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Ausgabe:

Juni/2019

Spalte:

597–599

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Theißen, Gerd

Titel/Untertitel:

Veränderungspräsenz und Tabubruch. Die Ritualdynamik urchristlicher Sakramente.

Verlag:

Münster u. a.: LIT Verlag 2017. 454 S. = Beiträge zum Verstehen der Bibel, 30. Kart. EUR 59,90. ISBN 978-3-643-13454-7.

Rezensent:

Christian Strecker

Als bedeutender Mitbegründer der sozialwissenschaftlichen Exe­gese macht sich der inzwischen emeritierte Heidelberger Neutes-tamentler Gerd Theißen seit Längerem für eine wissenschaftlich verantwortete Pluralität der Zugänge zur Bibel im Sinne einer »polyphonen Bibelhermeneutik« stark (vgl. Polyphones Verstehen, Berlin 2014). Der Band ist dieser Hermeneutik verpflichtet. T. sucht darin ein neues Verständnis der Taufe und des Abendmahls zu eröffnen, indem er deren historischen Ursprüngen und Fortentwicklungen sowie deren theologischer, kultureller und liturgischer Bedeutung nachgeht, und zwar unter Rückgriff auf Theorien der religionsgeschichtlichen Forschung, der Kulturanthropologie, der kognitiven Religionswissenschaft, der Psychoanalyse, der Philosophie der Verkörperung und der Theologie im Allgemeinen. Sein »neues Verständnis« der beiden Sakramente verdichtet T. in den beiden titelgebenden Begriffen der Veränderungspräsenz und des Tabubruches. Der erstgenannte Begriff markiert die theolo-gische Einsicht, dass Gott in den Sakramenten in komplexer Weise als Kraft der Veränderung präsent sei. Diese Veränderungspräsenz gründe, so T. weiter, in symbolischen »Tabubrüchen«: Das Abendmahl inszeniere einen »symbolischen Kannibalismus«, die Taufe einen »symbolischen Suizid«. In diesen anstößigen Inszenierungen werde die dunkle Seite menschlicher Existenz, nämlich das allenthalben verbreitete Leben auf Kosten anderer, offengelegt und zu­gleich in lebensförderndes Handeln im Sinne eines Lebens für an­dere im Respekt vor der Gottebenbildlichkeit transformiert.
Das Buch enthält 18 Beiträge, die meist auf frühere Aufsätze und Vorträge zurückgehen. Für die vorliegende Publikation wurden sie stark überarbeitet oder ganz neu geschrieben. Die Eigenständigkeit der Beiträge wurde aber beibehalten. Dies hat zur Folge, dass zentrale Einsichten stets von Neuem begründet werden. Das Buch weist insofern nicht den stringenten Aufbau einer Monographie auf. Die Verteilung der Beiträge auf fünf Kapitel folgt aber einer gewissen Systematik. Den Kapiteln stehen jeweils neu verfasste Einführungen voran. Die beeindruckende Fülle an Thesen, Konzepten, Beobachtungen, Einsichten und Anregungen, die das Buch bietet, kann hier nur in grober Verkürzung angedeutet werden.
Die drei Beiträge im ersten Kapitel (»Ritualkulturen. Koexistenz und Konflikt«, 33–105) sind im Kern gegenwartsorientiert. Anhand eines Vergleichs akademischer und religiöser Rituale legt T. u. a. die politischen, kommunitären, normativen, semantischen und syntaktischen Funktionen von Ritualen dar, um darauf zu pochen, dass die Taufe und das Abendmahl nicht den Status von »Stammesritualen« besäßen, sondern zentrale Werte menschlicher Kultur, nämlich Freiheit und Nächstenliebe, verkörperten. Vor dem Hintergrund protestantischer Ritualkritik steckt er dann die Konturen einer »ehrlichen« protestantischen Ritualkultur ab, in der Rituale keinen Zwang ausüben, in der sie die Realität nicht vernebeln und in der man sich ohne Selbstbetrug den rituellen Effekten stellt. Als reformierter Theologe spürt er schließlich mit ethnologischem Blick der »tiefen Weisheit« der katholischen Messe nach und er­kennt diese darin, dass die Veränderungspräsenz Gottes symbolisch nirgends deutlicher als in der Wandlung von Brot und Wein zum Ausdruck komme. Im zweiten Kapitel (»Ritualtheorie und Ritualtheologie. Der Blick von außen und von innen«, 107–216) folgen die ritualtheoretischen Schlüsselaufsätze. Darin legt T. zu­nächst seine an den Begriffen Mythos, Ritus, Ethos, Erfahrung und Gemeinschaft festgemachte Religionstheorie dar, entfaltet vor diesem Hintergrund anhand der Stichworte Verewigung, Verkörperung, Veränderung und Versöhnung die Funktionen religiöser Rituale und stellt heraus, dass Taufe und Abendmahl Widersprüche innerhalb der christlichen Religion zwischen Egalität und Hierarchie, Moral und Antimoral, Gottesdistanz und Gottesnähe offenbaren würden. Im Kontrast zu