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Ausgabe:

Juli/August/2019

Spalte:

706–714

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Jörg Hacker

Titel/Untertitel:

Theologie, Leben und Lebenswissenschaft.* Zum Verhältnis von Theologie und Medizin.

Leben ist so vielfältig, dass es nicht mit einer Definition zu um­grenzen ist. Naturwissenschaften, Philosophien oder Religionen – alle haben unterschiedliche Auffassungen und Vorstellungen vom Leben. Dabei ist es wichtig, die Vielfalt der Perspektiven nicht im Sinne einer Unüberbrückbarkeit ihrer Unterschiede zu deuten. Wolf Krötke bemerkt hierzu in seinem Aufsatz zu »Religion und Wissenschaft aus evangelischer Perspektive«:

»Die Behauptung eines tiefen Grabens zwischen dem Glauben und der Wissenschaft sollte […] endlich ad acta gelegt werden. Diese Behauptung beruht in jeder Hinsicht auf Missverständnissen.«1

In meinen Überlegungen möchte ich von den Bemühungen der Biologen und Mediziner ausgehen, die Phänomene des Lebendigen begrifflich zu fassen. Dabei werde ich mich vor allem auf das Charakteristikum von Organismen konzentrieren, sich selbst zu reproduzieren. [Abschnitt 2.]

Diese wesentliche Eigenschaft von Lebewesen ist angesichts der aktuellen Fortschritte in der Gentechnik für den Dialog zwischen Biologen, Medizinern und Theologen über das, was Leben ist, von herausragender Bedeutung. Neue Verfahren, um mit einer bisher unbekannten Präzision zielgerichtet Genome zu verändern – Stichwort »Genome Editing« –, bilden mein Beispiel. [Abschnitt 3.]

Es wird sich zeigen, dass die naturwissenschaftliche Bestimmung des Lebens unabweisbar zu ethischen Fragen des Umgangs mit dem Lebendigen führt. Das ist so, weil die naturwissenschaftliche Definition des Lebens mit immer umfassenderen Möglichkeiten der gezielten Veränderung von Lebewesen verknüpft ist. Spätestens hier wird der Dialog zwischen Naturwissenschaft und Theologie erforderlich. [Abschnitt 4.]

II Die biologisch-medizinische Sicht auf Leben


1. Definitionsansätze


»Was ist Leben?« – das ist eine der wenigen Fragen, welche die Menschheit unaufhörlich begleitet haben. Dabei verdeutlichen die beeindruckenden Erfolge der empirischen Forschung an Lebewesen zugleich die Schwierigkeit, eine allgemein gültige Antwort auf die Frage nach den entscheidenden Eigenschaften des Lebens zu geben. Viele Nicht-Naturwissenschaftler wird verwundern, dass es schon den Biologen schwerfällt, auf diese Frage eine allgemein akzeptierte Definition vorzulegen.

Durch die Erforschung der Grundstrukturen des Lebendigen erhalten wir immer wieder neue Einblicke in komplexe Systeme, die wir »Lebewesen« nennen. Was also haben diese Lebewesen ge­meinsam? Was verbindet Bakterien, Pflanzen oder Tiere? Und welche notwendigen Bedingungen müssen erfüllt sein, um ein Lebewesen zu klassifizieren? Drei wesentliche Eigenschaften haben sich für alle Lebewesen als Definitionskriterien herauskristallisiert:

1. Die erste Eigenschaft ist der Stoffwechsel oder Metabolismus.

2. Das zweite Merkmal ist die Fähigkeit zur Reproduktion.

3. Die dritte Eigenschaft ist die mit der Reproduktion verbundene genetische Variabilität als Voraussetzung für evolutionäre Entwicklung.

Während den ersten beiden Kriterien – Metabolismus und Reproduktionsfähigkeit – sicherlich alle Biologen zustimmen können, ist dies beim evolutionären Potential schon anders. Wissenschaftler, die im Labor die Abläufe in einem bestimmten Bakterium erforschen, würden das evolutionäre Potential vielleicht als ein Kriterium für Leben bezeichnen, das nicht so fundamental ist wie die beiden anderen Kennzeichen.

