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Ausgabe:

Juni/2019

Spalte:

618–621

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Nonnenmacher, Burkhard

Titel/Untertitel:

Vernunft und Glaube bei Kant.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2018. X, 425 S. = Collegium Metaphysicum, 20. Kart. EUR 89,00. ISBN 978-3-16-155716-3.

Rezensent:

Christian Danz

Immanuel Kants 1793 erschienene Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft war schon zu Lebzeiten ihres Autors umstritten. Am 7. Juni 1793 ließ Johann Wolfgang Goethe den lutherischen Superintendenten von Weimar, seinen Freund Jo­hann Gottfried Herder, in einem Brief wissen, was er von der Religionsschrift hielt. Kant habe, so der Dichterfürst, seinen Philosophenmantel lästerlich »mit dem Schandfleck des radikalen Bösen be­schlabbert, damit auch Christen herbeigelockt würden, den Saum zu küssen«. Goethes Urteil über die Ambivalenz der Religionsphilosophie des Königsberger Meisterdenkers hat durch die Tübinger Habilitationsschrift Vernunft und Glaube bei Kant von Burkhard Nonnenmacher eine neue Bestätigung erhalten. Allerdings setzt N. andere Akzente als Goethe in seiner brieflichen Mitteilung an den lutherischen Theologen.
Kants Religionsphilosophie, wie sie in der Religionsschrift von 1793 ausgeführt ist, tendiere geradewegs in den Pelagianismus, so dass die herbeigelockten Christen einem (pelagianischen) Wolf im Schafspelz auf den Leim gehen, würden sie den Saum seines Philosophenmantels küssen wollen. Denn Kant gehe es nie »nur darum, anzuerkennen, dass wir nichts vermögen, weil Gott alles in allem wirkt«. Vielmehr votiere er »gegen das sola gratia im Dienste der Sittlichkeit« (300 f.). Das Urteil resultiert aus den Konsequenzen, die mit der Erkenntniskritik des Königsberger Philosophen verbunden sind. Weil er in der Kritik der reinen Vernunft den supramundanen Gottesgedanken der metaphysischen Tradition über die Klinge habe springen lassen, führe die Rehabilitierung Gottes in der auf die Kritik der praktischen Vernunft aufbauenden Religionsphilosophie in ein Dilemma. Es besteht darin, dass mit der Ausschaltung des metaphysischen Gottes, der alles in allem wirkt, auch vom Christentum nur ein pelagianischer Schatten seiner selbst übrigbleibt. Um das zu vermeiden, müssen aus der Kantischen Erkenntniskritik andere Konsequenzen gezogen werden, als der Königsberger meinte. Einzubeziehen ist zwar dessen Erkenntniskritik, aber das dünne Fundament der Ethikotheologie müsse durch eine spekulative Philosophie ersetzt werden, die es erlaubt, von dem alleinwirkenden Gott – und nicht wie Kant vom Menschen – auszugehen und in diesem Horizont die menschliche Freiheit zu verorten. An­dernfalls, das zeige das Beispiel Kants ebenso wie seiner theologischen Nachfolger, sei man dem Pelagianismus hoffnungslos ausgeliefert. Ebendas argumentativ nachzuweisen, ist der Anspruch der von N. vorgelegten Untersuchung der Religionsphilosophie Kants sowie der ihr zugrundeliegenden Zuordnung von Vernunft und Glaube. Gegenstand des Buches ist damit nicht nur eine kritische Evaluierung der Zuordnung von Vernunft und Glauben bei dem Königsberger Denker, sondern ein systematisches Programm einer spekulativen systematischen Theologie.
Der Aufbau der Untersuchung resultiert schlüssig aus ihrer Intention, durch eine kritische Rekonstruktion der Kantischen Religionsphilosophie sowie ihrer systematischen Grundlagen die Notwendigkeit einer spekulativen Theologie auszuarbeiten. Entfaltet wird dieses Programm in vier Hauptabschnitten. Besonderes Gewicht kommt dem umfangreichen Abschnitt A. Kants Verhältnisbestimmung von Vernunft und Glaube (25–288) zu. Vor dem Hintergrund dieser Darstellung nimmt der zweite Hauptabschnitt die systematischen Probleme von Kants angewandter Religionsphilosophie in den Blick (B. Was ist von Kants Verhältnisbestimmung von Vernunft und Glaube zu halten?, 291–367). Die beiden kürzeren folgenden Hauptteile skizzieren ausgehend von dem (pelagianischen) Dilemma, das mit Kants Konzeption verbunden ist, Konsequenzen für eine systematische Theologie im problemgeschichtlichen Horizont von dessen Erkenntniskritik. Zunächst deutet Abschnitt C. Theologie nach Kant (371–388) mit Hegels spekulativer Philosophie eine Alternative an, und sodann werden programmatisch Problemaspekte benannt, denen sich eine systematische Theologie nach Kant zu stellen habe (D. Zur Aufgabe Systematischer Theologie nach Kant, 391–404).
