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Ausgabe:

Juni/2019

Spalte:

632–633

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Kaufmann, Hans Bernhard

Titel/Untertitel:

Die Aktualität der frühen Arbeiten zum thematisch-problemorientierten Religionsunterricht. Hrsg., eingel. u. kommentiert v. M. Wermke unter Mitarbeit v. Ch. Koch.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2018. 244 S. = Religiöse Bildung im Diskurs, 6. Kart. EUR 34,00. ISBN 978-3-374-05728-3.

Rezensent:

Johannes Heger

Aktuelle religionspädagogische Publikationen, die religiöse Bildung im Allgemeinen und den Religionsunterricht als prominenten religiösen Lernort im Besonderen in den Blick nehmen, operieren – meist verbunden mit zeitanalytischen Reflexionen – nicht selten mit Denkschlüsseln wie »Krise«, »Umbruch« o. Ä. Besonders in Sachen Religionsunterricht (= RU) scheint es klar, dass Veränderungen auf unterschiedlichen Ebenen unvermeidlich sind, jedoch zugleich nicht, wohin genau die Reise geht. Zahlreiche Religionspädagogen und Religionspädagoginnen sehen vor diesem Hintergrund eine wichtige Aufgabe darin, über Strukturen und Grundlagen eines zukunftsfähigen RUs zu reflektieren und damit Vor-Denker zu sein. Was hat dieses für 2019 gültige Szenario aber mit einem Sammelband zu tun, in dem ausgewählte Aufsätze von Hans Bernhard Kaufmann aus den 1950er bis 1970er Jahren versammelt sind?
Ohne diese Frage derart pointiert zu stellen, legt der Herausgeber Michael Wermke in seinem Vorwort Antwortspuren, die die Leser und Leserinnen während der Lektüre des gesamten Bandes als Hintergrundrauschen begleiten: K. verstünde sich nicht »als Person verflossener Zeitgeschichte«, sondern als Religionspädagoge, der auf »die Relevanz seiner teilweise schon vor mehr als 50 Jahren entwi-ckelten Konzepte für die heutige[n] religionsdidaktischen Diskurse aufmerksam machen will« (7). Der Band verfolgt vor diesem Hintergrund ein doppeltes Ziel: Zum einen versteht er sich als Beitrag zur »Erforschung des berufsbiographischen Selbstverständnisses eines der bedeutendsten Religionspädagogen« (8) des 20. Jh.s, indem teils schwer zugängliche Texte K.s zusammengetragen sind. Zum anderen soll in »disziplingeschichtlicher Hinsicht« (7) die Diskussion um das unabgegoltene Potenzial (Thorsten Knauth) des thematisch-problemorientierten Ansatzes des RUs greifbar werden. Ein Ansatz, der eine konzeptuelle Reaktion auf gesellschaftliche Anfragen an Religion, religiöse Bildung und Religionsunterricht in den 1960er Jahren darstellte, einen bedeutenden Entwicklungsschritt der Religionspädagogik markiert und maßgeblich mit dem Namen und Denken K.s verbunden ist.
Um diese ambitionierten Ziele zu realisieren, werden thematisch wie formal unterschiedliche Texte dargeboten, die von grundla-gentheoretischen und dementsprechend komplexen Erwägungen (bspw. »Probleme der Jugendseelsorge [1957]« [23–50]) über eher praktisch orientierte didaktische Entwürfe (bspw. »Studienbriefe [1957–1958]« [51–77]) bis hin zur Notiz von konzentrierten Thesen (bspw. »Religionsunterricht – heute [1971]« [233–237]) reichen. Eingeleitet werden alle Beiträge durch Einführungen K.s, die – in den Jahren 2008 und 2017 verfasst – mittels zeitgeschichtlicher bzw. biographischer Hintergrundinformationen wichtige Verständniswege ebnen sowie zumeist die Aktualität der behandelten Sujets herausstellen.
Durch diese geschickt gewählte Struktur werden die Leser zwar an die Texte herangeführt, ihnen wird jedoch nicht die Freiheit genommen, sie eigenständig zu entdecken und zu erschließen. Und eine solche Entdeckungsreise lohnt sich auch 2019: Ein Studium des Sammelbandes erlaubt den Einstieg in ein bis heute aktuelles theologisches, bildungstheoretisches, pädagogisches und didaktisches Denken, das wahrlich über den simplifizierenden Kontrast zwischen evangelischer Unterweisung und problemorientiertem Ansatz hinausgeht (vgl. 8.20) und sich »aus einem Guss« von grundlagentheoretischen Erwägungen bis zu didaktischen Konkretionen hin entspinnt.
Ausgangs- und Zielpunkt zugleich sind dabei stets die Subjekte, wie folgende Stichproben zeigen: Religionspädagogen und Reli-gionslehrer müssten Abstand davon nehmen, die Subjekte »immer schon auf dem Hintergrund eines […] ausgeformten Bildes verstehen [zu] wollen« (39), sondern wahrhaft den Menschen sehen. »Lebensnähe« oder Situationsorientierung dürften nicht als »Reizmittel« (88) oder »Köder« für einen »gute[n] Einstieg« (101) missbraucht werden, sondern Didaktik und (!) Theologie müssten sich am Subjekt ausrichten; nicht zuletzt, weil die »Lebenswelt der jungen Menschen als Voraussetzung und Kontext aller schulischen vermittelten Sozialisations- und Lernprozesse ernst genommen werden muss« (189). Da­mit religiöse Bildung erworben werden kann, gälte es, den »ganzen Menschen in allen Bezügen […] auf-[zu]suchen« (29). Eine »Stofforientierung, eine Deduktion aus dogmatischen Systemen« (192) sowie eine die menschliche Erfahrung exkludierende biblische Konzentration versagten sich dagegen (184.196 f.).
Hat sich diese Linie der Subjektorientierung – wie beispielsweise auch die Verwahrung gegen jedwedes Einheitsdenken (vgl. u. a. 83.164.169 f.) – tief in die Grundlagen der Religionspädagogik eingeschrieben, lassen sich zahlreiche Fragestellungen und Reflexionen mit der heutigen Gestaltungsaufgabe des RUs verbinden, wie folgende Fragen exemplarisch andeuten mögen: Wie kann religiöse Bildung im Sinne ihrer politischen Dimension zum wahrhaft toleranten Zusammenleben in der pluralen Gesellschaft beitragen (89–96)? Was bedeutet es organisatorisch und didaktisch, religiöse Bildung in der Schule konfessionell bzw. positionell zu verantworten (198–200.219–225.236), und welche (un-)mittelbare Rolle kommt der Kirche dabei zu (209–232)? Ist religiöse Bildung adäquat mit dem segmentierten Schulfach Religion abgebildet – gerade wenn eine Kompetenzförderung das Ziel der (religiösen) Bildung sein soll (153– 182.190 f.)?
Diese Einblicke zeigen exemplarisch, dass der Band nicht nur alle selbst gesetzten Ziele einholt, sondern den Lesern und Leserinnen implizit auch einen Auftrag mitgibt: im Bewusstsein des Ges­tern heute das Morgen zu denken und zu gestalten. Eine begrüßenswerte Aufforderung, deren Einlösung zweifelsohne einen entscheidenden Baustein zur Bewältigung der jüngsten »Krisen« und »Um­brü-che« des RUs darstellt – nicht nur seitens der Religionspädagogik.