Aber selbst Vermehrungsfähigkeit und ein mehr oder weniger selbstständiger Stoffwechsel haben als fundamentale Kennzeichen von Lebewesen ihre Tücken. So sind Viren nicht zur selbstständigen Vermehrung fähig. Sie müssen ihre Erbsubstanz in Wirtszellen von z. B. Pflanzen, Tieren oder Bakterien injizieren und nutzen deren Stoffwechsel zur Reproduktion. Man könnte sie deshalb allenfalls als eine Art »unselbstständiger Zellparasit« bezeichnen.

2. Moleküle des Lebens


Die Grenzstellung der Viren zwischen Unbelebtem und Belebtem wirft für die heutige Forschung Probleme auf, bei denen konzeptionelle und experimentelle Fragen Hand in Hand gehen. Um diese zu charakterisieren, ist es notwendig, zunächst einige grundlegende Bemerkungen zu den Molekülen des Lebens zu machen.

Im Jahr 1865 veröffentlichte Gregor Mendel in dem Aufsatz »Versuche über Pflanzenhybride« seine Ergebnisse, die er anhand von Kreuzungsexperimenten mit Erbsen erlangte. Die darin be­schriebenen drei Grundregeln legen dar, nach welchen Regelmäßigkeiten in einfachen Erbgängen die Merkmalsausprägung er­folgt. Die wichtigste Erkenntnis war, dass das Erbgut aus voneinander unabhängig vererbten Einheiten aufgebaut ist, wodurch das Auftreten von Neukombinationen und Spaltungen erst erklärbar wurde.

Fast achtzig Jahre nach Mendels Entdeckung hielt der Physiker Erwin Schrödinger in Dublin Vorlesungen zum Thema »Was ist Leben«. Daraus entstand eine kleine Schrift mit dem Titel »What is Life?«. Diese hat seither viele Naturwissenschaftler dazu gebracht, sich mit Grundlagenfragen der Biologie auseinanderzusetzen, vor allem mit einem Problem: der physikalischen und chemischen Struktur der genetischen Information. Schrödinger stellte unter anderem die Hypothese auf, dass die Erbsubstanz ein aperiodischer Kristall sein müsse, dessen Struktur die Information enthalte, dank der sich aus einer befruchteten Eizelle ein voll ausgewachsenes Individuum einer bestimmten Art entwickle.

Schrödingers Überlegungen übten in einem Fall einen ganz direkten Einfluss aus. James Watson las 1946, als achtzehnjähriger Student, eine Rezension über Schrödingers Werk im »New York Time Book Review«. Er war von dem Buch so beeindruckt, dass er unbedingt wissen wollte, wie Gene strukturell aufgebaut sind. Sieben Jahre später, 1953, hatte er zusammen mit Francis Crick die Antwort gefunden. Das Erbgut besteht aus einer Doppelhelix aus vielen Desoxyribonukleinsäurebausteinen (DNA). Bereits 1944 war entdeckt worden, dass vererbbare Eigenschaften an das Vorhandensein einer bestimmten Sorte von Molekülen gebunden sind, der DNA.

Durch die Aufklärung der Struktur der DNA wurde erkannt, dass die Gene den Bauplan für die Übersetzung in Proteine vorgeben. Damit hatte das Zeitalter der Molekularbiologie begonnen und Watsons und Cricks Aufklärung der DNA-Struktur bildete nur den Anfang einer ganzen Reihe bahnbrechender Entdeckungen, aus denen sich die moderne Gentechnik in den letzten vier Jahrzehnten nahezu explosionsartig entwickelt hat.

Anfang der 1960er Jahre entdeckten die Arbeitsgruppen um die Biochemiker Marshall Nirenberg, Har Gobind Khorana und Robert Holley die Regeln für die Entschlüsselung des genetischen Codes, und 1965 wurde entdeckt, wie die Aktivität von Genen an- oder abgeschaltet wird. Etwa zeitgleich entdeckten Werner Arber, Hamilton Smith und Daniel Nathans die Restriktionsenzyme, sogenannte Genscheren, die DNA an spezifischen Stellen schneiden.

