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Ausgabe:

Juni/2019

Spalte:

580–583

Kategorie:

Altertumswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Rupschus, Nicole

Titel/Untertitel:

Frauen in Qumran.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2017. XII, 335 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 2. Reihe, 457. Kart. EUR 84,00. ISBN 978-3-16-155647-0.

Rezensent:

Michael Tilly

Der Dominikanerpater Roland de Vaux, Direktor der Jerusalemer École Biblique und Leiter der ersten Grabungskampagne auf dem Plateau von Qumran, deutete die dortigen archäologischen Befunde als Hinweise auf einen klosterähnlichen Charakter des Areals mit Skriptorium, Bibliothek, Wirtschaftsgebäuden und einer Versammlungshalle für die zölibatären »Wüstenmönche«. Eine Befassung mit den Fragen nach der Bedeutung oder gar physischen Anwesenheit von Frauen in der antiken Siedlung, nach dem Frauenbild der gruppenspezifischen Texte vom Toten Meer, nach den Relationen von Frauen zu der Gemeinschaft, welcher diese Texte zugeordnet werden können, und auch nach ihrer Wahrnehmung und Bewertung durch die antiken Autoren, mittels derer die »Essener-These« gemeinhin untermauert wird, erschien dem Ordensmann de Vaux und den meisten seiner Zeitgenossen allein von daher obsolet. Auch in der neueren und aktuellen Qumranforschung wurde dem Thema »Frauen« bislang nur recht wenig Beachtung geschenkt. Vor diesem Hintergrund will die vorliegende, von Stefan Beyerle und Jörg Frey betreute, im Rahmen einer Doppelpromotion ( Cotutelle de thèse) in Greifswald und Zürich verfasste und für die Drucklegung überarbeitete Dissertationsschrift von Nicole Rupschus einen wichtigen, jedoch bislang noch nicht hinreichend gewürdigten Gesichtspunkt des Lebens und der Lehren der »Qumrangemeinschaft« erhellen.
Der einleitende erste Teil des Buches (1–12) enthält die gattungsüblichen Ausführungen zur Intention und zum Aufbau der Arbeit (die Gliederung folgt der Einteilung des Quellenmaterials in archäologische Daten, Inhalte der Schriftrollen und Aussagen der antiken Essenertexte), zur Methodik (zutreffend wird hier die ge­ringe Aussagekraft rein quantitativer Analysen der relevanten Wortfelder betont) und zur einschlägigen Forschungsgeschichte. Von intentional feministischen Deutungen und Bewertungen der von ihr untersuchten Quellenmaterials grenzt R. sich explizit ab.
Im zweiten Teil (13–95), der die archäologischen Befunde in den Blick nimmt, folgen zunächst eine konzise Darstellung des geschichtlichen Kontexts und eine Zusammenschau der unterschiedlichen Interpretationen der bisherigen Grabungsergebnisse aufeinander. Besonders erhellend sind die Ausführungen zu den weiblichen Skelettfunden auf dem südlichen Teil eines nahe Chirbet Qumran gelegenen Friedhofs. R.s Zwischenergebnis, der »wirtschaftliche und jüdische Charakter der Siedlung [könne] vorausgesetzt werden« (34), ist ebenso unspektakulär wie seriös, denn die Quellen geben eigentlich kaum etwas anderes her. Weder die An-lage noch der Friedhof können einer bestimmten oder gar beson-deren jüdischen Gemeinschaft zugeschrieben werden. Auch ihre Skepsis gegenüber der Annahme, Frauen seien Teil einer in Qum ran lebenden essenischen Gemeinschaft gewesen, erscheint gut begründet (82). Ein hermeneutisch und methodologisch sehr ge­scheit argumentierender Abschnitt zum Verhältnis zwischen Ar­chäologie und Textwissenschaft mündet in die Annahme, zumindest ein »Austausch« zwischen den Bewohnern der Siedlung und den Nutzern der Höhlen sei denkbar (95).
Thema des dritten Teils (97–157) sind die sogenannten »Damaskus-Texte« (CD, 4Q266–273, 5Q12, 6Q15), in denen vergleichsweise häufig von Frauen die Rede ist. Einer Behandlung der wichtigsten Einleitungsfragen folgen gründliche Analysen der relevanten Textabschnitte. Dabei bewahrheitet sich die von R. vorab formulierte Vermutung, dass die hier begegnenden (androzentrischen) Regelungen zunächst einen ideal-präskriptiven Charakter haben und dem Selbstbild und der besonderen Lebensweise einer durch die verschärfte Toraobservanz und das Bestreben nach priesterlicher Reinheit und Heiligkeit ausgezeichneten Gemeinschaft mit familiären (bzw. patriarchalen) Strukturen entsprechen, zu deren ge­genwärtigem und zukünftigem Gelingen sie beitragen sollen (111). Als Teil des in diesen Texten beschriebenen Kollektivs begegnen auch Frauen.
Im kurzen vierten Buchteil (159–176) geht es um Frauen in der »Gemeinschaftsregel« (1QSa/28a). Weil diese Gemeindeordnung als ein Ausdruck präsentischer Eschatologie zu bewerten sei, komme ihr Geltung auch als Richtschnur für die Gegenwart ihres Trägerkreises zu (160). Die exegetische Untersuchung der einschlägigen Passagen, bei der R. durchweg eine erfreuliche Distanz gegenüber allzu beherzten literarkritischen Operationen beibehält, führt sie zu dem Resultat, dass Frauen hier zwar explizit als Teil einer (an verschiedenen Orten in Judäa lebenden) gemischten Gemeinschaft mit durchweg von Männern bestimmten Hierarchien angespro chen und berücksichtigt werden, was insbesondere in der ihnen zuerkannten Zeugenfunktion zum Ausdruck kommt (170 f.), aber wohl nicht zum eigentlichen jaḥad gehörten und auch keinen An­teil an seiner Mahlgemeinschaft hatten (176).
