregel (1QS) beschränkt. CD verschmelze die beiden Vorschriften Lev 19,18 und 19,33–34 in VI,20–21 zu einer positiven Bestimmung, die den »Fremden« als volles Mitglied und Bruder ansehe. Auch wenn die Gemeinschaftsregel das Gebot der Nächstenliebe nicht exakt zitiere, so werde doch Lev 19,17–18 ausführlich aufgegriffen und erweitert: Es werde nicht nur die Liebe zu den Söhnen des Lichts, sondern auch der Hass gegen die Söhne der Finsternis geboten (1QS I,9–10).
Schließlich wird ein großer Teil des Buches der Aufnahme von Lev 19,18 im Neuen Testament gewidmet (5): den sechs Zitaten in den Briefen des Paulus, im Jakobusbrief und in den synoptischen Evangelien. Im gesamten Neuen Testament werde die ὡς + Pronomen-Konstruktion im adverbiellen Sinne gebraucht, so dass auch das Zitat aus Lev 19,18 in neutestamentlicher Zeit adverbiell (»wie dich selbst«) verstanden worden sei. Diese graduelle Entwicklung vom »adjektivischen« zum »adverbiellen« Gebrauch ermögliche erst die Frage danach, wer eigentlich der Nächste sei (s. 214). Paulus betone, dass das Gebot der Nächstenliebe das gesamte »Gesetz« zu­sammenfasse (Gal 5,13–14; Röm 13,8–10) und seine Befolgung das »Gesetz« mehr als erfülle. Für den Jakobusbrief ist Lev 19,18 das »königliche Gesetz« (Jak 2,8), wobei das Adjektiv »königlich« sowohl die herausragende Bedeutung des Gebots der Nächstenliebe als auch dessen Bezug zu Jesus, dem König und Verkünder des Königreiches Gottes, herausstelle. Darüber hinaus betone der Jakobusbrief das Verwirklichen der Nächstenliebe in konkreten Taten (Jak 2,14–26) und in der Barmherzigkeit gegenüber den Armen. Die Verwendung von Lev 19,18 in Mk 12,28–34 sei der zeitlich früheste Beleg für die Bezeichnung des Doppelgebots der Gottes- und Nächstenliebe als größtes aller Gebote, doch fehle im Markusevangelium der Hinweis auf den zusammenfassenden Charakter des Gebots (wie es Paulus sehe) und die Entgrenzung (mindestens auf den Fremden, denn Lev 19,33–34 fehle). Die Interpretation des Gebots der Nächs-tenliebe als eine auch auf die Feinde gerichtete Liebe finde sich dann im Matthäusevangelium (Mt 5,43–48), wobei es auch um konkrete Wohltätigkeit gehe (Mt 19,16–22). Dieses entgrenzte Gebot der Nächstenliebe sei dann sowohl das größte Gebot als auch der hermeneutische Schlüssel der gesamten Tora (Mt 22,34–40). Das Lukasevangelium verwende Lev 19,18 leicht paraphrasiert in Lk 10,27 in der Perikope vom Barmherzigen Samariter. Hier gehe es noch stärker um eine Universalisierung des Gebots der Nächstenliebe und dessen emotionale Motivierung durch Mitleid.
Die Schlussfolgerung (6) greift die Ausgangsfrage wieder auf, fasst die einzelnen Kapitel zusammen und bietet auf zwei Seiten eine griffige Geschichte der Rezeption von Lev 19,18 bis ins 1. Jh. n. Chr.
A.s Studie zur Rezeption des Gebots der Nächstenliebe im Frühjudentum zur Zeit des Zweiten Tempels und im Neuen Testament ist schlüssig aufgebaut und liefert einen hilfreichen Überblick über die direkten Zitate von Lev 19,18 (bzw. 19,33–34) in der Literatur dieses Zeitfensters. Damit leistet A. einen nützlichen Beitrag zur Erhellung der Geschichte des Gebots der Nächstenliebe.