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Ausgabe:

Juni/2019

Spalte:

591–593

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Davis Jr., Phillip A.

Titel/Untertitel:

The Place of Paideia in Hebrews’ Moral Thought.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2018. XII, 291 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 2. Reihe, 475. Kart. EUR 89,00. ISBN 978-3-16-156003-3.

Rezensent:

Wilfried Eisele

Acht von zweiundzwanzig neutestamentlichen Belegen aus dem Wortfeld der Erziehung (παιδευ-Stamm, παιδαγωγός) finden sich im Hebräerbrief. Dieser Befund legt nahe, nach der Relevanz der παιδεία für das Denken des auctor ad Hebraeos zu fragen. Berücksichtigt man jedoch, dass alle acht Belege in dem kurzen Abschnitt Hebr 12,5–11 begegnen, erhebt sich sofort die Frage, ob der Erziehungsgedanke nur in diesem engen Kontext von Bedeutung ist oder den Hebräerbrief auch sonst prägt. Eine andere Frage ist, welche Formen die Erziehung dabei annimmt und welchen Zwecken sie dient. Den Ausgangspunkt bildet in Hebr 12,5 f. ein Zitat aus Spr 3,11 f. LXX, das im Unterschied zum masoretischen Text eindeutig, wenn auch vielleicht nicht ausschließlich, von körperlicher Züchtigung spricht: Demnach äußert sich Gottes »Erziehung« (παι-δεία) dem Menschen gegenüber im »Zurechtweisen« (ἐλέγχειν) und »Geißeln« (μαστιγοῦν), wobei Letzteres meist als Strafe verstanden wurde.
Dagegen geht Phillip A. Davis Jr. in seiner von Hermut Löhr be­treuten Münsteraner Dissertation von der veränderten Situation aus, dass »the majority of recent publications rightly agree that divine, fatherly discipline functions not as punishment for sin and wrongdoing, as the quotation of Prov 3:11–12 might initially suggest, but rather as educative, ›non-punitive‹ training in virtue.« (2) Er beruft sich vor allem auf N. C. Croy (Endurance in Suffering [SNTSMS 98], Cambridge 1998), der sowohl in griechisch-römischen als auch in jüdischen Traditionen zwei verschiedene Zwecke der göttlichen Erziehung durch Leiden ausgemacht hat: einerseits die Bestrafung von Fehlverhalten, andererseits die Festigung der Tu­gend. Letzteres begegnet Croy zufolge jedoch nur in solchen jüdischen Texten, die deutlich pagane Einflüsse aufweisen. Wenn nun Hebr 12,5 f. dementsprechend nicht mehr als Ausdruck von Strafe verstanden wird, wie verhält sich dazu dann aber die Sünde, die der Autor im unmittelbaren Kontext als Gegnerin der Adressaten ausmacht, der sie bis aufs Blut Widerstand leisten müssen? Anders gefragt: Wo bleibt die Moral, wenn keinerlei Strafe zu befürchten ist? Knut Backhaus scheint darauf eine klare Antwort gegeben zu haben: »Es kreißt der theologische Berg, und er gebiert eine moralische Maus!« (Der sprechende Gott [WUNT I/240], Tü­bingen 2009, 215) Dagegen will D. zeigen, »that the moral thought of Hebrews is far from mouse-like, but rather that a moral concern underlies the entirety of the work« (3). Was er verschweigt, ist, dass auch Backhaus die zitierte Eingangsbeobachtung seines Beitrags am Ende revidiert hat: »Es kreißt der theologische Berg, und er gebiert einen ethischen Sinnkosmos.« (Ebd. 237) So weit ist das unter Umständen von D.s Ergebnissen gar nicht entfernt. Vor dem skizzierten Hintergrund verfolgt er nach der Einleitung (Kap. 1) einen zweifachen Ansatz, den er nacheinander entfaltet.
