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Ausgabe:

Juni/2019

Spalte:

603–605

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Bray, Gerald [Ed.]

Titel/Untertitel:

The Books of Homilies. A Critical Edition.

Verlag:

Cambridge: James Clarke & Co. 2016. XXI, 575 S. Geb. £ 85,00. ISBN 978-0-227-17544-6.

Rezensent:

Martin Ohst

In enger Verbindung mit der Praxis und Theorie des Altarsakraments war allenthalben das Predigtwesen der wichtigste Kriegsschauplatz in den Reformationskämpfen des 16. Jh.s. In England war bekanntlich die Reformation eine von den dortigen Protago-nisten der reformatorischen Bewegung zunächst weitgehend un­abhängige Reihe politisch-administrativer Akte der Monarchen und des Parlaments, und so übernahm hier auch von Anfang an die Krone eine ganz außergewöhnliche, aktiv gestaltende Rolle im Kampf um die Kanzeln. Die »Injunctions«, mit denen Heinrich VIII. die englische Kirche auf seinem religionspolitischen Zickzack-Kurs steuerte, nachdem er sich 1534 zu deren Oberhaupt hatte erheben lassen, waren in ihrer Substanz recht detaillierte Predigtanweisun gen bzw. -anleitungen, welche die streitigen theoretischen und praktischen Fragenkreise betrafen. – Als ihm 1547 sein Sohn Eduard VII. auf dem Thron nachfolgte, spannen seine Berater und er diesen Faden weiter: Es erschien sogleich ein zuvor schon vorbereitetes Buch mit zwölf »Homilies«. Es handelte sich dabei nicht um Homilien nach heutigem Sprachgebrauch, also besonders nahe am Bibeltext entlanggehende Predigten, sondern, ganz im Gegenteil, um stilreine Themenpredigten, welche die doktrinären Grundlagen sowie die praktischen Konsequenzen der nun konsequenter durchzusetzenden Reformmaßnahmen darlegten und die ihnen innewohnenden ethisch-religiösen Leitperspektiven für den Einzelnen und die Gesellschaft aufzeigten.
Jeder Geistliche, der in der Ecclesia Anglicana eine mit Seelsorgeaufgaben verbundene Pfründe innehatte, wurde kategorisch verpflichtet, an jedem Sonntag und Feiertag eine solche Homilie ganz oder teilweise vorzulesen. Als nach Eduards frühem Tode seine Halbschwester Maria die Episode der englischen Gegenreformation einleitete, zeigte sich, wie wirkungsreich diese Lesepredigten gewesen waren: Sie wurden alsbald durch eine vom Londoner Bischof Bonner zusammengestellte altgläubige Sammlung ersetzt. Als dann nach Marias Tode Heinrichs Tochter aus zweiter Ehe, Elisabeth I., den Thron bestieg, wurde das erste Book of Homilies wieder in seine vormalige Funktion restituiert, und es wurde durch eine zweite Sammlung ergänzt, welche die Akzente etwas anders setzt: Die rein doktrinären Themen treten in den Hintergrund, und das Augenmerk richtet sich auf die liturgische Praxis im Zyklus des Kirchenjahres. Es wird eingeschärft, dass und warum gerade die Monarchen berechtigt waren und sind, ihrem Volk die heilsamen Ordnungen kirchlichen Lebens zu geben. Der 35. der 39 Artikel, also der maßgeblichen Bekenntnisschrift der anglikanischen Kirche, zählt diese Texte einzeln auf und stellt sie in eine Reihe mit dem ersten Book of Homilies: Beide miteinander werden in ihrem hervorgehobenen Rang als Standardpredigten für Gottesdienste an Sonn- und Feiertagen bestätigt.
