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Ausgabe:

Juli/August/2019

Spalte:

692–705

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Ingolf U. Dalferth

Titel/Untertitel:

Orientieren durch Unterscheiden. Zur Denkform evangelischer Theologie.1

Wie ehrt man einen Theologen, der als akademischer Lehrer immer auch Pfarrer war und sich noch in seiner Abschiedsvorlesung energisch dagegen verwahrte, vor sinnlose Alternativen wie »Religion oder (!) Gott« gestellt zu werden,2 Glaube nur als subjektives »Fürwahrhalten« ohne jeden Erkenntniswert zu verstehen,3 Gottes Wort als bloße »Fiktion«4 abzutun, oder Theologie für unaufgeklärten Obskurantismus zu halten?5 Wie ehrt man einen Theologen, der nicht müde wurde, daran zu erinnern, dass sich evangelische Theologie nicht in gelehrten Diagnosen erschöpft, sondern soteriologisch auf Therapie zielt, dass sie »in der Orientierung an Gottes Wort kritisch im Unterscheiden des Göttlichen und Menschlichen vollzieht«,6 weil Gott kein überholtes Religionskonstrukt ist, sondern »eine Menschen von außerhalb ihrer selbst konkret begegnende und begeisternde Wirklichkeit«,7 auf die man im Leben und im Sterben setzen kann? Wie geht eine theologische Fakultät mit solchen Einwürfen und Erinnerungen um? Hoffentlich doch so, dass sie diese ernst nimmt und nicht als Schrullen einer vergangenen Zeit abtut.

Wer Theologie treibt, meint es ernst – sollte es jedenfalls. Theologie ist harte Denkarbeit. Sie orientiert im Denken über existenzielle Probleme des Lebens – über Fragen von Sein und Nichtsein, Gott und Schöpfung, Sünde und Gnade, Heil und Unheil. Sie tut das, indem sie Unterscheidungen erkundet, die das menschliche Existieren erhellen und an denen sich das christliche Leben orientieren kann. Als akademische Disziplin tut sie das auf wissenschaftliche Weise, also methodisch nachprüfbar und offen für die Möglichkeit, sich zu irren. Das ist oft der Fall, und deshalb kann man Theologie nur selbstkritisch im kritischen Austausch mit anderen betreiben.

An deutschen Universitäten ist Theologie seit dem 19. Jh. ein komplexes Fächerensemble, das methodisch die Hauptdisziplinen der klassischen philosophischen (bzw. geisteswissenschaftlichen) Fakultät abbildet. Sie will Wissenschaft unter Wissenschaften sein und bemüht sich bis zur Selbstaufgabe darum, den Kriterien zu genügen, die heute an wissenschaftliche Disziplinen gestellt werden. Aber ist sie denn eine Wissenschaft oder nicht viele, verbunden durch den praktischen Zweck, Menschen zur Leitung und Gestaltung der Kirche zu befähigen, wie Schleiermacher – ein Meister des Unterscheidens – vorschlug? Ist sie überhaupt Wissenschaft oder doch nicht eher Weisheit, die nicht einen besonderen Erfahrungsbereich erforscht, sondern die Welt und das Leben insgesamt als Gottes Schöpfung kontempliert? Ist sie als solche eine theoretisch-spekulative Unternehmung, die alles Geschaffene in Bezug auf den Schöpfer betrachtet (wie Thomas meinte), oder ist sie eher eine praktische Disziplin, die sich mit Handlungen und damit Veränderungsprozessen im Leben beschäftigt? Zielen ihre Fragen auf Handlungen von Menschen, die ein bestimmtes Ziel anstreben, oder eher auf Gottes Wirken im Sein und Handeln von Menschen, durch das menschliches Leben von einem Zustand der Gottferne und Gottvergessenheit zur Orientierung an Gottes Gegenwart verändert wird? Sollte Theologie dann aber nicht besser im Paradigma der Medizin als in dem der Erfahrungswissenschaften der Moderne beschrieben werden, weil sie sich nicht um das theoretische Erklären von Phänomenen durch die Rückführung auf zugrundeliegende Gesetzmäßigkeiten bemüht, sondern um die Diagnose der menschlichen Situation vor Gott und die Darlegung der Therapie dieser Situation durch Gott? Und wäre sie dann nicht eher eine Kunst denn eine Wissenschaft oder Weisheit – die Kunst, alle relevanten wissenschaftlichen Erkenntnisse und Methoden heranzuziehen, um durch informierte Unterscheidungen ihre spezifischen Fragen zu bearbeiten?

Offenkundig kann man Theologie auf alle möglichen Weisen verstehen, und man kann auch alles Mögliche als Theologie ausgeben. Das schafft immer wieder Streit, nötigen und unnötigen. Es gibt kein Theologieverständnis, das nicht kontrovers wäre. Der Streit um das eigene Selbstverständnis gehört zur Theologie.

II


Vielleicht ist es daher klüger, am anderen Pol anzufangen und zu fragen, was eigentlich eine evangelische Theologie auszeichnet? Der konfessionsgeschichtliche Hinweis auf protestantische Kirchenunionen seit dem 19. Jh. genügt kaum. Man muss schon auf die reformatorische Antwort zurückgehen, die den Kern des christlichen Glaubens in Erinnerungen rufen wollte und sich knapp so formulieren lässt: Evangelisch ist diejenige Theologie, die sich am Evangelium von Jesus Christus orientiert und die damit benannte Art der Gegenwart Gottes – Gottes schöpferische Liebe – als Grund und Geheimnis unserer Wirklichkeit denkend zu verantworten sucht.

Das ist ein Ideal, dem kein theologischer Entwurf uneingeschränkt genügt. Aber jeder kann sich kritisch daran messen. So verstanden zielt evangelische Theologie auf die Stärkung theologischer Urteilskraft im Umgang mit den Problemen menschlicher Existenz durch die kritische Entfaltung dessen, was als Glaube, Hoffnung und Liebe ein Leben, das sich an Gottes Gegenwart ausrichtet, prägt oder doch prägen müsste, könnte und sollte. Ihr Ziel ist die Kräftigung des Vermögens, trotz allem, was dagegen spricht, Gott im Leben seiner Schöpfung als Kraft zum Guten am Werk zu sehen und zwischen dem, was Gott zu verdanken ist (und was nicht), und dem, was Menschen tun können und müssen (und was nicht), kritisch zu unterscheiden.

In diesem Sinn ist eine Theologie evangelisch, die christliches Leben als gelebten Glauben versteht, der in der Orientierung an Gottes Gegenwart, im Hoffen auf Gott und in der Gottes- und Nächstenliebe seine existenziellen Pointen hat, und die sich selbst als Denkform dieses Glaubens, den Glauben als Lebensform des Evangeliums und das Evangelium als Kraft Gottes versteht, Menschen, die für Gottes Gegenwart blind sind, für ein Leben des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe zu gewinnen, das sich an Gottes Gegenwart orientiert.