3. Von der Genetik zur Gentechnik

Bereits Ende der 1960er Jahre stand also genug Wissen über die Bausteine des Lebens zur Verfügung und die Wissenschaftler besaßen die wichtigsten Werkzeuge, um die Erbsubstanz umzugestalten. Erstmals nutzten Biochemiker 1973 die Genscheren, um Erbanlagen von einem Organismus auf einen anderen zu übertragen. Sie schleusten ein kreisförmiges DNA-Molekül, ein Plasmid, in das Bakterium Escherichia coli ein. Die Grundlage für die heutige Gentechnik war geschaffen, die aus der modernen Medizin und Biotechnologie nicht mehr wegzudenken ist.

Aber auch Kritik wurde laut: War es richtig, Erbinformation von einer Art in eine andere zu übertragen? War es ethisch vertretbar, Erbinformationen zu manipulieren? Daraufhin fand im Februar 1975 die Asilomar-Konferenz in Kalifornien statt. Dort diskutierten 140 Molekularbiologen aus 16 Ländern über Sicherheitsauflagen, unter denen die Forschung weiter stattfinden solle. Die Ergebnisse dienten als Grundlage für staatliche Regelungen in den Vereinigten Staaten und später in vielen anderen Staaten.

III Die Gegenwart der Gentechnik: Genome Editing


Die biologisch-biomedizinische Erforschung der genetischen Grundlagen des Lebens hat sich seit den 1970er Jahren enorm weiterentwickelt. Gerade in den letzten fünf Jahren hat die genetische Forschung sehr wichtige Fortschritte gemacht, die unter dem Stichwort »Genome Editing« mittlerweile auch auf den Wissenschaftsseiten und in den Feuilletons der überregionalen Tageszeitungen breit diskutiert werden. Mein eigenes Erstaunen über diesen wissenschaftlichen Fortschritt möchte ich mit einer Aussage von Wolf Krötke zum Ausdruck bringen:

»[…] Alles, was uns die Wissenschaft erschließt, ist eine große Bereicherung nicht nur unserer Kenntnis, sondern auch unseres Wirklichkeitsempfindens auf dieser Erde.«2

1. CRISPR/Cas9


Im Mittelpunkt von Genome Editing steht ein neues Werkzeug für die Veränderung von Erbgut in Zellen und Organismen, das den kryptischen Namen »CRISPR/Cas9« (Clustered Regularly Interspaced Short Palindromic Repeats) trägt. Dieses neue Werkzeug wurde von Grundlagenforschern beschrieben, denen aufgefallen war, dass Bakterien unter bestimmten Bedingungen resistent gegen Viren geworden waren, die ansonsten zur Auflösung der Bakterien führen.

In den letzten Jahren wurde das dieser Resistenz zugrundeliegende »bakterielle Immunsystem« im Detail charakterisiert und für praktische Anwendungen umgerüstet. Die Wissenschaftlerinnen Emmanuelle Charpentier vom Max-Planck-Institut für Infektionsbiologie in Berlin und Jennifer Doudna von der University of California, Berkeley, waren daran besonders intensiv beteiligt. Sie konnten zeigen, dass zwei Ribonukleinsäuresonden an bestimmte Zielbereiche im Genom binden. Nach dieser Bindung kann eine molekulare Schere im Sinne eines Edierens des Genoms oder einer »Genchirurgie« ganz präzise, schnell und effizient entweder ein Gen ausschneiden oder auch indirekt das Einfügen neuer Genbausteine oder Gene bewirken.

Bei Mäusen, Hefezellen, aber auch bei Pflanzen wurden durch den Einsatz des Genome Editings schon große Fortschritte in der Grundlagenforschung gemacht. Mittels dieser Modellsysteme ist es möglich, die Frage zu untersuchen, welche Gene an der Verbreitung von Infektionserregern beteiligt sind oder welche Prozesse bei der Krebsentstehung besonders wirksam sind.

Auch erfolgreiche Anwendungen sind im nicht-humanen Bereich in großer Anzahl beschrieben worden. Hierbei geht es unter anderem darum, in der Biotechnologie Pflanzen zu entwickeln, die resistent gegen Trockenheit sind oder die zur Energieversorgung beitragen können. Darüber hinaus ist berichtet worden, dass Nutztiere, beispielsweise Schweine, so genetisch verändert werden können, dass ihre Organe zur Xenotransplantation, also zur Transplantation in menschliche Körper, besser geeignet sind.

