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Ausgabe:

Juni/2019

Spalte:

626–628

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Merkl, Alexander, u. Bernhard Koch [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Die EU als ethisches Projekt im Spiegel ihrer Außen- und Sicherheitspolitik.

Verlag:

Baden-Baden: Nomos Verlag; Münster: Aschendorff Verlag 2018. 381 S. = Studien zur Friedensethik, 63. Geb. EUR 69,00. ISBN 978-3-8487-4861-7 (Nomos); 978-3-402-11726-2 (Aschendorff).

Rezensent:

Hartwig von Schubert

Hat die Europäische Union den Friedensnobelpreis verdient, ist sie das, was sie laut ihrer Statuten sein soll – ein Projekt des Friedens und der Versöhnung? Und wie kann sie das weiterhin bleiben?
Veranlasst durch die stiefmütterliche Behandlung der »Ge­meinsamen Außen- und Sicherheitspolitik« der EU (GASP) durch die ethische Forschung haben die beiden katholischen Herausgeber – Alexander Merkl als Theologe, Bernhard Koch als Philosoph – die Beiträge dieses Bandes um zwei Artikel gruppiert. Der Theologe Christof Mandry schreibt seine Studie von 2009 »Europa als Wertegemeinschaft« fort, und die Politologin Annegret Bendiek in ihrem Artikel ihre SWP-Studie »Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU: Von der Transformation zur Resilienz« von 2017. Mandry steht für den ersten Teil des Bandes, der mit »Grundlagenreflexionen« überschrieben ist, und Bendiek für den zweiten Teil zur GASP als ethischem Bewährungsfeld. Mehrere Autoren – Herbert Schlögel, Kerstin Schlögl-Flierl, Michael Kuhn und Friederike Ladenburger – widmen ihre Beiträge diesbezüglichen Impulsen aus der katholischen Kirche und Theologie. Andere – Hille Haker, Marianne Heimbach-Steins, Katharina Klöcker, Thomas Hoppe, Lukas Ohly, Andreas Lienkamp und Bernhard Koch – nehmen konkrete materialethische Themen auf: Bioethik, Migration, Terrorismus, Nuklearwaffen, Cyberkrieg, Klimawandel, Sanktionspolitik, und dies immer im Blick auf deren Bearbeitung durch die EU. Und schließlich diskutieren drei Beiträge einige ebenfalls durch Dokumente der EU aufgeworfene begriffliche und methodische Fragen: Ulrich Franke und Ulrich Roos die pragmatistische Analyse, Regina Ammicht-Quinn den Sicherheitsbegriff und Jochen Sautermeister den Begriff der Resilienz.
Aber zurück zu den beiden zentralen Artikeln: Mandry bietet weniger Grundlagenreflexionen als vielmehr ergänzend zu Bendiek Analyse und Interpretation von Genese und Wandel der GASP. Mandry benennt die alle anderen Themen überwölbende zentrale Frage nach der Souveränität und Legitimität der EU und gibt eine überzeugende Antwort: Dem supranationalen Projekt der Union stehe kein »ähnlich vereintes europäisches Volk« (62) gegenüber, das die Union legitimieren und über ihre Politik durch Wahl und Abwahl souverän entscheiden könnte. Aber er geht noch weiter. Da es doch durchaus ein europäisches Volk geben müsse, das den bisherigen unvollendeten Einigungsprozess ja immerhin wahrhaft eindrucksvoll getragen habe, so müsse dies wohl dasjenige europäische Volk sein, das aus der Katastrophengeschichte des 20. Jh.s die Konsequenzen zieht: »Die Identität der EU funktioniert damit wie die meisten Kollektividentitäten mittels einer Abgrenzung von anderen, nämlich hier mittels der europäischen Werte durch die Abgrenzung von der eigenen, verhängnisvollen Geschichte.« (62 f.) Mit anderen Worten: Das europäische Volk des 21. Jh.s grenzt sich ab vom europäischen Volk des 20. Jh.s! Der Hauptgegner formiert sich nicht auf den realen Konfliktfeldern der Gegenwart, sondern ragt vergegenwärtigt durch »Erinnerung« aus den Kanzleien und Kommandozentralen, aus den Schlachtfeldern und Schützengräben der Vergangenheit in unsere Tage. Diese Erinnerung mobilisiert den Widerstand gegen aufkommende Nationalismen der Gegenwart. Solche Erinnerung allein aber ist schwach, sie wirkt reaktiv und dies auch noch als Substitut: »Die Idee der Wertegemeinschaft erfüllt diese Funktion, weil andere Größen nicht zur Verfügung stehen: Nation, Geschichte, Kultur beinhalten zu viele Divergenzen, um als Basis für europäische Zusammengehörigkeit zu funktionieren.« (63) Ganz passt diese Diagnose nicht, denn ein Teil von Geschichte führt ja doch das europäische Volk zusammen, nämlich die Katastrophengeschichte und mit ihr das Pathos des »Nie wieder!« Worauf es dem Autor aber ankommt: Erst in zweiter Linie würden die europäischen Werte gelesen als »Leitlinien für die Politikgestaltung, zunächst für die Verfassungs- und Grundrechtspolitik der EU, dann auch für die konkrete Politik in den einzelnen Politikfeldern« (63). Eben dazu aber könnten sie stark und attraktiv gemacht werden, um also die Geschichte Europas neu zu erzählen als »Zukunft Europas unter dem Vorzeichen der Werte« (69).