Die aufeinander bezogenen Bestimmungen von Theologie, Leben, Glauben, Evangelium und Gott verknüpfen eine Folge von Unterscheidungen zu einem Ideal evangelischer Theologie, das nicht beschreibt, was der Fall ist, sondern anzeigt, was der Fall sein könnte und sollte, und eben so zur Orientierung christlichen Lebens und zur kritischen Beurteilung theologischer Konzeptionen dienen kann.

Diese Bestimmung evangelischer Theologie – das ist ausdrücklich hervorzuheben – ist nicht einseitig protestantisch, sondern ganz und gar transkonfessionell. Die evangelische Lebensform ist kein protestantisches Privileg, ein evangelisches Leben kein konfessionelles Sondergut, ja es ist noch nicht einmal auf Menschen be­schränkt, die sich ausdrücklich Christen nennen. Nicht wie man sich selbst erlebt, versteht und definiert ist das Entscheidende, sondern wie Gott in einem Leben am Werk ist und seine Gegenwart so zur Wirkung bringt, dass dieses Leben zum Resonanzraum seiner Gegenwart wird. Gott ist jeder Gegenwart gegenwärtig, und das kann sich in jedem Leben zeigen.

Allerdings zeigt es sich nicht immer so, wie man es gerne hätte. Im Gegenteil. Gottes Gegenwart erschließt sich so, wie sie sich erschließt, und nicht so, wie wir es uns wünschen. Man kann sie übersehen und an ihrer Wahrnehmung scheitern. Evangelische Theologie ist deshalb kein Ausarbeiten von Wunschbildern Gottes, sondern Erkundung einer vorgegebenen Wirklichkeit – ein Nachdenken über Gott, Welt und Menschsein, das am Evangelium von Gottes Zuwendung zur Welt als seiner Schöpfung orientiert ist.

Luther hatte das im Blick, wenn er Theologie nicht auf das gründet, was der menschliche Verstand schlussfolgernd aus der Erfahrung erhebt (theologia gloriae), sondern sie darauf ausrichtet, wie sich Gottes Zuwendung zur Welt im Wort vom Kreuz erschließt (theologia crucis). Er sieht deshalb auch die Hauptherausforderung der Theologie nicht im argumentativen Erweis der Wirklichkeit Gottes aus der Erfahrung oder der Vernunft, sondern im rechten Unterscheiden von Gesetz und Evangelium, also in der differenzierenden Wahrnehmung der verschiedenen Weisen, in denen Gott im menschlichen Leben in der Welt wirksam und gegenwärtig ist. Ihm ging es nicht um eine epistemisch abgesicherte, sondern um eine existenziell fundierte und packende Theologie. Gute Theologen sind nicht schon die, die stringent argumentieren, sondern die erleiden, wovon sie sprechen, die Anfechtungen nicht nur vom Hörensagen kennen, die von ihrem theologischen Denken nicht mehr erwarten, als sie im Glauben erhoffen können. Der Glaube braucht keinen Beweis der Existenz Gottes. Es gäbe ihn nicht, wenn Gott nicht wirklich wäre. Nicht wir erschließen uns daher Gottes Wirklichkeit durch unsere epistemische Aktivität, sondern diese manifestiert sich in unserer existenziellen Passivität. Wird Gottes Wirklichkeit nicht existenziell erlitten, dann bleibt sie auch epistemisch unzugänglich. Wer im Denken nicht von ihr ausgeht, wird sie auch nicht erkennen.

An der Unterscheidung dieser armseligen theologia crucis von aller hochtrabenden theologia gloriae bemisst es sich, ob man die Fundamentaldifferenz von Schöpfer und Geschöpf im theologischen Denken des Glaubens wahrt oder verwischt, ob man theologisch also von der menschlichen Wirklichkeit her auf die Möglichkeit Gottes hin denkt oder von Gottes Wirklichkeit aus die Möglichkeiten der Menschen und ihrer Welt erhellt.

III


Doch kann man in einer säkularen Zeit noch so direkt von Gottes Wirklichkeit reden? Ja gewiss: Man kann nicht nur, man muss – jedenfalls als evangelischer Theologe. Wer meint, man könne vermeiden, von Gott zu reden, weil es doch genüge, das christliche Menschenbild und die christlichen Werte zu preisen, der irrt sich. Das eine gibt es nicht ohne das andere. Man kann auch nicht vom Fußballspielen schwärmen, aber sich weigern, von Bällen, Toren, Stürmern und Verteidigern zu reden. Wer von Christentum und Glaube spricht, der muss auch von Gott reden.

Aber wie? Es ist ein aufklärungsbedürftiges Vorurteil der Mo­derne, dass Gottes Wirklichkeit erst erwiesen werde müsse, wenn es vernünftig sein soll, mit ihr zu rechnen. Das Gegenteil ist richtig. Mit Recht haben Aufklärungsdenker darauf bestanden, die Ansichten und Vorurteile der Tradition einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Der richtige und wichtige Kampf der Aufklärung gegen Vorurteile ist aber nicht mit einem pauschalen Vorurteil gegen das Vorurteil oder tradierte Einsichten zu verwechseln. Man muss an den überkommenen Ansichten vielmehr das, was durch Selbstdenken in ein selbst verantwortbares Urteil überführt werden kann, von dem unterscheiden, was durch »Nachahmung, Gewohnheit und Neigung« als bloße Voreingenommenheit vertreten wird, wie Kant präzisiert.8 »Zuweilen sind die Vorurteile wahre vorläufige Urtheile«9, die sich durch den Gebrauch des eigenen Verstandes in »bestimmende Urteile« überführen lassen. Das nicht zu tun und sich einfach auf das Überkommene zu verlassen, ist die »Faulheit und Feigheit«10 des Denkens, von der man sich freimachen muss, um einen Ausgang »aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit«11 zu finden. Vorurteile pauschal zu verteufeln, ist kein Ersatz für diese eigentliche Aufklärungsarbeit. Man muss »die falsche Erkenntniß, die aus dem Vorurtheil entspringt, von ihrer Quelle, dem Vorurtheil selbst, unterscheiden.«12 Das gilt nicht nur für Ansichten der Vergangenheit, sondern auch die der Gegenwart. Falsche Erkenntnisse werden durch den Gebrauch des eigenen Verstandes entlarvt, das Vorurteil aber muss hermeneutisch und kritisch-unterscheidend behandelt werden, um zu sehen, was daran vorläufiges Urteil und falsche Erkenntnis ist. Entscheidend ist, dass man selbst denkt und sich nicht den Meinungen überlässt, die einem die Tradition zuspielt oder die in der Gegenwart als die Spitze des Fortschritts propagiert werden. Sonst werden Menschen immer nur »Copien von Andern […] und wären alle von der Art, so würde die Welt ewig auf einer und derselben Stelle bleiben.«13