2. Anwendung von Genome Editing – auch beim Menschen?


CRISPR/Cas9 ist aber nicht nur bei Bakterien, Pflanzen oder Tieren zur Anwendung gekommen, sondern auch beim Menschen. Um dies zu erläutern, möchte ich zunächst eine fundamentale Unterscheidung der hierfür in Frage kommenden Zelltypen einführen.

Zum einen sind es sogenannte »somatische Zellen«, menschliche Körperzellen, welche für die Grundlagenforschung, aber auch für die Anwendung mit Hilfe von CRISPR/Cas9 verändert werden können. Darüber hinaus ist es möglich, Zellen der menschlichen Keimbahn zu verändern, also Spermien, Eizellen oder sogar frühe Embryonen. Mit Hilfe dieser veränderten Zellen können Fragen der Grundlagenforschung adressiert werden. Es ist jedoch auch möglich, diese Zellen wieder in die Keimbahn einzubringen, so dass auch die Nachkommen von solchen genetisch veränderten Individuen die entsprechende genetische Veränderung tragen können und in den menschlichen Genpool weitergeben.

2.1 Somatische Gentherapie
Zunächst einmal zu den somatischen Zellen, die im Hinblick auf Erkrankungen, für welche ein bestimmter Genabschnitt verantwortlich ist, geheilt werden könnten. Man spricht hier von der »somatischen Gentherapie«. Sie hat schon seit vielen Jahren Hoffnungen geweckt, die nicht alle in Erfüllung gegangen sind. Mit Hilfe der neuen CRISPR/Cas-Methode scheint die Gentherapie jedoch einen neuen Schub zu bekommen. Zum einen ist es möglich, genetische Konstrukte in entsprechende menschliche Organe einzufügen, um Krankheitsgene sozusagen umzuwandeln. Zum anderen können auch Patientenzellen außerhalb des menschlichen Körpers so behandelt werden, dass sie keinen genetischen Defekt mehr haben; sie sind dann ebenfalls in den Körper des Patienten zu übertragen.

In den letzten Jahren ist eine Reihe von Krankheiten erforscht worden, so dass es entweder schon möglich ist, gentherapeutische Behandlungen durchzuführen, oder sie zumindest durch klinische Studien zu entwickeln. Das sind einmal Erkrankungen des Blutsystems, beispielsweise die Sichelzellenanämie. Auch die Bluter-Krankheit (Hämophilie) gehört hierzu, genauso wie die Huntington Disease oder Muskelveränderungen, die zu einem langsamen Fortschreiten der Krankheitssymptome und letztlich zum qualvollen Tod der Patienten führen. Weiterhin werden Sehbehinderungen und Krebserkrankungen mit Hilfe dieser neuen Methode angegangen. Auch die zystische Fibrose wäre hier zu nennen.

Eine ganz wichtige, aber problematische Anwendung liegt bei der Heilung der HIV-Infektion vor. Es ist bekannt, dass das HI-Virus an eine Eintrittspforte bindet, wenn es sich im Körper vermehren will, dem sogenannten CCR5-Protein. Man kann das Gen für dieses Protein nun aus dem menschlichen Erbgut entfernen; dann kommt es zu einer Resistenz der entsprechenden Individuen gegenüber HIV. Andererseits ist neuerdings bekannt geworden, dass dieselbe Genveränderung eine erhöhte Anfälligkeit gegenüber dem West-Nile-Virus nach sich zieht. Hier wird also, wenn man so will, der Teufel mit dem Beelzebub ausgetrieben.

Das verdeutlicht ein Hauptproblem bei der Anwendung von CRISPR/Cas9 im Hinblick auf die somatische Gentherapie. Wir wissen nicht mit letzter Sicherheit, welche zusätzlichen Funktionen sogenannte »Krankheitsmoleküle« beispielsweise im hormonellen Stoffwechsel spielen. Insofern müssen auch bei der somatischen Gentherapie, die im Prinzip zu begrüßen ist, solche Nebenwirkungen analysiert werden. Darüber hinaus muss auch das Übergreifen der genetischen Veränderungen von Körperzellen auf Geschlechtszellen unterbunden werden. Sonst käme es zu unerwünschten genetischen Veränderungen in den Keimzellen.