Dieses Design einer Geschichtsschreibung in die Zukunft, einer europäischen »Geschichte in weltbürgerlicher Absicht« (Kant) und die Ausrichtung der GASP auf sie wünschte man sich als Programm des gesamten Bandes. Es dürfte sich lohnen, alle Beiträge daraufhin zu untersuchen, inwieweit ihnen das gelingt. Einige Beiträge aber setzen eher das gegenteilige Signal, der Wandel von der »Transformation« zur »Resilienz« wird weniger als Konsolidierung denn als Akt der Resignation verbucht, der Verzicht der GASP auf die Befreiung der ganzen Menschheit gemessen an den universalistischen Idealen des amerikanischen Pragmatismus gleich als ethisches Versagen. Ein Beitrag wiederum zeichnet sich durch Realismus aus, ohne die Ideale aus den Augen zu verlieren: Michael Gehler als Philologe mit dem Schwerpunkt Geschichte/Sozialkunde legt eine hochinformative integrationshistorische Analyse vor, in der er zwar immer wieder den partikularen, opportunistisch-reaktiven Charakter der europäischen Einigungsprozesse sichtbar macht, um dann aber kontrastierend seine Anlässe für die Aktualität und Notwendigkeit eines gesamteuropäischen Friedens- und Versöhnungsprojektes aufzuzählen: die Sicherung des äußeren Friedens durch eine »Integrationsfriedensstrategie« (55), die Konsolidierung des inneren Friedens angesichts von Massenmigration, Klimawandel und innereuropäischem Wohlstandsgefälle; im Blick auf Letzteres gehöre hierzu auch die Sicherung des sozialen Friedens und des »Finanzfriedens«. »Eine nach außen wie nach innen zu ent-wickelnde Pax Europaea mit in Zukunft ca. 35 Staaten und 600 Millionen Einwohnern ist und bleibt die größte Herausforderung der kommenden Jahrzehnte.« (56) Die Schlüsselfrage jedes gesamteuropäischen Friedens- und Versöhnungsprojektes scheint mir denn auch tatsächlich die Frage der Verbindung von europäischer Souveränität und Legitimität zu sein. Christof Mandry berührt diese Frage unter dem Aspekt der Durchsetzungsfähigkeit politischer Akteure (69 f.), noch wichtiger aber als dieser exekutive Aspekt ist m. E. die nach wie vor ausstehende Lösung der konstitutiven Aufgaben in einer föderalen Architektur für das gemeinsame Haus Europa. Wer macht sich an die Arbeit, Autorinnen und Autoren unermüdlich hierfür zusammenzurufen? Wichtige Vorarbeiten liegen u. a. mit dem hier rezensierten Band vor.
Was trägt die Theologie dazu bei? Hille Haker nimmt die Interpretation des Wertbegriffs bei Mandry auf, um zu klären, welchen Einfluss die Religion – die christliche Religion im Allgemeinen und die katholische Theologie und Kirche im Besonderen – »auf die Gestaltung der sozialen Werte und Normen hat bzw. haben sollte« (74). Angesichts des Streits um »objektive« oder »subjektive« Geltung von Werten plädieren Mandry und Haker für Werte »als ›Grundsätze‹, welche zwischen Identität und Handlungszielen einerseits und zwischen Recht und Ethos bzw. Kultur changieren« (80). Wie dieses Changieren zu verstehen ist, wie die »Übersetzungsarbeit« methodisch anzulegen ist, wird leider nicht näher erläutert. Als Bindeglied plädiert Haker für die moralische Intuition angesichts von Beispielen aus der erwähnten Katastrophengeschichte (vgl. 83), die zurzeit aber noch auf eine »Beratungsnormativität« von Expertengremien beschränkt werde: »Damit wäre die Exklusion von Bürgern, die im politischen Einigungsprojekt überwunden werden sollte, das größte Problem, mit dem die Konstruktion der Ethikberatungsgruppen konfrontiert ist.« (89) Womit wir wieder bei der Frage nach Legitimität aus Volkssouveränität wären. Und innerhalb der Frage nach der Konstitution politischer Teilhabe stellt sich der Ethik zudem die Frage nach ihrem Selbstverständnis in Prozessen politischer Urteilsbildung. Hier schließt Ha­ker mit einer Forderung: »Nur wenn die theologische Ethik sich dem Anspruch stellt, ihre eigene Tradition neu zu verstehen, kann sie auch verstanden werden.« (92) Dass die Autorin damit auf katholischer Seite bereits Gehör gefunden hat, zeigen aktuelle Arbeiten etwa von Bernhard-Wilhelm Rinke und Eberhard Schockenhoff: Ethische »Tradition«, kollektive und persönliche »Erfahrung«, sys-tematische »Reflexion« und politische »Verfahren« müssen geordnet miteinander ins Gespräch gebracht werden. Dabei kommt der Rechtsethik enorme Bedeutung zu, insbesondere der Ethik des Völkerrechts. Hier haben Philosophie und Theologie im Gespräch mit der Politik- und der Rechtswissenschaft aber noch einiges zu tun.