Dieses kritisch-unterscheidende Selbstdenken ist ganz besonders im Blick auf die Gottesfrage zu beherzigen. Diese lässt sich nicht pauschal der religiösen Voreingenommenheit einer vergangenen Zeit zuschreiben und ihre Überwindung als kultureller Fortschritt propagieren, weder in der Philosophie noch in der Theologie. Die Selbstsäkularisierung des Christentums ist zwar eine verbreitete, theologisch aber nicht vernünftig vertretbare Position. Man muss die Aufklärungstradition vielmehr mit Schleiermacher auf ihre anthropologischen Einseitigkeiten und Defizite durchsichtig machen. Und man muss das Aufklärungsdenken mit Hegel und Schelling bis zu dem Punkt vorantreiben, an dem es seiner eigenen Voraussetzungen kritisch einsichtig wird.

Beides gehört als philosophische Denkanstrengung zur evangelischen Theologie. Empirische Verfahren sind die falschen Methoden zur Klärung der Gottesfrage. Gott ist keine Erfahrungsgröße, und die Beziehung zu Gott kein Erfahrungsdatum. Alles Erfahrbare gehört zur Schöpfung, Gott aber ist der Schöpfer, also keine Wirklichkeit neben anderem im Erfahrungsraum der Schöpfung, sondern der, ohne den es diesen Erfahrungsraum nicht gäbe. Gott ist mit allem da, was es gibt, und deshalb fällt er nirgends besonders auf. Er ist wie der blinde Fleck unseres Gesichtsfelds: Wir sehen ihn nicht, aber wir können nur etwas sehen, weil wir alles, was wir sehen, von ihm aus sehen. Wer nicht von Gott ausgeht, wird nichts Bedenkenswertes über Gott sagen können, nicht einmal, dass es ihn nicht gibt. Gottes Gegenwart ist der Boden, auf dem wir stehen, wenn wir Gott feiern und wenn wir meinen, ohne Gott auszukommen.

Evangelische Theologie missversteht sich daher selbst, wenn sie meint, nicht von Gott handeln zu können, sondern nur von Religionen und ihren Gottesverständnissen, oder nur so von Gott handeln zu können, wie er von Menschen her in den Blick kommt, weil sie ausblendet, dass man nur von Gott her über Gott oder irgendetwas Wirkliches oder Mögliches mit einem Hauch von Wirklichkeitsanspruch sprechen kann. Gott ist immer schon im Spiel, ob man sich mit ihm beschäftigt oder nicht. Diesem existenziellen Voraus muss methodisch und inhaltlich Rechnung tragen, wer sich wirklich mit Gott befassen will.

Deshalb – und das ist in Zeiten von Wohlstandsatheismus und wissenschaftsideologischen Denkblockaden ausdrücklich zu betonen – kann evangelische Theologie nicht nur in Anführungszeichen von Gott reden. Will sie den Glauben explizieren, um zu helfen, sich im Leben zu orientieren, dann muss sie den historischen und hermeneutischen Berichterstattermodus verlassen und nicht nur Gottesverständnisse aus Geschichte und Gegenwart zitieren, sondern in eigener Verantwortung kritisch-unterscheidend von dem sprechen, den diese zu verstehen suchen. Gottesvorstellungen sind immer historisch bedingt und kulturell geprägt. Gott ist das nicht. Diese Unterscheidung ist entscheidend. Der Glaube richtet sich ja nicht auf ein Verständnis Gottes, sondern mit Hilfe eines – gewiss stets zeitbedingten – Verständnisses auf Gott. Er ist Glaube an den, ohne den es ihn nicht gäbe, und ebendiesen Grund und Gegenstand des Glaubens nennt evangelische Theologie »Gott«.

IV


Auch als transkonfessioneller Satz setzt die vorgeschlagene Bestimmung evangelischer Theologie also Unterscheidungen, die nicht allen gefallen. Warum sollte christliches Leben als gelebter Glaube verstanden werden, der Glaube als Lebensform des Evangeliums und Theologie als Denkform des Glaubens, die in eigener Verantwortung von Gott als Grund und Gegenstand des Glaubens spricht?

Von selbst versteht sich das nicht. Im Gegenteil: Die platonischen τύποι τῆς ϑεολογίας, die stoische theologia tripartita oder die neuzeitliche philosophische Theologie machen auf je ihre Weise klar, dass die Bindung der Theologie an den Glauben eine christliche Eigentümlichkeit darstellt, die nicht der Normalfall, sondern die Ausnahme ist. Man kann den Theologiebegriff in einer Weite gebrauchen, die nichts Spezifisches über christliche Theologie auszusagen erlaubt. Und man kann den Glaubensbegriff so generalisieren, dass er – wie der Religionsbegriff – eine unbrauchbare europäische Kategorie wird, die nichts erhellt, sondern das Entscheidende verdeckt.

Das Christentum lässt sich nicht verstehen, ohne vom Glauben zu reden. Das ist bei anderen Transzendenztraditionen nicht so. Die Ausweitung dieses Ausdrucks auf sie ist ein westlicher Chris-tentumszentrismus in der Betrachtung der Welt der Religionen, Weltanschauungen und Lebensorientierungen. Andere Traditionen werden durch die Brille dessen gelesen, was für das Christentum charakteristisch ist, und umgekehrt wird christlicher Glaube zu einem Fall dessen, was man auch in anderen Traditionen zu finden meint. Das führt regelmäßig zu Missverständnissen, weil man den Blick für das jeweils Eigentümliche verliert.

Deshalb ist es besser, den Glaubensbegriff theologisch konkret zu fassen und von dort her zu bestimmen, wo er historisch und systematisch seinen Ort hat: im Christentum. Von Anfang an spielte das Glaubensthema im sich formierenden Christentum eine zentrale Rolle. Das besagt nicht, dass es ein einheitliches Verständnis des Glaubens gegeben hätte, weder in den Texten des Neuen Testaments noch in der Folgezeit. Die christliche Betonung des Glaubens ging stets einher mit erheblichen Differenzen im Glaubensverständnis,14 und das gilt bis heute. Ohne den Streit um das rechte Verständnis des Glaubens ist das Christentum nicht zu denken, und ebendieser Streit hat wesentlich zur Ausbildung der Denkform beigetragen, die wir heute »Theologie« nennen.