Die systematischen Grundlagen der Religionsphilosophie Kants entfaltet der erste Hauptabschnitt der Untersuchung in mehreren aufeinander aufbauenden Einzelschritten. N. geht es weniger um eine werkgeschichtliche Rekonstruktion der Philosophie des Kö­nigsbergers und seiner Christentumsdeutung. Im Fokus des Interesses steht eine argumentative Rekonstruktion ihrer systematischen Grundlagen. Entsprechend setzt N. mit einer Analyse der Kritik der reinen Vernunft ein, geht dann über zur Grundlegung der Religion im Horizont der praktischen Philosophie (25–180), erörtert das Verhältnis von Glaube und Vernunft als eine wechselseitige Inklusion (181–195) sowie Kants Neubegründung der Metaphysik (197–200), das darauf aufbauende Verhältnis von Vernunft und Offenbarung (201–220) und führt auf diese Weise hin zur Reli-gionsdogmatik der Religionsschrift (221–288). Als neuralgischen Punkt arbeitet N. in seiner umfassenden und detaillierten Rekonstruktion Kants These heraus, vor dem Hintergrund der in der ersten Kritik ausgeführten Erkenntniskritik müsse die ihre Grenzen überschreitende spekulative Theologie durch eine Ethikotheologie ersetzt werden.
»Nicht nur liefert uns die Moraltheologie damit nämlich nur einen Grund zur Annahme, dass Gott ist, sondern vielmehr macht sie den Gottesbegriff selbst erst zu einem sinnvollen Begriff für uns, und hiermit ist deutlich, dass und weshalb Kant die Gotteslehre allein in ihrer praktischen Bedeutung mit Sinn erfüllt sieht und deshalb alle Eigenschaften Gottes moraltheologisch begründet.« (211)
Der ethikotheologische Gottesgedanke fußt auf Kants Bestimmung des Verhältnisses von Vernunft und Glaube. Mit der Restriktion intersubjektiv verbindlicher Erkenntnis auf den Bereich der Erfahrung bleibt lediglich die Moral als Ort, an dem der Gottesgedanke ausgewiesen werden kann. Allein, er steht hier auf schwachen Füßen.
Die im zweiten Hauptabschnitt durchgeführte Kritik an Kants moralphilosophischer Reformulierung der dogmatischen Gehalte der christlichen Religion arbeitet die Probleme heraus, die mit der Konzeption verbunden sind. N. orientiert sich dabei am Aufbau der Religionsschrift, indem er zunächst die einzelnen Stücke nacheinander durchgeht (291–347) und schließlich seine Rückfragen prinzipientheoretisch bündelt (349–367). Kernpunkt der Kritik ist die anhand von Kants Theorie des Bösen entwickelte Freiheitstheorie. Zurechenbar sind dem Menschen Handlungen nur dann, wenn »wir uns den subjektiven Grund des Gebrauchs unserer Freiheit selbst als einen Freiheitsakt vorstellen« (293). Damit ist der Gedanke der Alleinwirksamkeit Gottes ausgeschaltet, Kant mithin des Pelagianismus überführt, die Würfel gefallen. Die Kritik der anderen Stücke der Religionsschrift baut auf dem pelagianischen Verantwortungsbegriff aus dem ersten Stück der Schrift von 1793 auf. Konfrontiert wird die Konzeption des Königsbergers mit den Positionen von Luther, Leibniz, Anselm von Canterbury und Augustin, die durchweg die Funktion haben, eine alternative Bestimmung des Verhältnisses von Gottes Alleinwirksamkeit und menschlicher Verantwortung zu benennen.
Die beiden Schlussabschnitte der Untersuchung deuten zu­nächst mit der spekulativen Philosophie Hegels eine alternative Konzeption zu Kants Religionsphilosophie an (377–385). Es bleibt jedoch bei einer knappen Skizze und Andeutungen, die darauf hinauslaufen, Hegel habe mit Luther die »Alleinwirksamkeit Gottes« (381) gewahrt und mit der menschlichen Verantwortung verbunden. Genau dadurch bieten sie – nämlich Hegel und ein spekulativ gelesener Luther – eine auch für die gegenwärtige systematische Theologie bedenkenswerte Alternative zu Kants Pelagianismus. Der abschließende Teil der Studie nimmt das angedeutete Programm einer spekulativen Theologie noch einmal auf und diskutiert es vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Debatte.
N. plädiert im Anschluss an Kant für eine Erneuerung einer spekulativen Theologie. Intendiert ist kein Rückgang zu einer vor-kritischen oder vorkantischen Theologie (395.397), wohl aber eine Theologie, die vom Gottesgedanken ausgeht. Um das für die Theologie ruinöse Dilemma des Kantianismus zu überwinden, müsse »der Anfang beim Subjekt selbst als Selbstmanifestation Gottes re­flektiert« (387) werden. Denn: »Solange der Mensch seine Rede von Gott nicht im Absoluten verortet, nimmt er seine Rede von Gott nicht ernst.« (388) Allein, über Andeutungen des Programms und Versicherungen geht die Studie (verständlicherweise) nicht hinaus. Es bleibt bei der Behauptung, Theologie müsse von der Selbstmanifestation des Absoluten ausgehen. Ob eine solche spekulative Theologie des Absoluten sich am Ende nicht selbst als gedankliche Konstruktion erweist, die denselben Einwand auf sich zieht, den N. als Kants Pelagianismus in seiner Studie diagnostiziert hat, wird sich zeigen, wenn das Programm ausgearbeitet vorliegt.