Der fünfte Teil des Buches (177–211) beschäftigt sich mit der weitaus selteneren Erwähnung von Frauen und »frauenspezi-fischen« Themen wie Ehe, Fortpflanzung oder Reinheit in der Ge­meinderegel (1QS) und hiermit verwandten Regeltexten. Eine ausführliche Diskussion des komplexen Verhältnisses zwischen dieser Textgruppe und den »Damaskus-Texten« (ineinander verwobenes Textwachstum bzw. gegenseitiges rewriting und parallele, sich wechselseitig beeinflussende Fortschreibungen) führt R. zum einen zu dem Schluss, »dass der yaḥad eine kleinere Gemeinschaft als die D-Gemeinschaft« repräsentiere (189), und verleiht zum an­deren der Überlegung Plausibilität, dass beide Textsammlungen und ihre anfänglichen Trägerkreise nicht in Qumran zu verorten sind, sondern ihr Inhalt eine »breitere Bewegung innerhalb Israels« reflektiert (199). Wenn nun der jaḥad vor diesem Hintergrund als Ausschnitt aus einer übergeordneten Gesamtgemeinschaft mit Familien identifiziert werden kann, dann seien Frauen zunächst mit dem letzteren Kreis verbunden und nur dann relevant für den eigentlichen jaḥad und dessen leitende Funktionen, »wenn es um Reinheitsfragen geht« (210).
Der sechste Buchteil (213–261) wendet sich den Essenerberichten bei Philon von Alexandreia, Flavius Josephus und Plinius d. Ä. zu. Während der alexandrinische Religionsphilosoph zwischen Therapeuten, die mit Frauen auf rein spiritueller Ebene koexistierten, und enthaltsamen Essäern, in deren Leben Frauen keinen Platz mehr hatten, differenziere und zugleich das besondere Streben beider Gruppen nach Tugend akzentuiere, habe der jüdische Historiker im Kontext seiner Beschreibung des vorbildlich beschaulichen, tugendhaften und auf gerechten Ausgleich bedachten Lebens der Essener die Funktion ihrer Frauen auf das Hervorbringen und Er­ziehen von Kindern reduziert. Auffällig an dem Referat des römischen Gelehrten schließlich sei die mangelnde Vorbildfunktion, die dem Verzicht der essenischen Gemeinschaft auf Frauen und Geld hier beigemessen wurde. Anhand eines ausführlichen Vergleichs der antiken Essenerberichte und ihrer hypothetischen Quellen mit den Schriftrollen vom Toten Meer weist R. nach, dass Letztere durch eine ständige Betonung der Abgrenzung ihres Trägerkreises gekennzeichnet seien, während Erstere die kulturelle »Anschlussfähigkeit« des Judentums betonten. In Bezug auf das bei Philon und Josephus vorfindliche Frauenbild bedeutet das, dass sich die Tendenzen zur Meidung, Ausklammerung und Diffamierung der Frau in Übereinstimmung mit den in der zeitgenös-sischen hellenistisch-römischen Welt üblichen Wahrnehmungen und Wertungen im Sinne einer interpretatio graeca deuten lassen (243), mittels derer die Essener als wahre Tugendbolde auf Weltniveau erscheinen sollten. In Bezug auf die untersuchten Qumrantexte sei festzuhalten, dass der (die Gemeinschaft nach innen konsolidierende und nach außen abgrenzende) Begriff der »Heiligkeit« in den allgemeineren D-Texten die exzeptionelle Lebensweise der familiären Gemeinschaften über strikte Reinheitsvorschriften begründet und in den spezielleren S-Texten der kultkritisch-pries-terlichen Selbstwahrnehmung des frauenlosen jaḥad auf der Basis eines Systems spatial und gesellschaftlich abgestufter Heiligkeitsbereiche mit dem Tempel als idealem Zentrum entspricht, wo­durch auch das jeweilige Frauenbild eine besondere (kultische) Prägung erfahre. Ein Exkurs (254–259) widmet sich der möglichen Erwähnung von Frauen als Asketinnen in 4Q502 und einer in 4Q184 vermuteten misogynen Tendenz der Essener. Die Schlussbetrachtung im siebten Teil (263–280) fasst die Erkenntnisse der vorliegenden Kapitel zusammen und formuliert ein zentrales Ergebnis der Untersuchung: »Die […] zölibatäre Essener-These ist nach archäo logischen und textlichen Gesichtspunkten nicht mehr haltbar.« (277) Beigegeben sind ein Literaturverzeichnis (281–303) sowie Re-gister der Stellen, Sachen, Personen und Orte (305–335).
In ihrer lesenswerten Dissertationsschrift ist es R. nicht nur gelungen, wichtige Aspekte der Frage nach der Existenz, Wahrnehmung und Bewertung von Frauen in Qumran in methodisch re-flektierter Weise und in fortwährender kritischer Auseinandersetzung mit der aktuellen internationalen Qumranforschung einer Klärung zuzuführen, sondern durch ihre gründliche und exegetisch fundierte Darstellung auch zu einer plausiblen Deutung des generellen Verhältnisses zwischen Siedlungsresten, Handschriftenfunden und antiken Essenerberichten beizutragen.