Zur somatischen Gentherapie mit Hilfe von CRISPR/Cas kann ich abschließend die Einschätzung wiederholen, die eine Gruppe von Biologen, Medizinern und Theologen im Jahr 2009 beim Stufenmodell zur ethischen Bewertung von Gen- und Zelltherapie zur Stufe 2, dem therapeutischen Eingriff in das Genom, formuliert haben:

»Für den Patienten bergen die Eingriffe höhere Risiken als substitutionstherapeutische Eingriffe. Dieser Umstand macht eine sorgfältige Indikationsstellung solcher Therapien (auch unter Prüf-Bedingungen klinischer Studien) notwendig: Erst der Bezug auf eine indizierte Krankheit lässt einen Eingriff in die Integrität des Körpers gerechtfertigt erscheinen.«3

2.2 Keimbahntherapie
Neben der Grundlagenforschung und der Anwendung im Hinblick auf die somatische Gentherapie ist bei CRISPR/Cas immer wieder die Rede von neuen Möglichkeiten, dieses Instrument therapeutisch beim Menschen auch an Keimzellen oder am Embryo einzusetzen. Argumente für oder gegen eine Keimbahntherapie werden gegenwärtig intensiv ausgetauscht. Dabei sprechen aus meiner Sicht deutlich mehr Argumente dagegen als dafür. Als Pro-Argument wird etwa angeführt, dass für Nachkommen von Personen, die einen bestimmten genetischen Defekt zeigen, das Risiko, diesen Defekt auch zu bekommen, praktisch gegen Null geht.

Es gibt aber eine ganze Reihe von gewichtigen Argumenten, die gegen eine Keimbahnintervention sprechen. Die wichtigsten Contra-Argumente basieren auf der Tatsache, dass die einmal in der Keimbahn befindlichen Gene nicht mehr korrigiert und entfernt werden können.

Ich möchte zwei Risiken nennen, die es meiner Ansicht nach aufgrund der Nichtkorrigierbarkeit negativer Folgen verbieten, CRISPR/Cas in der Keimbahntherapie einzusetzen. Erstens habe ich schon darauf hingewiesen, dass bestimmte Veränderungen vorher nicht bekannte Effekte haben können – darum ging es bei der Ausschaltung des CCR5-Gens im Hinblick auf eine Resistenz gegen das HI-Virus, die eine erhöhte Anfälligkeit gegenüber dem West-Nile-Virus zur Folge hat.

Zweitens ist die Effizienz und Genauigkeit der CRISPR/Cas-Methode bisher nicht so weit fortgeschritten, als dass stets alle Zellen verändert werden und es auch sogenannte »off target«-Effekte gibt, also Fehler, die bei der Genomeditierung entstehen. Dabei könnte es zu sogenannten Mosaiken kommen, also Individuen, bei denen nur ein Teil der Zellen die gewünschte genetische Veränderung trägt. Auch dies wäre eine unabsehbare, möglicherweise nicht korrigierbare Folge des Einsatzes von CRISPR/Cas in der Keimbahntherapie.

Insgesamt kann ich auch bei meiner Einschätzung der Keimbahntherapie mit Hilfe von CRISPR/Cas auf eine Formulierung zurückgreifen, die die bereits zitierte Gruppe von Biologen, Medizinern und Theologen in ihrem Stufenmodell zur Stufe 3 gefunden hat:

»In dem Konflikt zwischen wünschenswerten therapeutischen Eingriffen und unbekannten, unabsehbaren Risiken solcher Eingriffe liegen die größeren Gewichte auf der Seite der nicht zureichend zu verantwortenden Risiken. Ob das für alle Zukunft gelten muss, lässt sich gegenwärtig jedoch nicht feststellen. Darum gehört es zur Verantwortung der Wissenschaft, gegenüber dem Druck von Therapieerwartungen Raum und Zeit für ethisch verantwortbare wissenschaftliche Forschung offenzuhalten.«4