Die Reflexionsgestalten des christlichen Glaubens hießen ja nicht immer so, und Theologie in diesem Sinn findet sich nicht überall. Nicht jedes Nachdenken in religiösen oder weltanschaulichen Transzendenztraditionen ist Theologie, und nicht alles Nachdenken über den christlichen Glauben in der Geschichte des Chris-tentums wurde »Theologie« genannt. Aber seit es so genannt wird, ist der Reflexionsbezug auf den Glauben in den Theologiebegriff eingezeichnet. Theologie und Glaube gehören zusammen, jedenfalls im Christentum.

Damit ist noch nicht gesagt, wie sie zusammengehören. Darauf hat die christliche Tradition nicht nur eine Antwort gegeben, und deshalb gibt es christliche Theologie in unterschiedlicher Gestalt – als systematisches Durchdenken der Lehrtradition der Kirche in der katholischen Tradition, als kritisches Entfalten des dieser Tradition voraus- und zugrundeliegenden Glaubens in der reformatorischen Tradition, als disziplinär differenziertes Nachdenken über die Sicht dieses Glaubens von Gott, Welt und Mensch im Horizont der neuzeitlichen Wissenschaften in der protestantischen Tradition, oder als evangelische Theologie, die sich – in welcher konfessionellen Tradition auch immer – maßgeblich am Evangelium als der zentralen Botschaft des christlichen Glaubens orientiert und damit deutlich macht, inwiefern der Bezug auf den Glauben und das Evangelium für christliche Theologie konstitutiv ist.

V


Die Differenzen im Theologieverständnis gehen einher mit Differenzen im Glaubensverständnis. Der Glaube ist ja kein prämoderner Verwirrtheitszustand, den es aus unerfindlichen Gründen auch heute noch gibt. Und er ist auch keine Schwachform des Wissens, die sich mit dem Fortschritt der Wissenschaften früher oder später von selbst erledigt haben wird. Christlich geht es beim Glauben darum, wie Menschen, die nichts von Gott wissen wollen, verändert werden, wenn sich ihnen Gottes Gegenwart erschließt. Dann wird deutlich, dass sie alles Entscheidende im Leben – ihr Dasein, Gutsein, Wahrsein, Gerechtsein – nicht sich selbst verdanken, auch nicht nur anderen, sondern Gott. Er macht Menschen zu dem, was sie von sich aus nie werden können: seinen Geschöpfen, seinen Nächsten, den Adressaten seiner Zuwendung.

Deshalb kann man vom Glauben theologisch nicht reden, ohne vier Dinge hervorzuheben: Man glaubt nicht immer schon, nicht von sich aus, nicht allein, und nicht nur nebenbei – und deshalb glaubt man nur, wenn man nicht anders kann. Niemand wird glaubend geboren, sondern man wächst im Verlauf seines Lebens in den Glauben hinein (oder eben nicht). Man tut das nicht von sich aus, sondern wird durch andere dazu gebracht. Man glaubt nicht solitär, sondern in der Gemeinschaft der Gemeinde. Und man glaubt nicht nur sonntags oder abends im Bett, sondern so, dass der Glaube das ganze Leben prägt.

Durchgehend wird dabei zwischen Glaube und Nichtglaube unterschieden, ob dieser als desinteressierte Glaubenslosigkeit, als Aberglaube, der sich auf etwas anderes richtet als auf Gott, oder als Unglaube auftritt, also als die faktische oder ausdrückliche Unwilligkeit zu glauben. Alle diese Bestimmungen sind keine neutralen Phänomenbeschreibungen, sondern Wertungen, die vom Glauben aus getroffen werden – und da beginnen die Probleme. Nichtglaube, Aberglaube und Unglaube sind nichts, was sich ohne Bezug auf den Glauben beschreiben ließe. Wer so über menschliches Leben spricht, urteilt, und zwar im Licht eines normativen Glaubensverständnisses: Wer glaubt, lebt so, wie man leben sollte, wenn man nicht ignoriert, was man durch Gottes Zuwendung sein könnte (Glaube). Wer das nicht tut, lebt dagegen unter seinen Möglichkeiten. Das muss nicht als Defizit erlebt werden. Im Gegenteil: Ganz gut ohne Gott auszukommen, gilt vielen heute als kultureller Fortschritt.

Doch man wird Gott nicht los, indem man die Augen vor seiner Gegenwart verschließt. Nicht zu glauben, ist nicht weniger riskant als zu glauben. Beides sind menschliche Existenzweisen, die sich nicht an bestimmten Erfahrungen festmachen und wahrscheinlichkeitsabwägend gegeneinander aufrechnen lassen. In beiden Fällen geht es um den Charakter der Beziehung eines Lebens zur Gegenwart Gottes, die kein Erfahrungsdatum ist, weil ohne sie nicht nur manches anders, sondern überhaupt nichts wäre.

Auch die Differenz zwischen Glaube und Nichtglaube ist daher kein Erfahrungsdatum, sondern eine Differenz der Ausrichtung eines menschlichen Lebens mit all seinem Erleben, Erfahren und Tun an Gott: Ist es durch Gottes Gegenwart orientiert oder nicht? Wer so fragt, spricht nie nur über andere, sondern immer auch über sich selbst.

Aber er spricht nicht über sein eigenes Erleben oder Erfahren. Niemand erlebt sein Leben von sich aus als ein Leben des Glaubens oder des Nichtglaubens. Indifferenz gegenüber der Differenz zwischen Glaube und Nichtglaube ist der Normalzustand, und zwar für alle Menschen. Wir alle leben in einer natürlichen Gottesblindheit. Die durchbrechen wir nicht durch unser eigenes Suchen und Fragen. Diese lassen ein wirkliches oder vermeintliches Defizit er­kennen, aber unsere Defiziterfahrungen bleiben immer an unseren eigenen Horizont gebunden und führen nicht über diesen hinaus. Auch Augustin konnte erst im Rückblick und von etwas anderem her sagen, was ihn umgetrieben und sein Herz in Unruhe versetzt hatte.

Ohne dieses andere, das nicht durch unser Suchen und Sehnen definiert ist, sondern diesem seinen Sinn, seine Richtung und seinen Namen gibt, bleiben wir bei uns selbst – ohne zu wissen, wer wir selbst eigentlich sind.

Niemand kann daher andere oder sich selbst umstandslos als Glaubende oder Nichtglaubende bezeichnen. Nur vom Glauben her kann Nichtglaube als Unglaube zum Thema werden, aber niemand kann sich selbst im Glauben verorten. Der unvermeidliche Selbstbezug aller Rede von Glaube und Unglaube kann nur die Form der Bitte annehmen: »Ich glaube, hilf meinem Unglauben«. Und der, an den man sich so wendet, ist eben der, von dem her zwischen Glaube und Unglaube überhaupt erst unterschieden werden kann.

