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Ausgabe:

Juni/2019

Spalte:

593–595

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Hirschberger, Veronika

Titel/Untertitel:

Ringen um Israel. Intertextuelle Perspektiven auf das 5. Buch Esra.

Verlag:

Leuven: Peeters Publishers 2018. VIII, 332 S. = Studies on Early Christian Apocrypha, 14. Kart. EUR 64,00. ISBN 978-90-429-3598-3.

Rezensent:

Stefan Krauter

Das 5. Esrabuch ist eine bislang eher wenig beachtete und auch theologisch unterschätzte Schrift. Neben den grundlegenden Ar­beiten Theodore A. Bergrens gibt es bislang nur einige Textausgaben bzw. Übersetzungen mit Kommentar und Einleitung sowie einige Aufsätze mit teilweise stark divergierenden Deutungsansätzen. Von daher ist Hirschbergers Monographie, eine leicht überarbeitete Fassung ihrer Regensburger Dissertation, sehr zu begrüßen.
Der Fokus von H.s Untersuchung des 5. Esrabuches sind dessen mögliche Bezüge auf andere Schriften und deren Bedeutung für die Einordnung und Gesamtinterpretation des Buches. Methodisch schließt sie sich dabei an Richard B. Hays’ Schema von Stufen in-tertextueller Bezüge an. Das ist einerseits zu begrüßen, denn die Konzentration auf Zitate, Anspielungen und Echos, die man aufgrund von spezifischen Übereinstimmungen in Lexemen und/ oder Motiven nachweisen oder zumindest plausibel machen kann, verhindert allzu freie Assoziationen. Andererseits entgeht die Auflistung einzelner Verse mit ähnlichen Formulierungen nicht im­mer der Gefahr eines mechanischen Vorgehens, das größere Zu­sam­menhänge aus dem Blick verliert.
Nach einer kurzen Einleitung (1–11) und forschungsgeschichtlichen sowie methodischen Hinführung (11–37) werden in jeweils einem Kapitel die Bezüge zu folgenden Prätexten untersucht: 1. Baruch (38–90), Jeremia 7 (91–124), Matthäusevangelium (125–173), Johannesoffenbarung (174–241), 4. Esra (242–266).
Hinsichtlich 1. Baruch bestätigt H. größtenteils die These von Bergren, dass 5. Esra sich in seiner Struktur und in einzelnen Motiven an diese Schrift anlehnt. Innovativ und sehr interessant ist das Kapitel zu Jeremia 7. H. gelingt es überzeugend, die große Nähe der beiden Texte aufzuzeigen. Was das Matthäusevangelium angeht, untermauert H. die Skepsis einiger neuerer Forschungsbeiträge gegenüber der lange Zeit verbreiteten These von Graham N. Stanton. Die von ihm behaupteten Parallelen lassen sich allesamt am Text nicht nachweisen. Für seine Ausführlichkeit wenig ergiebig ist das Kapitel zur Johannesoffenbarung. Zwar finden sich Ähnlichkeiten, doch sie sind meist nicht spezifisch. Sehr skeptisch ist H. gegenüber der Herangehensweise, 5. Esra im Kontext früherer Esraschriften (sie nennt nur 4. Esra, man müsste aber auch auf Esra, Nehemia und 3. Esra eingehen) zu interpretieren. Ganz zu Recht weist sie darauf hin, dass 5. Esra erst im Laufe der Rezeption zu einem Teil von 4. Esra und damit des Esracorpus geworden ist. Die Antwort auf die Frage, was die davon unabhängige, ursprüngliche Zuschreibung der Schrift an Esra eigentlich bedeuten soll, bleibt sie aber schuldig. In ihrer Sicht, die keine oder nur ganz schwache Be­züge zu anderen Esraschriften sieht, wäre das ein mehr oder weniger zufälliger Name.
Insgesamt versucht H., 5. Esra nicht oder jedenfalls weniger als christlich-supersessionistische Schrift zu lesen als in einigen früheren Forschungsbeiträgen vorgeschlagen. Sicherlich richtig daran ist ihr Einwand, dass man sich bei Texten aus dem 2. Jh. n. Chr. vor scheinbar klaren, tatsächlich aber oft anachronistischen Labels wie »jüdisch«, »christlich«, »judenchristlich« hüten muss. Weniger überzeugend sind allerdings oft ihre Argumente am Text: Die immer wieder bei H. zu findende Andeutung, Israel werde »scheinbar« verstoßen und das Konzept des anderen Volkes (bzw. der anderen Völker) bleibe »unklar« (im Sinne, dass es auch die Ausweitung des Heils für Israel durch hinzukommende andere meinen könne), bleibt unpräzise. Dass die endgültige Verwerfung Israels nicht als vollzogen, sondern noch als zukünftig dargestellt wird, muss keinesfalls bedeuten, Israels Schicksal sei noch offen. Ebenso plausibel liegt das schlicht an der Zeitperspektive des fiktiven pseudepigraphischen Autors Esra, für den der Wechsel des Gottesvolkes von Israel zu den (Christen aus den) Völkern natürlich in der Zukunft liegt. Der Schluss von der neueren Matthäusforschung auf 5. Esra ist wenig überzeugend: Die Differenzierung zwischen der religiösen Führungselite und dem Volk, die bei Matthäus (zu Recht) zum Anlass genommen wird, eine Substitutionstheologie zu verneinen, findet sich in 5. Esra gerade nicht. Dort wird durchgehend das Volk als Ganzes pauschal verurteilt.
Insgesamt bleibt am Ende ein eher unklares, offenes Ergebnis stehen. Das ist einerseits etwas schade und liegt auch daran, dass eine eigentliche Strukturanalyse und ein Nachvollzug des Gedankengangs von 5. Esra fehlt. Andererseits ist es jedoch auch erfreulich, denn die Qualität eines Forschungsbeitrages liegt ja nicht (nur) darin, eine These zu vertreten, sondern (auch) darin, allzu klare und gewohnte Ansichten zu hinterfragen und so zur Weiterarbeit anzuregen – und dies gelingt H. durch ihre sorgfältige, kleinteilig vergleichende Textarbeit auf jeden Fall.
Ein ausführliches, speziell zu 5. Esra vermutlich vollständiges Literaturverzeichnis und zwei ausgezeichnete, präzise und durch Anmerkungen begründete und erläuterte Übersetzungen der sogenannten spanischen und der sogenannten französischen Re­zension von 5. Esra schließen das Buch ab.