IV Die ethisch bestimmten Grenzen der zielgerichteten genetischen Veränderung

des Menschen


Es ist aus meiner Sicht geboten, »Gene zu heilen«, wie dies in der Gentherapie möglich ist. Bisher hat das Ersetzen eines krankmachenden durch ein intaktes Gen schon bei sogenannten monogenetischen Erkrankungen gute Aussichten auf Erfolg. So wurde vor zwei Jahren erstmals in der westlichen Welt ein modifiziertes Adeno-assoziiertes Virus für die klinische Gentherapie zugelassen. Es dient zur Behandlung einer seltenen, erblich bedingten Stoffwechselerkrankung.

Eine Gentherapie sollte jedoch nur in somatischen Zellen durchgeführt werden. Die künstlich hergestellten Gene sollten aus meiner Sicht nicht in die Keimbahn des Menschen gelangen, denn so könnte die neue genetische Information an die Kinder des behandelten Individuums weitergegeben werden. Sie wären so­mit nicht rückholbar, und ich selbst bin der festen Überzeugung, dass der genetischen Veränderung des Menschen an dieser Stelle eine ganz klare Grenze zu setzen ist. Impliziert eine solche strikte Grenzziehung aber auch, dass menschliche Embryonen oder em­bryonale Stammzellen überhaupt nicht für Forschungszwecke verwendet werden dürfen?

1. Wer soll entscheiden?


Hieran entzünden sich immer wieder – aus meiner Sicht notwendige – Diskussionen, in Deutschland vor allem anlässlich von Revisionen des Embryonenschutzgesetzes. Die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina hat sich im Rahmen ihrer wissenschaftsbasierten Beratung von Öffentlichkeit und Politik zu dieser Frage geäußert und angemerkt, dass menschliche embryonale Stammzelllinien für Forschungszwecke unabdingbar sind. Letztlich hat die Politik einen Kompromiss gefunden, der darin besteht, dass in Deutschland derartige Zelllinien, wenn sie im Ausland hergestellt wurden, zwar verwendet, aber nicht im In­land produziert werden dürfen.

Ein solcher Kompromiss versucht, unterschiedlichen Auffassungen über den Beginn des individuellen menschlichen Lebens entgegenzukommen, die in unserer Gesellschaft vorhanden sind und den politischen Entscheidungsprozess beeinflussen. Es gibt Vertreter der Theorie, dass menschliches Leben in voller Würde und voller Schutzbedürftigkeit schon mit dem Zusammentreffen von Ei und Samenzellen sowie der Verschmelzung des genetischen Materials im resultierenden Embryo anfange. Andere sind der Ansicht, das menschliche Leben beginne mit der Einnistung des Embryos in die Gebärmutter, also mit der Nidation. Darüber hinaus gibt es die Auffassung, dass erst mit der Geburt eines Kindes vollwertiges menschliches Leben vorliege.

Meiner Ansicht nach können die Naturwissenschaftler, indem sie über ihren aktuellen Wissensstand bestmöglich informieren, der politisch-gesellschaftlichen Debatte über bindende Handlungsnormen eine Verankerung in der empirischen Welt anbieten – sie können aber nicht das Ergebnis der demokratischen Willensbildung vorwegnehmen. Wo wir den Anfang des individuellen menschlichen Lebens juristisch verbindlich setzen, ist keine rein naturwissenschaftlich zu beantwortende Frage. Darüber soll in einer pluralistischen Demokratie die gesamte Gesellschaft debattieren und ihre politischen Repräsentanten müssen nach bestem Wissen und Gewissen entscheiden.

2. Die Theologie als Lebenswissenschaft


Ohne Frage ist ein breiter gesellschaftlicher Diskurs über den Umgang mit der modernen Biomedizin und der Synthetischen Biologie nötig, der die Chancen und Risiken dieser Forschungszweige mit all ihren Konsequenzen für das menschliche Leben und die Zukunftssicherung der Menschheit, aber auch für das Selbstbild und die Würde des Menschen einbezieht.