Die Differenz zwischen Glaube und Unglaube ist also keine natürliche, in unserem Erleben und Erfahren verankerte Unterscheidung. Sie drängt sich nirgends im Leben von selbst auf, sondern tritt erst in Erscheinung, wo das Evangelium ins Leben einfällt. Das Evangelium treibt die Differenz zwischen Glaube und Unglaube heraus, indem es aufdeckt, dass alle Menschen im Un­glauben leben, also Gott nicht beachten, ohne den sie doch nicht wären, und dass Gott allen Menschen so gegenwärtig ist, dass sie im Leben und Sterben auf die wirksame Gegenwart seiner Liebe setzen können.

Keiner weiß das durch Selbstanalyse oder Weltbeobachtung. Wir alle leben faktisch etsi deus non daretur. Doch nicht einmal das können wir ohne Gott, wenn Gott so ist, wie Christen glauben. Deshalb ist es allemal vernünftiger zu leben etsi deus daretur, auch wenn sich das angesichts unserer Lebenserfahrung oft nur kontrafaktisch als Hoffnung auf die größere Macht des Guten tun lässt. Nicht wie und was wir erleben oder nicht erleben, erfahren oder nicht erfahren, verstehen oder nicht verstehen, für gewiss halten oder für nicht gewiss ist entscheidend für unsere Beziehung zu Gott, sondern allein das, wie Gott sich auf uns bezieht in unseren Zweifeln und Fragen, Sorgen und Hoffnungen, Halbeinsichten und Viertelüberzeugungen. Entscheidend ist nicht das, was wir erleben oder nicht erleben, sondern was Gott tut. Dass dies etwas für uns Gutes ist, ist die Zusage des Evangeliums. Sich darauf zu verlassen und auch dann auf Gott zu hoffen, wenn man mit der Möglichkeit des Guten nicht mehr zu rechnen vermag, ist der Grundcharakter der evangelischen Lebensform. Christliches Leben ist ein Leben der Hoffnung, die aus dem Glauben entspringt und sich am Evangelium orientiert, also daran, wie Gott die liebt, die nichts von ihm wissen wollen.

VI


Um diese Lebensform kritisch zu entfalten, kann evangelische Theologie nicht nur wiederholen, was andere Disziplinen über das christliche Leben sagen. Wäre das alles, wäre sie überflüssig. Als Reflexionsgestalt christlichen Glaubenslebens expliziert sie die Unterscheidungen des Glaubens, die dieses Leben orientieren. Und sie tut das systematisch in einer eigenen Denkform mit eigener Begrifflichkeit und eigenen Kriterien.

Denkformen sind Orientierungszusammenhänge, die anhand von Unterscheidungen aufgebaut werden, die zu bestimmen helfen, was etwas ist bzw. nicht ist und wie man sich dazu verhalten kann und soll und wie nicht. Wie das konkret geschieht, mag einem missfallen. Aber dass es überhaupt geschieht, kann man kaum kritisieren. Alles Unterscheiden als Diskriminierung zu diskriminieren, ist kein erhellender Beitrag zur Debatte. Man kann jede Unterscheidung in Frage stellen. Aber man kann auf das Unterscheiden nicht verzichten, wenn man überhaupt etwas sagen will.

Natürlich erzeugt das Streit. Jede Unterscheidung provoziert den Widerspruch derer, die – aus welchen Gründen auch immer – anders unterscheiden möchten. Und immer geht es auch um Macht, wenn man will, dass auch andere die eigenen Unterscheidungen übernehmen. Aber Macht muss nicht als Gewalt, sie kann auch als Überzeugungskraft ausgeübt werden. Denn unterscheiden müssen wir. Wir können nicht leben, ohne uns zu orientieren. Wir können nicht denken, ohne zwischen hier und dort, jetzt und damals, uns und anderen, Geschöpfen und Gott zu unterscheiden. Und wir können uns nicht kritisch orientieren, ohne unsere Orientierungsunterscheidungen immer wieder zu prüfen und durch das Leben in Frage stellen zu lassen.

Sich zu orientieren, heißt so stets ein Dreifaches: Man braucht einen Orientierungszusammenhang, also – im Bild gesagt – eine Karte. Man muss wissen, wo sich diese Karte gebrauchen lässt und wo nicht. Und man muss seine eigene Position auf der Karte angeben können, um sie gebrauchen zu können. Eine Karte von Berlin hilft mir hier, aber nicht in Hamburg, wenn ich die Heilig Geist Kapelle suche, und sie hilft mir hier nur, wenn ich weiß, wo sich mein eigener Ort auf ihr befindet.

Alle drei Momente sind wichtig: Man muss Unterscheidungen machen, die einen realen oder mentalen Raum so strukturieren, dass man mit ihrer Hilfe sein Verhältnis zu anderen oder anderem bestimmen kann – im Raum (hier/dort; links/rechts/in der Mitte; oben/unten; hinten/vorne …), in der Zeit (jetzt/damals; heute/ gestern/morgen …), in der sozialen Welt (Ding/Person; moralisch gut/moralisch böse …) oder im Verhältnis zu Gott (Geschöpf/Sünder; Glaube/Unglaube …). Man muss zweitens sich selbst mithilfe dieser Unterscheidungen in dem so strukturierten Raum lokalisieren, also wissen, wo man sich relativ zu relevantem anderem befindet. Und man muss drittens die Grenzen erkunden, an denen die gemachten Unterscheidungen nicht mehr dazu taugen, etwas strukturierend zu ordnen und sich selbst in dieser Ordnung zu orten. Nur dann nämlich weiß man, wo und wie man sie zur Orientierung gebrauchen kann und wo und wie nicht.

Wird das nicht beachtet, erzeugt man Verwirrungen, weil man Unterscheidungen auf Probleme anwendet, für die sie nicht konzipiert sind. Dann sucht man Gott in Raum und Zeit, über den Wolken oder in sich selbst, oder man versucht, mit theologischen Unterscheidungen moralische oder politische Probleme zu lösen (oder umgekehrt). Doch wer im Politischen von Schöpfung oder Sünde redet, leistet damit allein keinen Beitrag zur Lösung politischer Probleme, aber wer in der Theologie auf solche Rede verzichten will, der hat seine theologischen Hausaufgaben nicht gemacht.

Das ist der Logik von Orientierungsunterscheidungen geschuldet. Sie beschreiben keine objektiven Eigenschaften von Dingen oder Sachverhalte, die auch ohne Bezug auf diejenigen, die sich so zu orientieren suchen, gegeben wären – nichts ist per se links oder rechts, oben oder unten, gut oder böse, Geschöpf oder Sünder. Aber für uns ist nichts wirklich, was sich nicht so lokalisieren lässt – im Raum, in der Zeit, vor Gott. Wir benötigen die Orientierungsunterscheidungen, die wir machen, weil wir uns in einer unübersichtlichen Wirklichkeit zurechtfinden müssen, und wir haben in langen kulturellen Prozessen gelernt, die Unterscheidungen zu machen, die uns erlauben, uns einigermaßen verlässlich zu orientieren – im Leben, im Denken, im Glauben und in der Theologie.