Diese Texte sind aus unterschiedlichen Gründen außergewöhnlich lesenswert. Die fünf grundlegenden Predigten der ersten Sammlung stammen bis auf die zweite von Thomas Cranmer, der durch Heinrich VIII. zum Erzbischof von Canterbury gemacht wurde und die normativen bzw. liturgischen Grundlagen der anglikanischen Kirche wesentlich formte. In diesen vergleichs-weise knappen Texten hat dessen konservativ-bibelhumanistische Spielart reformatorischer Theologie mit ihrem Bestreben um Anlehnung an die Doktrin der Kirchenväter sich ein imposantes Denkmal gesetzt. Andere Predigten traktieren offensiv das Problem einer kirchlichen Neuordnung ohne Papst, und zwar auf gänzlich anderen gedanklichen Wegen als im kontinentaleuropäischen, gar im lutherisch beeinflussten Raum. Wieder andere werben bei ihren Hörern um Akzeptanz für die Abstellung des Kultus der Heiligen und ihrer Bilder. Insgesamt dokumentieren die Homilies ein auf Langfristigkeit angelegtes, in sich vielschichtiges Erziehungsprog ramm, das fremdelnde und verunsicherte Gemeinden in einer neuen, ihnen von oben oktroyierten Glaubens- und Kultuswelt heimisch machen will – durch den immer neuen Hinweis darauf, dass sie gerade durch den Umschwung auf neue Weise ihrer Gliedschaft im einen Gottesvolk versichert worden sind, das seine normativen Erstgestalten im biblischen Israel und in der Kirche der Apostel und Väter hatte und in dem immer schon, wie jetzt wieder nach dem Ende des papalistischen Irrwegs in England, die Monarchen die Verantwortung dafür getragen haben, dass der Gottesdienst dem Gotteswillen entsprach, während die Geistlichen den weltlichen Herrschern getreue und gehorsame Untertanen waren.
1859 hat John Griffiths eine sehr sorgfältige Edition dieser Predigten vorgelegt, welche die Textvariationen der unterschiedlichen Auflagen und Versionen dokumentiert, Zitate aus der Bibel und den Kirchenvätern opulent verifiziert und vor allem nachweist, wo die Homilien welche zeitgenössischen Texte ausschreiben. Entgegen dem Eindruck, den die Titelformulierung zu erwecken vermag, ist Gerald Brays Ausgabe also keineswegs eine kritische Erstedition, sondern sie beruht weitestgehend auf Griffiths Edition. Dessen Ausgabe erfüllte vollauf die Anforderungen, die man damals an ein solches Unternehmen stellte. Was das anbetrifft, so hat sie in Brays Edition keine Fortsetzung gefunden: Griffiths hatte die Kirchenväterzitate gemäß den seinerzeit gebräuchlichen Ausgaben exakt nachgewiesen und die Stellen teilweise auch im Apparat nachgedruckt – Bray gibt bloß noch ohne Verweis auf Ausgaben oder gar auf Übersetzungen die Stellen an. Als Leittexte fungieren anscheinend die ältesten ermittelbaren Drucke, spätere Varianten werden durch Fettdruck und Kursivierung wiedergegeben. Auf diplomatische Wiedergabe des Leittextes wird verzichtet; die Orthographie ist unter Wahrung des Lautbestandes modernen Regeln angepasst. Ob das jemandem, der mit dem frühneuzeitlichen Englisch gar nicht vertraut ist, wirklich weiterhilft? Besser wäre auf jeden Fall der originalgetreue Abdruck des Leittextes unter Beigabe einer modernenglischen Übersetzung gewesen.
Was Bray also gibt, ist eine gegenwärtigen Rezeptionsgewohnheiten sich vorsichtig anbequemende Leseausgabe mit sparsamen Verständnishilfen. In einem Punkte ist seine Ausgabe allerdings der alten (im Internet durch Google Books frei verfügbaren!) Ausgabe von Griffiths eindeutig überlegen: Sie macht auch die Homiliensammlung Bonners zugänglich, und zwar eingeschoben zwischen das erste und das zweite Book of Homilies.