Der Begriff »Lebenswissenschaften« muss dabei weitaus mehr als Biologie und Medizin umfassen. Darauf hat Wolf Krötke immer wieder hingewiesen, und ich darf ihn an dieser Stelle erneut zustimmend zitieren:

»Es geht […] darum, dass Wissenschaft einen Horizont von Werten braucht, die sie menschendienliche Wissenschaft bleiben lässt. Der christliche Glaube ist bei seiner Bejahung der Wissenschaften ein zuverlässiger Anwalt solcher Werte.«5

So bestimmen Gene und Eiweiße die fundamentalen biologischen Lebensprozesse, jedoch ist menschliches Leben allein damit nicht zu beschreiben. Hier spielen auch die Verantwortung und die Selbstreflexion des Geistes sowie die Fähigkeit zur Kommunikation eine wesentliche Rolle. Dabei richtet sich diese Aussage durchaus nicht gegen die naturwissenschaftliche Sicht auf den Menschen, denn eine biologische Sichtweise, die Geist, Gewissen und Sprache ausschließt, würde hinter ihren eigenen Möglichkeiten zurückbleiben. An dieser Stelle möchte ich auf Goethe zurückgreifen. Sein naturphilosophisches Denken kann aus meiner Sicht als eine Orientierung für das Verständnis des Lebendigen im Allgemeinen und des menschlichen Lebens im Besonderen dienen. So schrieb er:

»In jedem lebendigen Wesen sind das, was wir Teile nennen, dergestalt unzertrennlich vom Ganzen, daß sie nur in und mit demselben begriffen werden können, und es können weder die Teile zum Maß des Ganzen noch das Ganze zum Maß der Teile angewendet werden […].«6

Goethe lässt in diesem Zitat erkennen, dass nach seinem Verständnis ein Organismus erst dann wissenschaftlich erklärbar wird, wenn der notwendige Zusammenhang zweier Beschreibungsebenen erkannt worden ist. Einerseits können die Teile eines Organismus, seine Organe, sobald wir ihre jeweilige Funktion und ihren durch diese Funktion bestimmten Aufbau begreifen wollen, nicht ohne ein Verständnis des ganzen Organismus betrachtet werden. Andererseits folgt aus dem Verständnis des Organismus als einem Ganzen noch keinesfalls, dass wir damit schon alles von seinen Tei len begriffen hätten. Und zum menschlichen Ganzen als einem Organismus gehören wesentlich und gleichermaßen die Fähig-keiten zur Selbstreflexion, zur Gewissensentscheidung und zur sprachlichen Verständigung.

Wie kann die Frage nach dem Lebensbegriff beantwortet werden: Was also ist Leben? Aus der Sicht des Mikrobiologen antworte ich: Wir sollten solche Objekte für lebendig halten, die sich fortpflanzen können, einen Stoffwechsel aufweisen und evolutionär veränderbar sind. Aus der Sicht des Lebenswissenschaftlers füge ich hinzu: Zu den evolutionären Möglichkeiten des Lebens gehören auch Fähigkeiten, die menschliches Leben wesentlich ausmachen, nämlich die Veranlagung zur Selbstreflexion, zum Gewissensurteil und zur sprachlichen Verständigung.

Wer eine solche umfassende Bestimmung des Lebensbegriffs ernstnimmt, der weiß auch, dass sich die Frage »Was ist Leben?« nicht nur diejenigen Wissenschaftler stellen müssen, die sich für theoretische Definitionsprobleme interessieren. Dies ist eine Frage, mit der alle Lebenswissenschaftler konfrontiert sind, da sie die Konsequenzen ihrer Forschung vor allem für das menschliche Le­ben betrachten müssen. Dabei geht es nicht nur um direkte praktische Folgen etwa für die Gesundheit. Sondern es geht auch um die oft langfristigen kulturellen Auswirkungen des wissenschaftlichen Experimentierens mit dem Lebendigen. Erst eine Lebenswissenschaft, die sich selbst in einer solchen umfassenden Perspektive zu sehen versucht, ist eine Wissenschaft, die ihrer Verantwortung für das Leben gerecht wird.