Unsere Unterscheidungen bringen die Wirklichkeit ja nicht hervor, auf die sie sich beziehen, sondern wir unterscheiden vernünftigerweise so, dass wir mit der Wirklichkeit nicht kollidieren, in der wir uns bewegen und verhalten müssen, wenn wir uns an diesen Unterscheidungen ausrichten. Wer Unterscheidungen erfindet, die niemand braucht, oder Unterscheidungen verwischt, auf die wir angewiesen sind, der wird früher oder später an der Wirklichkeit scheitern. Wie das Denken das Leben auf das Mögliche hin öffnet, so bettet das Leben das Denken in das Wirkliche ein. Im Denken geht es um die kreative Erschließung des Möglichen, im Leben um seine konkrete Verwirklichung in Raum und Zeit. Beides verdankt sich der schöpferischen Wirklichkeit des Möglichen, ohne die es kein Leben, kein Denken und keinen Glauben gäbe.

VII


All das gilt auch für die theologische Denkform des Glaubens. Als Lebensform des Evangeliums orientiert sich der Glaube an zwei fundamentalen Unterscheidungen: der zwischen Schöpfer und Geschöpf, und der zwischen Glaube und Unglaube. Die erste ist die ontologische Fundamentalunterscheidung, die den Menschen als Gottes Geschöpf und nicht als Schöpfer seiner selbst bestimmt. Die zweite ist die existenzielle Fundamentalunterscheidung, die jeden Menschen daraufhin betrachtet, wie er sich zur ersten Unterscheidung verhält: Orientiert Gottes Gegenwart sein Leben, oder tut sie das nicht? Die erste Unterscheidung kann für Menschen nur gelten, wenn sie für alles Wirkliche gilt (bin ich Geschöpf, dann ist alles geschaffen), die zweite Unterscheidung gilt für alle Menschen, wenn sie überhaupt für einen gilt (existiere ich unter der Differenz von Glaube und Unglaube, dann existiert jeder Mensch so).

Beide Fundamentalunterscheidungen räumen Gott die absolute Priorität ein. Gott ist der Erste, alles andere das Zweite. Das gilt ontologisch und epistemologisch, für das Sein der Schöpfung wie für ihre Erkenntnis als Schöpfung, für die Existenz im Glauben wie für die Neuausrichtung des Lebens durch den Wechsel vom Unglauben zum Glauben. Dass Gott der Schöpfer und kein Geschöpf ist, heißt ja nicht, dass Gott ins Jenseits entschwunden wäre und nirgendwo ist. Es heißt vielmehr, dass Gott in und mit allem, was ist, präsent ist, ohne mit irgendetwas Geschaffenem zusammenzufallen. Bin ich Gottes Geschöpf, dann ist Gott meiner Gegenwart gegenwärtig (sonst gäbe es mich nicht), aber ich bin nicht der Schöpfer (sondern als Geschöpf von Gott verschieden). Und was für mich gilt, gilt für alles andere ebenso.

Aber warum bin ich und nicht vielmehr nicht? Oder warum bin ich noch, obwohl ich mich um den Schöpfer nicht kümmere? Weil dieser will, dass ich bin, und die in der Schöpfungsdifferenz mitgesetzte Beziehung des Schöpfers zur Schöpfung so ist, wie das Evangelium sagt: selbstlos-schöpferische Liebe.

Das ist keine Erfahrungseinsicht. Gottes Liebe lässt sich nicht an den Phänomenen der Welt ablesen (wer könnte das angesichts all des Widersinnigen, Üblen und Sinnlosen im Leben?), sondern sie ist umgekehrt der Grund, die Welt trotz aller gegenteiligen Erfahrungen als Gottes Schöpfung würdigen zu können. Nicht unsere Erfahrung, sondern das Evangelium stellt klar, dass die Welt Gottes Schöpfung ist und der Möglichkeitsraum seiner kreativen Liebe. Und nur weil sie sich am Evangelium und nicht an ihren Lebenserfahrungen orientieren, können Christen Gott Vater nennen, sich und ihre Mitmenschen als Gottes Nächste verstehen und alle Mitgeschöpfe so behandeln, dass sie Gottes Präsenz bei ihnen würdigen.

So jedenfalls sollte es sein, wenn es so wäre, wie es sein müsste, wenn es so wäre, wie es sein könnte. Faktisch freilich sieht es ganz anders aus, bei Christen nicht weniger als bei anderen Menschen. Aus gutem Grund geht evangelische Theologie daher nicht von der Erfahrungswirklichkeit dieser Welt aus, sondern von Gottes Gegenwart und Zuwendung zu seiner Schöpfung. Sie nimmt die absolute Priorität ernst, die Christen Gott einräumen. Gott ist nicht nur das schlechthinnige Prius alles geschaffenen Seins (er ist, und alles andere ist durch ihn), sondern er erweist sein Gottsein dadurch, wie er im Leben seiner Geschöpfe am Werk ist (als schöpferische Liebe, der sich alles andere verdankt).

Indem das Evangelium das erschließt, deckt es den Unterschied zwischen Glaube und Unglaube auf, zwischen einem Leben, das die Gegenwart von Gottes Liebe ignoriert oder bestreitet (Unglaube), und einem Leben, das an dieser Gegenwart orientiert ist (Glaube). Diese Unterscheidung ist keine willkürliche Setzung zur Ausgrenzung anderer, sondern die lebensorientierende Entdeckung einer realen Existenzalternative im eigenen Leben. Sie taugt nicht dazu, Menschen in Glaubende und Nichtglaubende, oder gar Christen und Nichtchristen, einzuteilen, sondern markiert eine Differenz, die für jedes menschliche Leben gilt: Kein Mensch verdankt sein Leben sich selbst. Jeder könnte es an Gottes Gegenwart ausrichten. Aber keiner tut es von sich aus, weil die eigene Erfahrung dafür weder einen hinreichenden Anlass noch einen guten Grund bietet, allen psychologischen Tiefenbohrungen und argumentativen Münchhauseniaden zum Trotz. Man muss schon gründlich von anderswoher unterbrochen werden, um auf den eigenen Unglauben aufmerksam zu werden. Die theologische Kurzformel für diesen externen Augenöffner ist das Evangelium, also Gott selbst. Denn kommt es zum Glauben, dann verdankt sich das dem, an den geglaubt wird (also Gott), und nicht dem, der glaubt.