Einsichten der Philosophie des embodiment, wonach körperliche Erfahrungen per se sinngenerierend sind, beharrt T. funktionalistisch auf der Rolle des rituellen Körpers als eines bloßen Trägers vorgegebener Botschaften. Unter Rekurs auf die Abendmahlsstreitigkeiten entwickelt er sodann sein Konzept der »sakramentalen Veränderungspräsenz« und zeigt auf, dass dieses mit der kirchlichen Tradition, der Christologie, ur­christlichen Überzeugungen und dem christlichen Gottesverständnis korreliere. Der ritologischen Einsicht folgend, wonach Rituale alltägliche Normen suspendieren, arbeitet T. schließlich seine Theorie des sakramentalen Tabubruchs als eines »paradoxen Lebensgewinns« heraus (s. o.). Das dritte Kapitel (»Ritualdynamik und Religionswandel. Der vergessene Zauber des Anfangs«, 217–314) enthält drei historische Studien zu den Anfängen und zur Bedeutung der beiden Rituale im Urchristentum. T. legt dar, wie aus den jüdischen Waschriten und der Umkehrtaufe des Johannes im Urchristentum eine Konversionstaufe wurde. Daran macht er einen Strukturwandel der »Religion« von einer öffentlichen Versöhnungs- und Volksreligion zu einer subkulturellen Erlösungs- und Universalreligion fest. Das mit dem Tod Jesu verbundene urchristliche Abendmahl deutet T. sodann als Ablösung der Op-ferpraxis. Er betont, dass Jesu Überwindung des Todes in der Auf erstehung eine Aufhebung des Sühnedenkens immanent sei. Schließlich führt T. die urchristliche Vielfalt in der Praxis und Deutung der Sakramente angesichts der symbolischen Tabubrüche auf Strategien der Skandalvermeidung zurück. Das vierte Kapitel (»Die Transformation der Rituale im Urchristentum. Die prägende Kraft des Anfangs«, 315–380) bietet drei weitere historische Beiträge. T. stellt heraus, dass Taufe und Abendmahl auf eschatologisch ge­prägte, in Opposition zu Tempel und Kult stehende prophetische Zeichenhandlungen zurückgingen: die Johannestaufe und die M ahlpraxis Jesu. Er erläutert, wie sich die beiden Rituale nachösterlich unter dem Eindruck von Kreuz und Auferstehung zu geheimnisvollen, anikonischen Sakramenten wandelten, woraus Spannungen zum christlichen Mythos und Ethos erwachsen seien. Mit Hilfe der kognitiven Religionswissenschaft erklärt er, dass gerade die »kontraintuitiven« Elemente des Geheimnisses und des symbolischen Tabubruchs in Verbindung mit der Alltäglichkeit der rituellen Vollzüge (Waschen, Essen) zur Durchsetzung der noch heute geläufigen Form von Taufe und Abendmahl geführt hätten. Im fünften Kapitel (»Sakrament und Entscheidung. Zur Ritual-praxis der Gegenwart«, 381–453) zieht T. praktisch-theologische Konsequenzen. Er präsentiert einen katechetischen Entwurf, eine Taufmeditation und Abendmahlsliturgie, die gezielt seine hier nochmals entfalteten historischen Thesen aufnehmen. Ein ab­schließender Beitrag sichert zentrale Ergebnisse des Buches.
T. wagt mutig, was unter Exegeten unüblich ist: eine umfassende Studie zur Bedeutung von Taufe und Abendmahl, die über exegetische und historische Thesen hinaus eine eigene Ritualtheologie entwickelt, die ferner deren kontroverstheologische Implikationen und liturgische Möglichkeiten auslotet und die die Bedeutung der beiden Rituale in Geschichte und Gegenwart aus kultur- und religionswissenschaftlicher Perspektive umfassend ausleuchtet. Dieser Leistung gebührt Respekt! Dass sich auch Fragen einstellen, versteht sich von selbst: Wurde die Taufe tatsächlich als »symbolischer Suizid« begriffen? Anders als bei der Wahrnehmung des Abendmahls als »Kannibalismus« ist dies in der Antike nicht belegt. Passt die Rede von einem »Suizid« zu dem Umstand, dass die Taufe gerade kein Selbstvollzug war und zudem als »Mitsterben« (Röm 6) gedeutet wurde? Ist die Anwendung des Begriffs »Religion« auf das Urchristentum wirklich sinnvoll? Angemerkt sei auch, dass T. kein Hehl aus seiner reformierten Prägung macht. Die daraus folgende Betonung des Symbolischen und die Priorisierungen des Inneren vor dem Äußeren, des Kognitiven vor dem Körperlichen werden nicht alle überzeugen. Dies gilt ebenso für die stark funktionalistische Ausrichtung des Gesamtprojekts und die ungebrochene Anwendung evolutionsbiologischer Konzepte. Ungeachtet dieser und anderer Anfragen gilt aber: Das Buch bietet einen beeindruckenden Gesamtentwurf und ist eine anregende Fundquelle. T.s Thesen und Beobachtungen verdienen breite Aufmerksamkeit und Diskussion.