V Abschließende Bemerkungen


Ethik in der Wissenschaft wird häufig so wahrgenommen, als ginge es ausschließlich um die Begründung von Verboten. Das halte ich für eine verzerrte Sichtweise. Es geht selbstverständlich auch darum, die Grenzen der Wissenschaftsfreiheit zu bestimmen – einer Freiheit, von der wir als Geschöpfe Gottes, wie Wolf Krötke betont hat, Gebrauch machen »sollen und dürfen«. Denn für den christlichen Glauben ist

»[d]iese Welt […] kein Anhang oder Ausfluss Gottes. Sie ist kein Tummelplatz ›göttlicher‹ Mächte, wie die Religionen der Vorneuzeit annahmen. Sie ist nichts als Welt. Als solche hat sie der Schöpfer für unser Erkennen und Entdecken frei gegeben.«7

Umso wichtiger ist es, im Dialog zwischen den Lebenswissenschaften und der pluralistischen Öffentlichkeit, Prioritäten bei der Auswahl von Forschungsthemen zu setzen, wenn die Wissenschaft über ihre möglichen Beiträge zur nachhaltigen Entwicklung der Menschheit diskutiert. Und es geht um ganz konkrete Fragen der organisatorischen Verankerung der ethischen Reflexion in der Meinungsbildung und Entscheidungsfindung des Wissenschaftssys-tems.

Abstract


What is life? This is a fundamental question, not just of biomedi-cine and the life sciences, but also of religion and theology. How scientists think about the relation of the evolutionary explanation of the origin and development of living beings on the one hand, the religious and theological understanding of the meaning of life on the other, is particularly important for their bio-ethical position. Honoring Wolf D. Krötke on the occasion of his 80th birthday, I address the use of the revolutionary methods of genome editing in biomedicine. My perspective owns Krötke its general view on the relation of modern science and protestant theology.

*) Dieser Aufsatz basiert auf dem Festvortrag gleichen Titels, gehalten auf dem Festakt anlässlich des achtzigsten Geburtstages von Prof. Dr. Dr. h.c. Wolf Krötke an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin am 5. Oktober 2018. Er beruht in weiten Teilen auf vorhergehenden Veröffentlichungen des Verfassers, insbesondere auf Jörg Hacker u. Sandra Kumm: Synthetische Biologie im Dialog – Leben, in: Friedemann Voigt (Hrsg.): Grenzüberschreitungen – Synthetische Biologie im Dialog, Freiburg/München: Alber 2015, 19–32.

Fussnoten:

1) Wolf Krötke: Praxis der Freiheit. Religion und Naturwissenschaft aus evangelischer Perspektive, in: Forschung und Lehre 11 (2006) (abgerufen unter: http://wolf-kroetke.de/ansicht/eintrag/5.html am 26.09.2018).
2) Wolf Krötke: Praxis der Freiheit. Religion und Naturwissenschaft aus evangelischer Perspektive, in: Forschung und Lehre 11 (2006) (abgerufen unter: http://wolf-kroetke.de/ansicht/eintrag/5.html am 26.09.2018).
3) Jörg Hacker, Trutz Rendtorff, Patrick Cramer, Michael Hallek, Konrad Hilpert, Christian Kupatt, Martin Lohse, Albrecht Müller, Ulrich Schroth, Friedemann Voigt u. Michael Zichy: Biomedizinische Eingriffe am Menschen. Ein Stufenmodell zur ethischen Bewertung von Gen- und Zelltherapie, Berlin/New York: de Gruyter 2009, 76.
4) A. a. O.
5) Wolf Krötke: Praxis der Freiheit. Religion und Naturwissenschaft aus evangelischer Perspektiv, iIn: Forschung und Lehre 11 (2006) (abgerufen unter: http://wolf-kroetke.de/ansicht/eintrag/5.html am 26.09.2018).
6) Johann Wolfgang von Goethe, Studie nach Spinoza, in: Goethe: Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. XIII: Naturwissenschaftliche Schriften I, 13. Auflage, München: Beck 2002, 8.
7) Wolf Krötke: Praxis der Freiheit. Religion und Naturwissenschaft aus evangelischer Perspektive, in: Forschung und Lehre 11 (2006) (abgerufen unter: http://wolf-kroetke.de/ansicht/eintrag/5.html am 26.09.2018).