Der Glaube ist Gottesgabe, nicht selbsterzeugt, weder durch Gefühle noch durch Argumente. All das gehört zur geschaffenen Wirklichkeit, der Glaube aber verdankt sich Gott, auf den er sich richtet. Oder wie Luther im »Schönen Confitemini« (1530) schreibt: »Der Glaube kann nicht an irgendetwas haften noch hängen, was in diesem Leben gilt, sondern bricht hinaus und hängt an dem, was über und außer diesem Leben ist, das ist Gott selbst.« Im Glauben ist das ganze Leben auf Gottes Gegenwart ausgerichtet. Er ist kein besonderes religiöses Lebensphänomen neben und unter anderen, sondern der Operator, der das ganze Leben durch den Bezug auf die Gegenwart Gottes als ein Leben qualifiziert, das sich am Schöpfer orientiert oder das nicht tut.

Auch wer es nicht tut, bleibt allerdings Geschöpf, weil die Grundunterscheidung zwischen Schöpfung und Schöpfer nicht daran hängt, wie sich das Geschöpf versteht, sondern wie sich der Schöpfer verhält. Es gibt keine Schöpfung ohne Schöpfer. Der Schöpfer aber ist kein Teil der Schöpfung und das Geschöpf nicht selbsterschaffen im radikalen Sinn der creatio ex nihilo, in der Gutes aus Übel, Leben aus Tod, Sein aus Nichtsein entsteht.

Wo immer die Grundunterscheidung zwischen Schöpfer und Geschöpf in Frage gestellt wird, breitet sich dagegen das Chaos aus, von dessen Zurückdrängung die alttestamentlichen Schöpfungstexte erzählen und dessen Hereinbrechen ins Leben dessen permanente Bedrohung und Gefährdung darstellt. Menschen leben in äußerst fragilen Ordnungen, deren Bestand daran hängt, dass die Grundordnung der Unterscheidung von Schöpfer und Geschöpf gewahrt bleibt. Gerade diese Grundunterscheidung aber stellen die Menschen – verführt vom Verlangen, wie Gott zu sein, und das heißt nichts anderes, als ohne Gott zu sein – immer wieder in Frage mit der Folge, dass das menschliche Leben und Zusammenleben mit anderen Menschen und Geschöpfen gestört, entstellt, gefährdet wird, dass es zum Kampf zwischen Mensch und Tier kommt und zu Konkurrenz auf Leben und Tod zwischen Mensch und Mensch.

VIII


Das Verwischen und Verdunkeln der Grundunterscheidung zwischen Schöpfer und Geschöpf ist das Grundübel menschlicher Exis-tenz. Das muss evangelische Theologie immer wieder deutlich machen, sonst wird ihr Reden von Gottes Liebe zur sentimentalen Floskel und verlieren Begriffe wie Schöpfung, Glaube oder Sünde ihre theologische Pointe. Diese Begriffe sind ja nicht aus der Erfahrung gewonnen, sondern aus der Entfaltung des Evangeliums. Sie beschreiben keine besonderen Erfahrungen, sondern beurteilen alles unter dem Gesichtspunkt der Gegenwart Gottes und rücken es so in ein anderes, nicht alltägliches Licht.

Wer diese theologischen Begriffe verstehen will, darf ihnen nicht seine eigenen Deutungen unterschieben, sondern muss die Grammatik beachten, die für diese Orientierungsunterscheidungen in der theologischen Denkform gilt. Andere Disziplinen orientieren sich an anderen Unterscheidungen. Sie sprechen nicht von Glauben, sondern von Religion, nicht von Schöpfung, sondern von Welt, nicht von Kirche, sondern von Religionsgemeinschaft, nicht von Gott, sondern (wenn überhaupt) von Ursprungsmacht (oder Ähnlichem). Das aber sind nicht Wechselbegriffe für dasselbe, sondern die theologische Denkform entfaltet eine andere Perspektive auf alles, die sich an anderen Kriterien und Unterscheidungen orientiert.

Theologische Begriffe lassen sich daher an keiner Erfahrung ablesen. Sie sind nicht aus der Erfahrung gewonnen, sondern legen eine andere Einstellung zu all unserer Erfahrung nahe. Die Welt ist nicht nur so, wie wir sie erfahren und erforschen. Sie ist Gottes Schöpfung. Gerade so aber erfahren wir sie nicht. In der Erfahrungswelt gibt es keine Differenz zwischen dem, was Gott geschaffen hat, und dem, was Gott nicht geschaffen hat. Es gibt keine Menschen, die Sünder sind und Gott brauchen, und andere, die das nicht sind und Gott nicht brauchen. Es gibt kein neues Leben, das sich anhand bestimmter Phänomene eindeutig vom alten unterscheiden ließe.

Alle diese theologischen Unterscheidungen beschreiben keine Eigenschaften weltlicher Erfahrungsphänomene, die sich durch empirischen Vergleich erheben ließen, sondern beurteilen alles unter dem Gesichtspunkt von Gottes Gegenwart. Sie markieren keine Erfahrungsdifferenzen, sondern Einstellungen zur Erfahrungswelt, die sich der Orientierung an Gottes Gegenwart verdanken, auf alles erstrecken und immer auch für die gelten, die sie machen. Wer von Schöpfung spricht, spricht von sich selbst als Geschöpf. Er beurteilt anderes wie sich selbst, und wie man sich und anderes beurteilt, so lebt man. Wer in der Welt aber so lebt, dass er in ihr als Geschöpf in der Schöpfung lebt, der verhält sich anders zu sich und anderen als der, der das nicht tut. Christen leben nicht in einer anderen Welt, aber sie leben in der Welt anders als andere – sie verhalten sich zu anderen als Gottes Geschöpfe, und zu anderen Menschen als Gottes Nächsten, denen Gott ebenso nahe ist wie ihnen selbst.

In diesem Sinn sind theologische Unterscheidungen Orientierungsunterscheidungen, keine Erfahrungsbeschreibungen. Sie lassen sich nicht aus der wissenschaftlichen Forschung anderer Disziplinen gewinnen, sondern verdanken sich der denkenden Entfaltung des Glaubens als der Lebensform des Evangeliums in einer eigenen theologischen Denkform.