Zuerst geht D. den gesamten Hebräerbrief unter der Fragestellung durch, welche ethisch-moralischen Implikationen die einzelnen Ausführungen jeweils haben, und zwar unabhängig davon, ob es sich um paränetisch oder dogmatisch ausgerichtete Abschnitte handelt (Kap. 2). Dabei lässt er sich von einschlägigen Grundbegriffen wie Heiligkeit und Sünde, Treue und Abfall, Gehorsam und Ungehorsam und anderen mehr ebenso leiten wie von Sprachformen, die ein bestimmtes Verhalten fordern oder nahelegen, z. B. Imperativen oder Hortativen. Im Laufe dieses Durchgangs gewinnt sein Verständnis bestimmter wichtiger Sachverhalte Konturen. So bestimmt er etwa πίστις im Hebräerbrief nicht in erster Linie als Glauben (»belief«) oder Vertrauen (»trust«), sondern als Treue (»faithfulness«) des Menschen Gott gegenüber. Entsprechend deutet er Sünde als Ungehorsam (»disobedience«) und Untreue (»un­faithfulness«) im Verhältnis des Menschen zu Gott. Sie bestehe nicht einfach im Abfall von Glaube und Gemeinde, aber ihrem gottwidrigen und gemeinschaftsschädigenden Wesen nach führe sie unweigerlich dahin. Sünde sei längst nicht überall der Grund, wo menschliches Leiden als Teil der göttlichen Erziehung verstanden werde: »The example of Jesus’ learning through suffering is therefore instructive. Jesus was sinless, yet had to learn. So too the audience must learn while also maintaining their pure status accomplished for them by Jesus.« (141) Umgekehrt sieht D. in den Auslegungen, welche die Sünde im Hebräerbrief schlechterdings mit dem Glaubensabfall gleichsetzen und menschliches Leiden als Strafe dafür verstehen, ein meist verkanntes Problem: Welche Besserung soll eine solche Strafe überhaupt noch bringen, wenn eine zweite Buße – d. h. eine abermalige Umkehr zum christlichen Le-ben und Glauben – für die einmal Erleuchteten, dann aber wieder Abgefallenen nach Hebr 6,4–6 grundsätzlich ausgeschlossen ist? Gottes Zucht müsse demnach im Hebräerbrief einen anderen Zweck verfolgen, der sich beim Blick in die Umwelt erschließt: Nach verbreiteter Vorstellung in der Antike sollte körperliche Züchtigung in der Erziehung nicht nur Fehlverhalten korrigieren, sondern die angeborene Widersetzlichkeit und damit auch Dummheit austreiben (Kap. 3).
Im zweiten Schritt interpretiert D. Spr 3,11 f. LXX und – viel kürzer – Spr 4,26 zunächst im ursprünglichen Kontext von Spr 3,1–12 LXX und Spr 4,20–27 (Kap. 4). Als ein wichtiges Ergebnis hält er fest, dass der Hebräerbrief sich in seiner Argumentation nicht nur auf die wörtlich angeführten Zitate, sondern auch auf deren Kontext stütze, was an der Verwendung gemeinsamer Schlüsselbegriffe wie »Leben«, »Frieden«, »Frucht der Gerechtigkeit« und »Heilung« ab­zulesen sei, auch wenn diese je unterschiedlich konnotiert sein könnten (152). Zudem falle auf, dass in den Sprichwörtern wie im Hebräerbrief keinerlei sündhaftes Fehlverhalten angeklagt werde, das als Ursache der göttlichen Erziehung durch Leiden namhaft gemacht werden könnte. Die folgende Interpretation der Zitate aus dem Sprichwörterbuch im Zusammenhang mit Hebr 12,1–17 be­stätigt aus D.s Sicht die bis dahin erzielten Ergebnisse (Kap. 5). Einige knappe Schlussfolgerungen runden das Buch ab (Kap. 6).
D.s Arbeit kommt das Verdienst zu, die ethisch-moralischen Implikationen im theologischen Denken des Hebräerbriefes kräftig herausgestellt zu haben. Dabei ist die Studie klug angelegt, in­dem sie mit Hebr 12,1–17 von einer Stelle ausgeht, die mit dem profilierten Gedanken der göttlichen παιδεία eine ganze Reihe wei­terer einschlägiger Begriffe und Konzepte verbindet, von denen der Hebräerbrief auch sonst durchzogen ist. An diesem Knotenpunkt laufen wichtige Fäden des λόγος παρακλήσεως (Hebr 13,22) zu­sammen, der nach D.s Beitrag mit noch viel größerem Recht als Wort der Ermutigung und zugleich der Ermahnung gelesen werden kann und muss. Dass ein Durchgang durch den gesamten Hebräerbrief, wie ihn das lange Kapitel 2 bietet (28–118), kursorisch bleiben muss, liegt in der Natur der Sache. In Summe entsteht dennoch der begründete Eindruck, dass das häufig unterbewertete »moralische Denken« des Hebräerbriefes deutlich mehr Aufmerksamkeit verdient, als es bisher bekommen hat. Wie sich Sünde und Abfall, göttliche Zucht und zweite Buße in D.s Auslegung nun wirklich zueinander verhalten, ist dem Rezensenten indes bis zum Schluss nicht ganz klar geworden. Aber das ist ja bekanntlich ein sehr harter Knoten.