IX


Das ist keine Schwäche, sondern die Stärke evangelischer Theologie. Sie wird damit unabhängig von der Veränderungsdynamik der Wissenschaften und den Ideologien ihrer Zeit – oder könnte es doch sein. Nicht der politische, moralische, kulturelle Zeitgeist ist die Norm, an der sie sich ausrichtet. Aber sie gewinnt ihre Identität auch nicht daraus, dass sie diesem widerspricht. Sie muss nicht ständig dafür oder dagegen sein. Sie hat im Evangelium ihren eigenen Maßstab für das, was sie zu sagen hat und was nicht. Von dort her muss sie einsichtig machen, was sie sagt bzw. nicht sagt, und warum sie es tut bzw. nicht tut. Das ist die Rechenschaftspflicht, von der im 1. Petrusbrief die Rede ist – nicht der Nachweis, dass der christliche Glaube vor dem Forum einer öffentlichen Vernunft bestehen kann, dass Christen den moralischen Sensibilitäten der Zeit zufolge auf der richtigen Seite stehen, oder dass das, was sie glauben und hoffen, und mit den Halbwahrheiten der jeweiligen Zeit kompatibel ist.

Das gilt auch für das Verhältnis der Theologie zu den Wissenschaften. Wissenschaft will und muss immer besser werden. Sie kennt keine endgültigen Wahrheiten, wie die neue Rektorin des Wissenschaftskollegs kürzlich in einem Rundfunkinterview zu Recht betont hat. Falls das ein wissenschaftlicher Satz sein soll, fällt er allerdings selbst unter diese Regel, will also keine endgültige Wahrheit sein. Ist es aber keine endgültige Wahrheit, dass die Wissenschaften keine endgültige Wahrheit kennen, dann zeigt das zumindest so viel, dass Wissenschaft und Wahrheit zu unterscheiden sind. Nur wenn Wahrheit über das Wissen und nicht Wissenschaft über die Wahrheit entscheidet, ist es sinnvoll, dass Wissenschaften nicht aufhören können, besser werden zu wollen.

Selbstverständlich will und soll auch die Theologie besser werden. Doch sie wird es nicht durch Orientierung an den Wissenschaften – weder methodisch noch inhaltlich. Theologie hat es immer mit dem Schöpfer und nur von ihm her auch mit der Schöpfung zu tun. Die Wissenschaften dagegen erforschen die Schöpfung, aber sie erforschen sie nicht als Schöpfung, weil sie den Schöpfer nicht kennen.15 Das Christentum entgeht daher nicht dadurch der Barbarei, dass Theologie den methodischen Unglauben der Wissenschaften imitiert. Das wäre ein schlimmes Missverständnis Schleiermachers. Sie will ja nicht erklären, sondern orientieren, wenn sie den Glauben und das Evangelium in ihren verschiedenen Disziplinen entfaltet. Je näher die Theologie zudem inhaltlich dem Wissen ihrer Zeit steht, desto schneller ist sie überholt. Das zeigt sich in allen ihren Disziplinen, wenn auch in manchen noch deutlicher als in anderen. Doch ihr Orientierungsmaßstab ist nicht der jeweilige Stand des wissenschaftlichen Irrtums (wie manche sagen), sondern das Evangelium, dessen Lebensform der Glaube ist. Daran misst sie alle konkreten Gestalten gelebten Glaubens, und daran misst sie auch alles andere.

Die kritische Orientierung am Evangelium ist deshalb kein Kriterium neben anderen (Vernunft, Erfahrung, Wissenschaftlichkeit), sondern das einzige, was für eine am Evangelium ausgerichtete Theologie zählt.16 Als Theologie nimmt sie jede Form der Vernunft, Erfahrung und Wissenschaft in Anspruch, die ihr hilft, Menschen theologisch urteilsfähig zu machen, und in jeder ihrer philologischen, historischen, systematischen und praktischen Teildisziplinen wird das Verhältnis dieser Kriterien anders sein. Als evangelische Theologie aber beurteilt sie alle diese Mittel und Methoden, Aufgaben und Resultate kritisch-unterscheidend im Licht und am Leitfaden des Evangeliums. Eine Theologie, die nicht in diesem Sinn kritisch ist, verfehlt ihre Aufgabe und ihr Ziel. Und eine Theologie, die sich nicht selbst kritisch an diesem Kriterium misst, hat ihre Aufgabe und ihr Ziel schon verfehlt.

Die Orientierung am Evangelium ist daher nicht etwa das Ende aller kritischen Theologie, wie manche befürchten, sondern umgekehrt: Wo das Evangelium »ins Spiel kommt, da geht es mit der Theologie erst richtig los.«17 So hat der Jubilar es in seiner Ab­schiedsvorlesung formuliert. Und das gilt heute nicht weniger als vor 14 Jahren.

Abstract


The lecture outlines a trans-denominational ideal of evangelical theology that does not describe what is the case, but shows what could and should be the case: Evangelical is a theology which understands Christian life as a life of faith lived in the presence of God, in the hope of God and in love of God and neighbor, and which understands itself as the form of thinking this faith, faith as the form of life of the Gospel and the Gospel as the power of God to win people blind to the presence of God for a life of faith, hope and love oriented towards the presence of God.

Fussnoten:

1) Die folgenden Überlegungen wurden in gekürzter Form am 5. Oktober 2018 in der Heilig Geist Kapelle der Humboldt-Universität zu Berlin anlässlich der akademischen Feier von Wolf Krötkes 80. Geburtstag vorgetragen. Sie knüpfen an Gedanken an, die in meinem Buch »God First. Die reformatorische Revolution der christlichen Denkungsart« (Leipzig 2018) ausführlicher entfaltet wurden.
2) W. Krötke, Gottes Wort im »Kant-Jahr«. Theologische Überlegungen zum Augenmaß des Glaubens, Berlin 2004, 11.
3) A. a. O., 10 (KU, 603; KrV 689).
4) A. a. O., 9.
5) A. a. O., 8.
6) A. a. O., 15.
7) A. a. O., 9.
8) I. Kant, Logik, AA 9, 76.
9) A. a. O., 75.
10) I. Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, AA VIII, 35.
11) Ebd.
12) Kant, Logik, AA 9, 75.
13) A. a. O., 76.
14) Vgl. J. Frey/B. Schliesser/N. Ueberschaer (Hrsg.), Glaube: Das Verständnis des Glaubens im frühen Christentum und in seiner jüdischen und hellenistischen Umwelt, Tübingen 2017.
15) Theologie leistet keinen Beitrag zur Erforschung der Welt und des Lebens durch wissenschaftliche Hypothesen, Theorien und Erklärungen, sondern orientiert Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, in welcher Einstellung das getan werden könnte und sollte, wenn man es coram deo als Erforschung der Schöpfung tut. Sie bietet Orientierungshilfen für die Personen, die Wissenschaft betreiben, aber sie konkurriert nicht auf der Ebene wissenschaftlicher Arbeit mit dem, was sie tun.
16) Das kann man ähnlich auch bei Schleiermacher lesen, etwa in der Stellungnahme der theologischen Fakultät zur Entlassung de Wettes vom 19. Oktober 1819. Vgl. I. Rohls, Schleiermacher und die wissenschaftliche Kultur des Christentums, Berlin 2009, 49.
17) Krötke, 15.